Berlin – „Wir Ärzte verkaufen nicht unsere Werte, nur weil uns eine Pharmafirma mal einlädt!“ Diese Haltung, geäußert vom australischen Arzt Dr. Khan auf der Webseite des Medical Observer (am 4. Juli 2017), bringt das Dilemma auf den Punkt. „Viele Ärzte sind überzeugt, dass sie persönlich durch Firmengeschenke nicht beeinflussbar sind“, sagte Dr. Peter Mansfield, Hausarzt und Visiting Research Fellow an der University of Adelaide und Vertreter von Healthy Skepticism Australien, in Berlin, „aber das ist naiv. Weil wir Menschen sind, sind wir beeinflussbar.“
In Berlin trafen sich aktuell „No-Free-Lunch“-Gruppen aus allen Kontinenten und diskutierten, wie man Kollegen besser für Interessenkonflikte sensibilisieren kann. Zu der Tagung unter dem Titel „Wie Interessenkonflikte der Gesundheit auf der ganzen Welt schaden“ hatte die deutsche Organisation MEZIS („Mein Essen zahl ich selbst“) eingeladen, die zugleich ihr 10-jähriges Bestehen feierte [1].
Hochgebildete Personen entscheiden oft zu schnell
Dabei zeigten sich viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den Ländern. Mansfield plädierte dafür, sich nicht nur auf Interessenkonflikte zu konzentrieren, sondern den ganzen Prozess der wissenschaftlichen Entscheidungsfindung zu beleuchten: „Wir müssen mehr darüber aufklären, dass man sich als Arzt irren kann und welche Bedingungen dazu beitragen.“
Versuche hätten etwa gezeigt, dass gerade hochgebildete Personen dazu neigen, zu schnell ein Urteil zu fällen, weil sie sich zu sicher sind. „Solche Schnellschüsse sind besonders anfällig für Beeinflussungen.“ Diesen Personen ist das aber nicht bewusst. Deshalb helfe es wenig, bei unzulässig beeinflussten Entscheidungen nur Vorwürfe zu machen: „Wir brauchen Bedingungen, die korrektes Verhalten erleichtern und nicht korrektes Verhalten erschweren“, so Mansfield.
Einen konkreten Ansatz dazu lieferte die „Troupe du Rire“ (Lach-Gruppe), ein Zusammenschluss französischer Medizinstudenten. Sie hat einen Ratgeber im Kitteltaschenformat entwickelt. Darin wird mit vielen Beispielen, Bildern und Cartoons erklärt, wie eine unkritische Akzeptanz und Anwendung neuer Medikamente Patienten in der Vergangenheit geschadet hat, wie Pharmavertreter psychologisch vorgehen und wie man auf deren Besuch etwa in der Klinik richtig reagiert – mit kritischen Gegenfragen. Französische Universitäten verteilen den Ratgeber inzwischen regelmäßig an ihre Studienanfänger.
6 Leitlinien durch Gerichte in Frankreich gestoppt
Ebenfalls in Frankreich hat die Organisation Formindep (FORMation médicale continue INDEPendante, Dauerhaft unabhängige medizinische Ausbildung), erfolgreich gegen 6 Leitlinien vor Gericht geklagt. Bei deren Erstellung wurden Interessenkonflikte zu wenig berücksichtigt. Ergebnis: Die Leitlinien mussten zurückgezogen werden.
Die Formindep-Vorsitzende Anne Chailleu war eine der wenigen Patientenvertreter in Berlin. Die Ingenieurin ist an Morbus Bechterew erkrankt und berichtete, wie ihr Arzt sie zur Einnahme eines neuen Medikamentes drängte, obwohl sie dafür keine Indikation hatte und erhebliche Nebenwirkungen drohten: „Später habe ich dann erfahren, dass er für diese Anwendungsbeobachtung von der Herstellerfirma viel Geld bekam.“

Dr. Christiane Fischer
Unnötig hohe Kosten für das Gesundheitssystem
Der unnötige Wechsel auf ein neues, unsicheres Medikament und eine Übermedikation seien die häufigsten Folgen für den Patienten, wenn sich sein Arzt von Pharmafirmen beeinflussen lässt – darin waren sich Vertreter aus allen Ländern einig. Für das Gesundheitssystem insgesamt führten Interessenkonflikte zu unnötig hohen Kosten. Aber auch die Patienten selbst tragen zu dem Problem bei, indem sie häufig lieber ein Medikament möchten, anstatt ihren Lebensstil zu ändern, berichtete Dr. Christiane Fischer, Public Health-Ärztin und Ärztliche Geschäftsführerin von MEZIS.
Einigkeit bestand darüber, dass das Offenlegen von Interessenkonflikten ein erster Schritt ist, der aber langfristig nicht ausreicht. „Wir brauchen eine medizinische Forschung, die komplett unabhängig von Pharmafirmen ist“, sagte Fischer. Wie dies – abgesehen von den erforderlichen öffentlichen Finanzmitteln – konkret gestaltet werden könnte, blieb auf der Tagung aber unklar.
Auch die Lebensmittelindustrie entdeckt Ärzte als Zielgruppe
Zudem drängen mittlerweile auch andere Branchen in den medizinischen Bereich. Dr. Adriano Cattaneo berichtete, wie Lebensmittelkonzerne in seinem Land verstärkt Kinderärzte kontaktierten. Cattaneo ist Epidemiologe am Department of Medical Genetics am IRCCS Ospedale Infantile Burlo Garofolo in Triest und Vertreter von „No Grazie“ Italien.
Beispielsweise sei eine Studie finanziert worden, die einen angeblichen Mangel an Eisen bei Kleinkindern feststellte. Kurz darauf kam in Italien eine mit Eisen angereicherte Milch auf den Markt. „Es sind vor allem ärmere Familien, die auf so etwas hereinfallen, gebildete Eltern durchschauen es eher“, sagte Cattaneo.
Das Beispiel verdeutliche, wie die Folgen beeinflusster Wissenschaft nicht nur Patienten betreffen, sondern potenziell jeden Bürger. Es sei aber vor allem Aufgabe der Experten, dem entgegenzutreten, betonte Challieu: „Solange es keine ausreichenden Gesetze gibt, ist der Arzt der letzte Schutz des Patienten vor einem unnötigen, riskanten Medikament.“
Deutlich wurde in Berlin auch die Unterfinanzierung praktisch aller No-Free-Lunch-Gruppen. Keine kann professionelles Personal beschäftigen, viele Teilnehmer zahlten die Reise nach Berlin privat. Gefördert wurde die Tagung vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und „Brot für die Welt“. Immerhin, ein kleines Buffet gab es, zubereitet von einer Flüchtlingsinitiative.
Ob das Khan gereicht hätte? „Ärzte erhalten von Pharmafirmen eine ihrem Status entsprechende Bewirtung“, schreibt er in seinem Kommentar auf www.medicalobserver.com.au , „man lädt ja auch einen Politiker nicht in einen Imbiss ein. Und wir Ärzte haben, im Gegensatz zu den meisten Politikern, ethische Werte.“
REFERENZEN:
1. MEZIS-Fachtagung „Wie Interessenkonflikte der Gesundheit auf der ganzen Welt schaden“, 15. bis 17. September 2017, Berlin
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Der Arzt als „Schutzwall“ gegen unnötige, riskante Therapien: „No-Free-Lunch“-Gruppen diskutieren Interessenkonflikte - Medscape - 20. Sep 2017.
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