Der Arzt als „Schutzwall“ gegen unnötige, riskante Therapien: „No-Free-Lunch“-Gruppen diskutieren Interessenkonflikte

Heike Dierbach

Interessenkonflikte

20. September 2017

Berlin – „Wir Ärzte verkaufen nicht unsere Werte, nur  weil uns eine Pharmafirma mal einlädt!“ Diese Haltung, geäußert vom  australischen Arzt Dr. Khan auf der Webseite des Medical  Observer (am 4. Juli 2017), bringt das Dilemma auf den Punkt. „Viele Ärzte sind überzeugt, dass  sie persönlich durch Firmengeschenke nicht beeinflussbar sind“, sagte Dr. Peter Mansfield, Hausarzt und Visiting Research Fellow an der University of  Adelaide und Vertreter von Healthy Skepticism Australien, in Berlin, „aber das  ist naiv. Weil wir Menschen sind, sind wir beeinflussbar.“

In  Berlin trafen sich aktuell „No-Free-Lunch“-Gruppen aus allen Kontinenten und  diskutierten, wie man Kollegen besser für Interessenkonflikte sensibilisieren  kann. Zu der Tagung unter dem Titel „Wie Interessenkonflikte der Gesundheit auf  der ganzen Welt schaden“ hatte die deutsche Organisation MEZIS („Mein Essen  zahl ich selbst“) eingeladen, die zugleich ihr 10-jähriges Bestehen feierte [1].

Hochgebildete Personen  entscheiden oft zu schnell

Dabei  zeigten sich viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den  Ländern. Mansfield plädierte dafür, sich nicht nur auf Interessenkonflikte zu  konzentrieren, sondern den ganzen Prozess der wissenschaftlichen  Entscheidungsfindung zu beleuchten: „Wir müssen mehr darüber aufklären, dass  man sich als Arzt irren kann und welche Bedingungen dazu beitragen.“

Versuche  hätten etwa gezeigt, dass gerade hochgebildete Personen dazu neigen, zu schnell  ein Urteil zu fällen, weil sie sich zu sicher sind. „Solche Schnellschüsse sind  besonders anfällig für Beeinflussungen.“ Diesen Personen ist das aber nicht  bewusst. Deshalb helfe es wenig, bei unzulässig beeinflussten Entscheidungen  nur Vorwürfe zu machen: „Wir  brauchen Bedingungen, die korrektes Verhalten erleichtern und nicht korrektes Verhalten  erschweren“, so Mansfield.

 
Viele Ärzte sind überzeugt, dass sie persönlich durch Firmengeschenke nicht beeinflussbar sind. Dr. Peter Mansfield
 

Einen konkreten  Ansatz dazu lieferte die „Troupe du Rire“ (Lach-Gruppe), ein Zusammenschluss  französischer Medizinstudenten. Sie hat einen Ratgeber  im Kitteltaschenformat entwickelt. Darin wird mit vielen Beispielen,  Bildern und Cartoons erklärt, wie eine unkritische Akzeptanz und Anwendung  neuer Medikamente Patienten in der Vergangenheit geschadet hat, wie  Pharmavertreter psychologisch vorgehen und wie man auf deren Besuch etwa in der  Klinik richtig reagiert – mit kritischen Gegenfragen. Französische  Universitäten verteilen den Ratgeber inzwischen regelmäßig an ihre  Studienanfänger.

6 Leitlinien durch Gerichte in  Frankreich gestoppt

Ebenfalls  in Frankreich hat die Organisation Formindep (FORMation médicale continue  INDEPendante, Dauerhaft unabhängige medizinische Ausbildung), erfolgreich gegen  6 Leitlinien vor Gericht geklagt. Bei deren Erstellung wurden  Interessenkonflikte zu wenig berücksichtigt. Ergebnis: Die Leitlinien mussten  zurückgezogen werden.

 
Wir brauchen Bedingungen, die korrektes Verhalten erleichtern und nicht korrektes Verhalten erschweren. Dr. Peter Mansfield
 

Die Formindep-Vorsitzende Anne Chailleu war eine der wenigen Patientenvertreter in Berlin. Die  Ingenieurin ist an Morbus Bechterew erkrankt und berichtete, wie ihr Arzt sie  zur Einnahme eines neuen Medikamentes drängte, obwohl sie dafür keine  Indikation hatte und erhebliche Nebenwirkungen drohten: „Später habe ich dann  erfahren, dass er für diese Anwendungsbeobachtung von der Herstellerfirma viel  Geld bekam.“

           

Dr. Christiane Fischer

           

Unnötig hohe Kosten für das  Gesundheitssystem

Der  unnötige Wechsel auf ein neues, unsicheres Medikament und eine Übermedikation  seien die häufigsten Folgen für den Patienten, wenn sich sein Arzt von Pharmafirmen  beeinflussen lässt – darin waren sich Vertreter aus allen Ländern einig. Für  das Gesundheitssystem insgesamt führten Interessenkonflikte zu unnötig hohen  Kosten. Aber auch die Patienten selbst tragen zu dem Problem bei, indem sie  häufig lieber ein Medikament möchten, anstatt ihren Lebensstil zu ändern,  berichtete Dr. Christiane Fischer, Public Health-Ärztin und Ärztliche  Geschäftsführerin von MEZIS.

Einigkeit  bestand darüber, dass das Offenlegen von Interessenkonflikten ein erster  Schritt ist, der aber langfristig nicht ausreicht. „Wir brauchen eine medizinische Forschung, die  komplett unabhängig von Pharmafirmen ist“, sagte Fischer. Wie dies –  abgesehen von den erforderlichen öffentlichen Finanzmitteln – konkret gestaltet  werden könnte, blieb auf der Tagung aber unklar.

 
Wir brauchen eine medizinische Forschung, die komplett unabhängig von Pharmafirmen ist. Dr. Christiane Fischer
 

Auch die Lebensmittelindustrie  entdeckt Ärzte als Zielgruppe

Zudem  drängen mittlerweile auch andere Branchen in den medizinischen Bereich. Dr. Adriano Cattaneo berichtete, wie Lebensmittelkonzerne in seinem Land  verstärkt Kinderärzte kontaktierten. Cattaneo ist Epidemiologe am Department of  Medical Genetics am IRCCS Ospedale Infantile Burlo Garofolo in Triest und  Vertreter von „No Grazie“ Italien.

Beispielsweise  sei eine Studie finanziert worden, die einen angeblichen Mangel an Eisen bei  Kleinkindern feststellte. Kurz darauf kam in Italien eine mit Eisen  angereicherte Milch auf den Markt. „Es sind vor allem ärmere Familien, die auf  so etwas hereinfallen, gebildete Eltern durchschauen es eher“, sagte Cattaneo.

Das  Beispiel verdeutliche, wie die Folgen beeinflusster Wissenschaft nicht nur  Patienten betreffen, sondern potenziell jeden Bürger. Es sei aber vor allem  Aufgabe der Experten, dem entgegenzutreten, betonte Challieu: „Solange es keine ausreichenden  Gesetze gibt, ist der Arzt der letzte Schutz des Patienten vor einem unnötigen,  riskanten Medikament.“

 
Solange es keine ausreichenden Gesetze gibt, ist der Arzt der letzte Schutz des Patienten vor einem unnötigen, riskanten Medikament. Anne Chailleu
 

Deutlich  wurde in Berlin auch die Unterfinanzierung praktisch aller  No-Free-Lunch-Gruppen. Keine kann professionelles Personal beschäftigen, viele  Teilnehmer zahlten die Reise nach Berlin privat. Gefördert wurde die Tagung vom  Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und „Brot  für die Welt“. Immerhin, ein kleines Buffet gab es, zubereitet von einer  Flüchtlingsinitiative.

Ob das  Khan gereicht hätte? „Ärzte erhalten von Pharmafirmen eine ihrem Status  entsprechende Bewirtung“, schreibt er in seinem Kommentar auf www.medicalobserver.com.au ,  „man lädt ja auch einen Politiker nicht in einen Imbiss ein. Und wir Ärzte  haben, im Gegensatz zu den meisten Politikern, ethische Werte.“



REFERENZEN:

1. MEZIS-Fachtagung  „Wie Interessenkonflikte der Gesundheit auf der ganzen Welt schaden“, 15. bis 17. September 2017, Berlin

Kommentar

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