Neue ESC-Leitlinie zum ST-Hebungsinfarkt: Erstmals auch mit Empfehlungen für MINOCA – den Herzinfarkt ohne Koronarstenose

Manuela Arand

Interessenkonflikte

5. September 2017

Barcelona – Die European Society of Cardiology (ESC) hat ihre Leitlinie zum ST-Hebungsinfarkt (STEMI) aktualisiert [1]. Die beiden Chairmen der Leitlinien-Taskforce, Prof. Dr. Stefan James, Universität Uppsala, und Prof. Dr. Borja Ibáñez, Universität Madrid, stellten die Neuerungen beim Jahreskongress der ESC persönlich vor [2].

Die neue Version der Leitlinie enthält fast 160 Empfehlungen. Davon kann sich etwa die Hälfte auf eine akzeptable Evidenz stützen, der Rest basiert auf Experten-Konsens und Studien geringerer Qualität – „da besteht noch reichlich Forschungsbedarf“, kommentierte James.

2 zentrale neue Aspekte betreffen die Einführung von Qualitätsindikatoren und von MINOCA (Myocardial Infarction with Non-Obstructive Coronary Arteries), dem Myokardinfarkt bei nicht obstruierten Koronararterien, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet wurde.

MINOCA ist nicht mehr als eine Arbeitsdiagnose

Schätzungen besagen, dass zwischen 1 und 14% der Patienten mit ST-Hebung im EKG und typischer Infarktsymptomatik keine Koronarstenose haben, die das Geschehen erklären würde. Das wird inzwischen als MINOCA bezeichnet.

Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um eine definitive, sondern um eine Arbeitsdiagnose, die nur gestellt werden sollte, wenn andere Ursachen ausgeschlossen wurden, und die eine weitere Abklärung der zugrunde liegenden Pathologie erfordert.

Als diagnostische Maßnahmen werden Herzecho und linksventrikuläre Angiografie empfohlen. Außerdem sollte möglichst binnen 2 Wochen ein Kardio-MRT erfolgen, um Wandbewegungsstörungen, Gewebeschäden und Ödeme zu identifizieren.

Konkrete Empfehlungen für eine Therapie gibt es naturgemäß nicht, da die Ursachen erheblich variieren können und von Koronardissektion bis Myokarditis reichen. Dennoch: Obwohl MINOCA auf den 1. Blick als kleine Schwester des „echten“ Infarkts imponiert, ist die Prognose mit einer 1-jahres-Mortalität von 3,5% ernst.

Definierte Indikatoren sollen Versorgungsqualität sichern

Außerdem wurden in der aktualisierten Leitlinie diverse Behandlungs-Strategien aufgrund hinzugekommener Evidenz teils auf-, teils abgewertet, erläuterte James. Im Einzelnen:

  • Dem radialen Zugang soll der Vorzug gegeben werden, weil das Blutungsrisiko wesentlich geringer ist als bei Zugang über die Femoralarterie (Empfehlungsstärke I, Evidenzgrad A, basierend auf den Ergebnissen der MATRIX-Studie).

  • Ebenfalls eine I-A-Empfehlung gibt es für Drug-Eluting Stents (DES) vor Bare-Metal Stents (BMS). Hier gibt es eine ganze Reihe von Studien, die die Überlegenheit der DES hinsichtlich des Restenose-Risikos gezeigt haben.

  • In der letzten Leitlinienversion wurde der kompletten Revaskularisierung noch eine Absage erteilt – und empfohlen sich auf das Infarktgefäß zu fokussieren? Inzwischen liegen aber mehrere Studien vor, die belegen, dass das Ereignisrisiko praktisch halbiert wird, wenn die Eröffnung aller Gefäße mit relevanter Obstruktion bei der primären perkutanen Intervention gelingt (Stärke IIa).

  • Nicht mehr empfohlen wird die Thrombus-Aspiration während der perkutanen Intervention (Stärke III). In 2 Studien, TOTAL und TASTE, zeigte sich kein Benefit dieser Maßnahme.

  • Neu bewertet wurden die beiden niedermolekularen Heparine Bivalirudin und Enoxaparin, die künftig beide eine Level-IIa-Empfehlung haben. Für Bivalirudin bedeutet das eine gewisse Abwertung aufgrund von 2 Studien mit diskrepanten Ergebnissen. Die Aufwertung für Enoxaparin stützt sich unter anderem auf eine Metaanalyse, die kurz nach der letzten Leitlinienversion veröffentlicht wurde.

  • Sauerstoff sollen künftig nur Patienten mit relevanter Entsättigung erhalten (pO2 unter 90%). In der alten Leitlinie lag die Grenze bei 95%. Bereits in der AVOID-Studie hatte sich die O2-Therapie bei STEMI-Patienten auf das Infarktareal ungünstig ausgewirkt. Jetzt beim ESC-Kongress hatte die DETO2X-Studie bestätigt, dass eine unkritische O2-Gabe bei Infarktverdacht nicht angebracht ist.

Lipidsenkung behält hohe Priorität

Neu hinzugefügt wurde die IIa-Empfehlung zur Intensivierung der lipidsenkenden Therapie mit Ezetimib oder einem PCSK9-Inhibitor, wenn ein Postinfarkt-Patient unter maximal tolerierter Statin-Dosis den LDL-Zielwert „unter 70 mg/dl“ verfehlt. Grundlage sind die Studien IMPROVE-IT und FOURIER, die gezeigt hatten, dass auch die intensivere LDL-Senkung mit einem Nicht-Statin das kardiovaskuläre Risiko zu senken vermag.

 
Statine und Plättchenhemmer für alle Patienten, ACE-Hemmer und Betablocker für die meisten. Prof. Dr. Borja Ibáñez
 

Ansonsten heißt es: „Statine und Plättchenhemmer für alle Patienten, ACE-Hemmer und Betablocker für die meisten“, betonte Ibáñez. Dabei gilt künftig eine IIb-Empfehlung für Cangrelor, das bei P2Y12-Inhibitor-naiven Patienten den Vorzug vor Clopidogrel erhalten soll, und für Ticagrelor, dessen Gabe bei Hochrisikopatienten auf bis zu 36 Monate ausgedehnt werden kann.

Für die Betablocker rät die Leitlinie zu differenziertem Vorgehen: Die intravenöse Gabe sollte erwogen werden bei Patienten, bei denen eine primäre Koronarintervention vorgesehen ist. Sie soll jedoch unbedingt vermieden werden, wenn der Patient hypoton oder ausgeprägt bradykard ist, eine akute Herzinsuffizienz oder einen AV-Block aufweist.

Für die orale Betablocker-Gabe gilt dagegen unverändert, dass sie bei Herzinsuffizienz und/oder linksventrikulärer Ejektionsfraktion unter 40% indiziert ist, stellte Ibáñez klar. Außerdem sollten diese Patienten einen ACE-Hemmer oder AT1-Antagonisten erhalten sowie gegebenenfalls einen Mineralokortikoid-Antagonisten.

Akute Herzinsuffizienz: Evidenz mager bis nicht vorhanden

„Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock sind Level-of-evidence-C-Zonen“, konstatierte Ibáñez. Sprich: Es gibt so gut wie keine validen Studien dazu, das meiste entstammt reiner Expertenmeinung.

Einige wenige Strategien haben Stärke-I-Empfehlungen erhalten, so die Gabe von Diuretika, Nitraten sowie Sauerstoff bei Entsättigung für die akute Herzinsuffizienz oder Notfall-PCI und invasives Blutdruck-Monitoring bei kardiogenem Schock.

„Die meisten Maßnahmen wurden aber abgewertet“, so Ibáñez. Opiate zur Linderung von Atemnot und Angst etwa, zuvor mit I-C geadelt, erhalten nun eine IIb-B-Einstufung. Die intra-aortale Ballonpumpe zur Kreislaufunterstützung, in der letzten Leitlinie noch mit IIb-B empfohlen, soll nun in der Routine gar nicht mehr zum Einsatz kommen.



REFERENZEN:

1. European Society of Cardiology: Leitlinie zum ST-Hebungsinfarkt (STEMI) 2017

2. Jahrestagung der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 30. August 2017, Barcelona/Spanien

Kommentar

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