Das Klinikum Oldenburg und das Krankenhaus Delemenhorst (heute Josef-Hospital) sind nach Ansicht der Oldenburger Polizei mitverantwortlich dafür, dass der ehemalige Krankenpfleger Niels H. in den Jahren 1999 bis 2005 in den beiden Kliniken mindestens 84 Patienten getötet hat. Das gab die Sonderkommission „Kardio“ der Oldenburger Polizei und Staatsanwaltschaft am Montag auf ihrer Abschluss-Pressekonferenz in Oldenburg als eines der Ergebnisse ihrer fast 3-jährigen Ermittlungen bekannt.
Der ehemalige Krankenpfleger Niels H. hat auf den Intensivstationen der beiden Krankenhäuser in Oldenburg und Delmenhorst 84 weitere Patienten mit Medikamenten getötet, hieß es. Wegen 6 Taten ist er bereits 2015 verurteilt worden, unter anderem für 2 Patientenmorde. Der heute 40-Jährige sitzt lebenslang in Haft. Die Kommission sprach nun für die weiteren 84 Delikte von einem „dringenden Tatverdacht“.
Verantwortliche haben Fakten „völlig falsch bewertet“
Besonders beklagte Arne Schmidt, der Leiter der Sonderkommission, das Verhalten der zuständigen Ärzte und Pfleger im Delmenhorster Krankenhaus. Viel früher hätte der Verdacht auf Niels H. fallen müssen, sagte Schmidt. Der offenbar letzte Mord durch den ehemaligen Pfleger geschah am 24. Juni 2005 in Delmenhorst gegen 19 Uhr. Dabei war H. 2 Tage zuvor bei einem anderen Patienten bereits „auf frischer Tat ertappt“ aber nicht gestoppt worden, wie es hieß.
Obwohl die Verantwortlichen feststellten, dass die betroffenen Patienten Ajmalin im Blut hatten, das ihnen kein Arzt verabreicht hatte, handelten sie nicht und ließen Niels H. bis zum Beginn seines Urlaubs weiter Spätdienst auf der Intensivstation tun. In dieser Zeit tötete er offenbar am 24. Juni eine Patientin, sein letztes Opfer. „Diese Entscheidung der Verantwortlichen war tragisch für die betroffene Patientin, die von Niels H. gegen Ende seines Spätdienstes gegen 9 Uhr vergiftet wurde“, sagte Schmidt.
Die Abläufe des 24. Junis seien indessen „irgendwie sinnbildlich für das Versagen von Verantwortlichen, für deren völlig falsche Bewertung von vorliegenden Fakten und die tragischen Folgen, die sich daraus für die Patientinnen und Patienten ergeben haben“.
Insgesamt 200 Ermittlungsverfahren führte die Soko „Kardio“ am Delmenhorster Klinikum. In 48 Fällen geht sie nun von Tötungen aus. „Wir sind bestürzt und zutiefst betroffen über die erschreckenden aktuellen Ermittlungsergebnisse und die bekannt gewordene, deutlich höhere Opferzahl“, erklärte Ralf Delker, Geschäftsführer des Delmehorster Josef-Hospitals.
„Ich bin mir jedoch sicher, dass kein Krankenhaus sensibilisierter ist, als unser Krankenhaus und kein Krankenhaus mehr Vorkehrungen für ein Höchstmaß an Patientensicherheit getroffen hat, als das unsere. Daher bin ich davon überzeugt, dass ein Fall Niels H. in unserem heutigen Haus nie mehr stattfinden wird.“
Im Klinikum Oldenburg seien „derzeit 36 Sterbefälle mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Tathandlungen von Niels H. zurückzuführen“, teilt die Sonderkommission mit. Hier führte die Kommission 119 Verfahren.
„Wir müssen lernen“
„Warum die seinerzeit Verantwortlichen die Ermittlungsbehörden nicht eingeschaltet haben, können wir nicht nachvollziehen“, teilt das Klinikum Oldenburg mit [1]. „Wir halten deren Einschätzung aus heutiger Sicht für falsch. Ob ein schuldhaftes Verhalten der damals Verantwortlichen vorliegt, werden die weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeigen. Wir können die Zeit leider nicht zurückdrehen. Wir müssen aus den damaligen Ereignissen lernen.“
Nach Angaben des Oldenburger Oberstaatsanwaltes Dr. Martin Koziolek wird seit November 2016 gegen 6 Mitarbeiter des Klinikums Delmenhorst vor dem Landgericht Oldenburg wegen Totschlags durch Unterlassen verhandelt: gegen den Stationsleiter der Pflege in der Intensivstation und seine beiden Stellvertreter, gegen einen Pfleger und 2 Oberärzte. Das Gericht hat inzwischen 3 Anklagen zur Hauptverhandlung zugelassen und 3 abgelehnt, hieß es. „Gegen diesen Beschluss haben wir Beschwerde geführt, die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Oldenburg dazu steht noch aus“, so Koziolek zu Medscape.
Auch gegen Mitarbeiter des Krankenhauses Oldenburg werde ermittelt, so Koziolek. Noch sei aber unklar, welche Taten in Rede stünden und wer mitverantwortlich sein könnte.
134 Exhumierungen
Die Sonderkommission ist nun fast 3 Jahre lang den Verdachtsfällen nachgegangen. Sie hat insgesamt 134 ehemalige Patienten der Krankenhäuser auf 67 Friedhöfen exhumiert, 35 Ex-Patienten des Klinikums Oldenburg und 99, die im Krankenhaus Delmenhorst während der Dienstzeiten von H. gestorben sind. Sie wertete 500 Patientenakten aus und fast 300 Sachverständigengutachten. „Diese Zahlen sind bislang in Deutschland einmalig“, sagte Schmidt.
Das Dunkelfeld indessen könnte noch viel größer sein, meint er. Insgesamt seien mehr als 130 weitere Patienten an den beiden norddeutschen Krankenhäusern während der Dienstzeiten von Niels H. gestorben, deren Körper aber Feuer-bestattet wurden. Es gebe deshalb kaum eine Chance, die Todesursachen nachzuweisen, hieß es. „Ich habe keinen Zweifel, dass sich auch unter diesen Feuer-bestatteten Patienten Opfer von Niels H. verbergen“, sagte Schmidt.
Die Oldenburger Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann erklärte auf der Pressekonferenz, sie sei nach den Ermittlungsergebnissen zuversichtlich, dass sie in allen 84 ermittelten Fällen eine Mordanklage wird erheben können. „Darauf wird es es am Ende hinauslaufen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Ex-Krankenpfleger Niels H.: 84 weitere Mordopfer an Kliniken – versagte das System? - Medscape - 30. Aug 2017.
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