Die Opoid-Krise in den USA hat epidemische Ausmaße erreicht. Jeden Tag sterben 142 Amerikaner an einer Überdosis Oxycodon, Fentanyl oder Heroin. Die Zahlen nannte Chris Christie, Vorsitzender der Kommission „Kampf gegen Drogenabhängigkeit und die Opioidkrise“ (President's Commission on Combating Drug Addiction and the Opioid Crisis) vor wenigen Tagen. Christie erinnerte daran, dass 2015 so viele Opioide verschrieben wurden, dass „jeder Amerikaner für 3 Wochen damit behandelt werden kann. Das ist empörend“, stellte er klar.
Ein Zentrum der Opioid-Krise ist Huntington, West-Virginia. Jeder vierte Einwohner dort ist süchtig. Gerade mal ein Jahr ist es her, da wurden aus Huntington im Lauf von 4 Stunden 27 Fälle von Heroin-Überdosierungen gemeldet, wie Gordon Merry, Sanitäter und Direktor des Cabell-Huntington Emergency Medical Services, auf CNN berichtete.
Heroin-Überdosierungen sind für Merry, der in Huntington aufgewachsen ist, inzwischen normal. Eine Spritze mit dem Gegenmittel Naloxon trägt er auch privat inzwischen immer bei sich. Die Drogentoten in West-Virginia entstammen armen Schichten. In den USA gibt es spezielle Staatsprogramme, die die Beerdigungen finanzieren.
Doch die Finanzierungsprogramme sind an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt. Anfang März titelte die Washington Post dazu: „Rauschgift bringt so viele Menschen in West-Virgina um, dass der Staat mit den Beerdigungen kaum nachkommt.“
Opioid-Krise begann schon vor 20 Jahren
Bereits am 31. Juli hatte die Kommission Präsident Donald Trump gedrängt, den nationalen Notstand auszurufen, um die Epidemie zu bekämpfen. Nach anfänglichem Zögern reagierte er am 10. August: „Es ist ein nationaler Notfall. Wir werden eine Menge Zeit, eine Menge Anstrengungen und eine Menge Geld für die Opioid-Krise aufbringen“, wird Trump in der Washington Post zitiert.
In einem nahezu zeitgleich erschienenen Statement teilt das Weiße Haus mit, Präsident Trump habe die Verwaltung angewiesen, alle entsprechenden Befugnisse wahrzunehmen, um so auf die Opioid-Krise reagieren zu können. In den vergangenen 4,5 Jahren habe es in den USA nichts Vergleichbares wie die Opioid-Krise gegeben, so Trump.
Doch tatsächlich ist die Opioid-Krise nicht neu. Sie begann vor 20 Jahren mit der Vermarktung von opioid-haltigen Schmerzmitteln. Bis Ende der Neunzigerjahre wurden Opioide fast ausschließlich in Kliniken bei schweren Operationen benutzt. Das änderte sich, als die Firma Purdue 1996 damit begann, das Opioid Oxycodon unter dem Namen Oxycontin als Schmerzmittel auf den Markt zu bringen. Mit großem Erfolg: Laut American Journal of Public Health 2009 stiegen die Oxycontin-Verschreibungen für nicht-krebsbezogene Schmerzen von 670.000 im Jahr 1997 auf 6,2 Millionen im Jahr 2002.
Verschrieben wurde es nach Knieoperationen, nach der Entfernung der Weisheitszähne und auch bei Sportverletzungen. Offenbar wurden bei der Vermarktung des Mittels die Risiken des Medikaments heruntergespielt und der Nutzen übertrieben – jedenfalls musste Purdue im Jahr 2007 dann 600 Millionen US-Dollar Strafe zahlen. Weitere Verfahren, in denen die Bundesstaaten Mississippi, Ohio, Oklahoma, Missouri und New Hampshire klagen, werden derzeit verhandelt.
FDA drängt auf energischere Schritte
Bereits Mitte Juni hatte die Food and Drug Administration (FDA) angekündigt, dass „energischere Schritte unternommen“ werden müssten, um mit der Opioid-Krise umzugehen. Von der „härtesten Herausforderung für die öffentliche Gesundheit mit der die FDA konfrontiert ist“, spricht in dem Zusammenhang Dr. Scott Gottlieb, Beauftragter der FDA.
In der Washington Post äußerte sich Gottlieb zu den Ergebnissen des FDA-Treffens am 10. und 11. Juli. Demnach plant die FDA, Schmerzmittelhersteller zu drängen, die verschreibenden Ärzte besser zu schulen. Speziell die Hersteller von Opioid-Präparaten mit sofort freigesetzten Wirkstoffen sollen Trainingsprogramme anbieten.
90% der in den USA verschriebenen Opioide sind schnellwirkend und enthalten Hydrocodon wie auch Oxycodon-Paracetamol-Kombinationen. Doch derzeit ist es so, dass nur die Hersteller von Produkten mit verzögerter Freisetzung – die 10% der Verschreibungen ausmachen – ein spezielles Ärztetraining anbieten müssen. „Amerika wird schlicht überschwemmt mit Produkten mit sofort freigesetzten Wirkstoffen“, sagt Gottlieb.
Ein Training der Ärzte soll sicherstellen, dass Verschreibungen ordnungsgemäß bei Patienten mit entsprechender Indikation und unter angemessenen klinischen Umständen erfolgen. Die FDA, so Gottlieb, verlange von Ärzten nicht die Teilnahme an solchen Trainings, doch man erwäge das.
Der Ende Juli vorgelegte Report der Kommission enthält neben seiner Empfehlung, umgehend den nationalen Notstand auszurufen, eine Reihe anderer Empfehlungen. So soll der Staat Suchtprogramme in Krankenhäusern, Gefängnissen und Drogenberatungsstellen deutlich stärker finanzieren.
Auch die Verschreibungspraxis soll genauer überwacht werden. Ärzte sollen Schulungen bekommen, in denen sie über die Risiken von Opioiden aufgeklärt werden. Sie sollen lernen, in welchen Fällen diese Medikamente wirklich nötig sind und wann andere Therapien ähnlich gut helfen. „Wir brauchen eine Evolution oder sogar eine Revolution dahingehend, wie das Gesundheitswesen mit Suchtverhalten umgeht“, bringt es Prof. Dr. Bertha K. Madras, Psychobiologin an der Harvard Medical School in Boston, auf den Punkt.
Die Kommission will auch die Medicaid-Hilfen flexibler gestalten. Das Gesundheitsfürsorgeprogramm für Amerikaner mit geringem Einkommen wurde mit Obamacare stark ausgeweitet, ist allerdings sehr bürokratisch. Eine Flexibilisierung, meint die Kommission, könnte Tausenden von Amerikanern eine Behandlung in bereits bestehenden Einrichtungen wie z.B. Suchtkliniken ermöglichen.
Ob der Präsident dafür ein offenes Ohr hat? Seine vom Kongress abgelehnte „Reform“ von Obamacare jedenfalls hätte für Medicaid Kürzungen in Höhe von 800 Milliarden US-Dollar bedeutet.
Das Suchtproblem an der Wurzel packen
„Man muss die wirklichen Ursachen behandeln“, mahnt Dr. Tom G. Bartol, Familienmediziner am Richmond Area Health Center, in einem Kommentar, erschienen bei Medscape. „Es muss mehr beachtet werden, weshalb Menschen Opioide nehmen und süchtig werden. Natürlich ist die Suchttherapie ein wichtiger Teil des Prozesses, doch ohne Behandlung der zugrundeliegenden Probleme ist die Suchtbehandlung in etwa so, als ob man immer wieder Wasser auf dem Flur eines Hauses aufwischt, bei dem es durchs Dach regnet, das Dach aber nie repariert wird“, schreibt Bartol. Das aber sei bloße Symptombehandlung. Gleichzeitig würden mehr Leute süchtig weil sie „mit emotionalen Problemen und Erkrankungen wie posttraumatischem Stress ringen“.
Die meisten Süchtigen fielen im derzeitigen Gesundheitssystem durchs Raster, meint Bartol: „Wir brauchen ein System das nicht darauf wartet, bis sich Symptome entwickeln, sondern das darauf angelegt ist, die Ursachen von Sucht zu behandeln.“
Um die Opioid-Epidemie in den Griff zu bekommen müsse sich einiges ändern – in der Form wie Hilfe angeboten werde und auch wie z.B. ambulante Angebote erstattet werden. Findet Gesundheitsvorsoge nur in der Klinik oder im Hospital statt und wird nur das Durchführen von Prozeduren und die Behandlung von Symptomen honoriert, dann werde die Epidemie anhalten, ist Bartol sicher.
Der Schlüssel die Epidemie aufzuhalten liegt für den Familienmediziner darin, den Ärzten Zeit mit ihren Patienten zu verschaffen und diese auch zu vergüten. „Unsere Gesundheitsversorgung muss mehr darauf ausgerichtet sein Beziehungen zwischen Arzt und Patient aufzubauen, so dass Patienten ihrem Arzt vertrauen und auch bereit sind, ihm ihre Schmerzen und Schwierigkeiten zu offenbaren, auch wenn eben noch keine erkennbare oder diagnostizierte körperliche oder psychische Erkrankung vorliegt.“
Was bewirkt der nationale Notstand?
Die Kommission hat keine Vorschläge dazu gemacht, wie der Nationale Notstand umgesetzt werden könnte – ob nun als Stafford Act (wird immer dann angewandt, wenn sehr kurzfristig sehr viel Geld benötigt wird) oder als Public Health Service Act (wodurch mehr Mittel für die medizinische Versorgung locker gemacht werden könnten). Damit könnten Ärzte in der Suchttherapie weitergebildet werden, etwa auch in der Kombinationstherapie aus Psychotherapie und Substitutions-Therapie mit Methadon, die vielen Süchtigen hilft.
Den nationalen Notstand zu erklären reicht nicht aus. Aber, so meint Dr. Lainie Rutkow von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in den US- Vox-Nachrichten: „Das könnte den Unterschied machen oder zumindest dazu führen, ein paar Dinge anzukurbeln, die dann langfristig helfen.“ Mit der Ausrufung des Nationalen Notstands könne der Öffentlichkeit klar gemacht werden, wie schwerwiegend die Gefahr tatsächlich sei.
Andere Experten sind da skeptischer: Tom Frieden, ehemaliger Leiter der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC, jedenfalls sagt, „Wenn die Ausrufung des nationalen Notstands jetzt nur ein politisches Statement ist … und dazu führt, dass Sucht weiter kriminalisiert wird, wäre es kontraproduktiv. ... es hängt davon ab, wie es jetzt weitergeht.“
Sicher ist wohl nur, dass die Opioid-Krise die USA noch Jahre beschäftigen wird. Worst-Case-Schätzungen gehen davon aus, dass in den kommenden 10 Jahren mehrere hunderttausende Amerikaner an einer Überdosis sterben werden. In Huntington jedenfalls retten Merrys Sanitäter die Abhängigen häufig nur wenige Tage später erneut, und gelegentlich retten sie Suchtkranke sogar am selben Tag noch einmal.
Krankenhäuser und Suchtkliniken arbeiten oft nicht gut zusammen. Meist werden die Menschen, die fast an einer Überdosis sterben und in eine Notaufnahme kommen, danach einfach wieder entlassen. Und noch immer haben – trotz Obamacare, das einiges verbessert hat – viele Amerikaner keine Krankenversicherung. Nach Angaben der CDC sind es 12,4% der US-Bürger zwischen 18 und 64 Jahren.
Und wenn Trump an seinem Plan festhält Obamacare abzuschaffen, dann würde das für die Opioidsüchtigen der USA eine weitere Katastrophe bedeuten. In Gordon Merrys Resümee jedenfalls mischt sich eine Menge Resignation: „Die Sucht zerstört eine ganze Generation, wir verlieren sie. Ich denke wir verlieren eine, möglicherweise auch 2 Generationen. Die Erwachsenen haben Kinder und diese Kinder haben tragischerweise kaum eine Chance aufgrund des Umfelds, in dem sie groß werden. Und das ist wohl das Schlimmste daran.“
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Diesen Artikel so zitieren: „Die Sucht zerstört eine ganze Generation …“ – warum die Opioid-Krise in den USA zum „nationalen Notstand“ geworden ist - Medscape - 22. Aug 2017.
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