Nach Unfall: Wann Kinder kein CT brauchen – mit internationalen Regelwerken zur richtigen Entscheidung

Petra Plaum

Interessenkonflikte

21. August 2017

Die Ergebnisse einer im Lancet publizierten Studie aus Australien und Neuseeland könnten helfen, Kindern nach Unfällen mit Kopfbeteiligung überflüssige Computertomografien (CT) zu ersparen. 3 große, international anerkannte Regelwerke haben demnach eine Sensitivität von jeweils über 90%. Bei Kindern unter 2 Jahren identifizierten Ärzte mithilfe des Regelwerks PECARN sogar 100% aller Patienten mit schwereren Kopfverletzungen.

„In dieser großen, multizentrischen Validierungsstudie mit umfangreichem Datensatz (…) haben wir gezeigt, dass die klinischen Entscheidungs-Regeln PECARN, CATCH und CHALICE ziemlich akkurat Kinder mit klinisch signifikanten Kopfverletzungen identifizieren können“, schlussfolgert das Autorenteam um Prof. Dr. Franz E. Babl vom Royal Children’s Hospital in Melbourne [1].

„Die Studie ist ein Mosaikstein mehr, der dafür spricht, dass nach bestimmten Untersuchungen ein Kind mit einem leichten Schädelhirntrauma gefahrlos nach Hause entlassen werden kann“, betont Dr. Axel Gänsslen, Arzt für Chirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie und Oberarzt der Klinik für Unfallchirurgie am Klinikum Wolfsburg.

Dr. Markus Lehner

„Hier wurden die Regelwerke PECARN, CHALICE und CATCH von externen Experten im Outcome evaluiert und als valide befunden. Das kann ein Impuls sein, dass mehr Kliniken diesen Weg gehen“, ergänzt Dr. Markus Lehner, Leitender Arzt für Kinderchirurgie am Kinderspital des Kantonsspitals Luzern, Schweiz.

Mit sorgfältiger Anamnese und den richtigen Fragen

PECARN steht für „Pediatric Emergency Care Applied Research Network“, und die „PECARN Clinical Decision Rules for Minor Head Injuries“ aus den USA sind inzwischen auch hierzulande verbreitet. Die Kernaussage: Anhand von Informationen über Unfallhergang, Symptome, Verhalten und Glasgow Coma Scale (GCS) lässt sich ermitteln, ob Ärzte verunfallten Kinder oder Jugendlichen aufgrund von klinischen Kriterien guten Gewissens eine CT-Untersuchung ersparen können.

Als einziges der 3 Regelwerke liefert PECARN unterschiedliche Angaben für verschiedene Altersgruppen:

  • Babys und Kleinkinder unter 2 Jahren haben demnach vor allem nach Stürzen aus einer Höhe von 90 cm oder mehr schwerere Kopfverletzungen,

  • ab 2 Jahren liegt die kritische Höhe bei 1,50 m.

  • Beim Baby und Kleinstkind wird zudem eher die Bewusstlosigkeit von mindestens 5 Sekunden und das von der Norm abweichende Verhalten als Alarmsignal gesehen,

  • im Alter ab 2 Jahren stattdessen Symptome wie wiederholtes Erbrechen und Kopfschmerz.

Zusätzlich erinnern die PECARN-Regeln daran, nach Hämatomen und allgemein nach Hinweisen auf eine Schädelfraktur zu suchen.

In Kanadas Kinderkliniken kommt für Heranwachsende bis 16 Jahre stattdessen ein Regelwerk namens CATCH (Canadian Assessment of Tomography for Childhood Head Injury) zum Einsatz. Als Hinweise auf eine ernsthaftere Verletzung gelten hier unter anderem ein anfänglicher Glasgow Coma Scale Score von 13 oder darüber – nach 2 Stunden muss er noch unter 15 liegen – und sich verschlimmernde Kopfschmerzen.

In Großbritannien verbreitet ist der „Children’s Head Injury Algorithm for the Prediction of Important Clinical Events“ (CHALICE), der für Patienten bis 15 Jahre entwickelt wurde. Er ist unter anderem für den Umgang mit Heranwachsenden geeignet, die Verkehrsunfälle, Stürze aus mehr als 3 Metern Höhe oder einen heftigen Zusammenprall erlitten haben. Ein GCS-Score von unter 14, bei Säuglingen von unter 15, gilt als ein Prädiktor dafür, ob eine schwerere Verletzung vorliegen könnte. Auch auf Amnesie, Bewusstlosigkeit und/oder Erbrechen sollten die Ärzte achten.

 
Die Studie ist ein Mosaikstein mehr, der dafür spricht, dass nach bestimmten Untersuchungen ein Kind mit einem leichten Schädelhirntrauma gefahrlos nach Hause entlassen werden kann. Dr. Axel Gänsslen
 

Kindern bis 2 Jahren sollte besonderes Augenmerk gewidmet werden

Lehner weist darauf hin, dass bei PECARN für Kinder bis 2 Jahren die Höhenangabe von 90 cm nicht optimal sei. „Meine klinische Erfahrung zeigt, dass gerade in dieser Altersgruppe auch Bagatelltraumen mit Stürzen aus weniger als 90 cm zu relevanten Verletzungen führen können, daher sollte dieser Altersgruppe besonderes Augenmerk gewidmet werden“, merkt er an. Ansonsten gelte: „Die PECARN-Rules sind gut validiert. Da gibt es schon einige Arbeiten – aber aus der Gruppe, die sie erstellt haben.“

Darauf weisen auch Babl und sein Team hin und informieren: „Wir entwarfen eine externe Multicenter-Validierungsstudie für diese 3 klinischen Entscheidungs-Regelwerke für kindliche Kopfverletzungen – mit dem Ziel, ihre diagnostische Genauigkeit außerhalb des Settings, in dem sie erstellt wurden, zu überprüfen. Ihre Leistungsfähigkeit sollte in einer klinisch homogenen Kohorte von Kindern mit leichten Kopfverletzungen erforscht werden.“ Diese Kinder seien die Gruppe, die das größte Dilemma für Kliniker mit sich bringe.

20.000 Patienten aus 10 Zentren

In die Untersuchung gingen die Daten von 20.137 Kindern und Jugendlichen ein, die zwischen 2011 und 2014 in 10 Notaufnahmen in Australien und Neuseeland aufgenommen worden waren. Die Daten für die Auswertung stammten aus der Klinik; nach Entlassung war jedem Teilnehmer noch bis zu 90 Tage nachtelefoniert worden. So ließ sich ermitteln, ob PECARN, CHALICE und/oder CATCH für bzw. gegen eine CT gesprochen hätten und auch, wie der Genesungsprozess der Patienten verlaufen war.

Auf 4.011 Kinder war PECARN für unter Zweijährige anwendbar, auf 11.152 PECARN für Ältere. CATCH passte zu 4.957 Patienten, CHALICE zu 20.029. Für einen Vergleich der Algorithmen eigneten sich 18.913 Patienten.

Einige der Studienergebnisse:

  • Die PECARN-Regeln sprachen bei 280 aller Patienten (1%) für eine schwerere Verletzung.

  • Laut CATCH bedurften 185 der Patienten (unter 1%) einer neurochirurgischen Intervention.

  • 403 der mit CHALICE bewerteten Patienten (2%) bekamen die Diagnose „klinisch signifikante intrakranielle Verletzung“.

  • Insgesamt wurden 4.544 (22,6%) aller Patienten hospitalisiert,

  • bei 2.106 Patienten (10,5%) wurde eine CT durchgeführt,

  • 83 Patienten (0,4%) bedurften einer neurochirurgischen Intervention und

  • 15 Patienten (0,1%) starben.

Die schwerer verletzten Kinder konnten zuverlässig identifiziert werden

19.207 Patienten (95,4%), so die Autoren, hatten bei der Erstuntersuchung einen optimalen GCS-Score von 15. Um zu überprüfen, inwiefern die Regelwerke in Bezug auf leichter Verletzte vergleichbar sind, erstellten die Wissenschaftler zusätzlich zur Validierungsstudie eine Vergleichsstudie mit 18.913 Patienten mit GCS-Score ab 13, die sich binnen 24 Stunden in der Klinik vorstellten.

 
Meine klinische Erfahrung zeigt, dass gerade in dieser Altersgruppe (Kinder bis 2 Jahre) auch Bagatelltraumen mit Stürzen aus weniger als 90 cm zu relevanten Verletzungen führen können. Dr. Markus Lehner
 

Das Kernergebnis ist deutlich: „Alle klinischen Entscheidungs-Regelwerke hatten eine hohe Sensitivität“, berichtet Babl. Das heißt: Die schwerer verletzten Patienten konnten zuverlässig identifiziert werden. „Die höchste Punktvalidierungs-Sensitivität wurde für PECARN gezeigt, und zwar für Kinder im Alter von unter 2 Jahren.“ PECARN erfasste 38 und damit 100% dieser schwerer verletzten Kinder.

Auch PECARN für Kinder ab 2 Jahren erreichte eine sehr hohe Sensitivität (99,0%; 97 von 98 schwerer verletzten Kindern konnten als solche identifiziert werden). Im Umkehrschluss bedeutete das: Ein einziges Kind, das womöglich von einer CT profitiert hätte, blieb ohne Bildgebung – die anderen 11.151 erhielten mit PECARN die korrekte Einschätzung der Schwere ihrer Kopfverletzungen.

CATCH schnitt mit ebenfalls einem übersehenen schwer verletzten Patienten etwas schlechter ab. CHALICE bewährte sich fast genauso gut (92,3%; 370/401). 2 initial übersehene Patienten benötigten allerdings neurochirurgische Behandlungen.

Wünsche für Deutschland

Lehner findet bemerkenswert, dass sich einmal mehr zeige, dass die Unterscheidung in Kinder unter 2 und ab 2 Jahren im Rahmen solch eines Regelwerks sinnvoll ist. „Das Design, würde ich sagen, ist wirklich fundiert und aussagekräftig“, ergänzt er. Dass CATCH und CHALICE mit vorgestellt wurden, sei ein zusätzlicher Pluspunkt.

Lehner sieht in solchen Regeln das Potenzial dafür, die CT-Raten weltweit zu senken – „bei uns sind sie ja vielerorts schon unter 2 Prozent, in den USA oft bei 15 bis 20 Prozent“, gibt er zu bedenken. „Da bei Kindern das Malignitätsrisiko durch eine CT schon steigen kann, erinnern wir auf allen Kongressen daran, hier zurückhaltend zu sein“, betont er.

 
Alle klinischen Entscheidungs-Regelwerke hatten eine hohe Sensitivität. Prof. Dr. Franz E. Babl
 

Ein nach einem Unfall auf der Liege sitzendes, waches Kind müsse – je nach Unfallhergang – nicht automatisch in die Polytraumaspirale. Erst ab dem Teenageralter sei eine versteckte lebensgefährliche Verletzung wahrscheinlicher und eine CT eher angebracht.

Gänsslens Kritik ist, dass nicht nachvollziehbar dargestellt worden ist, wie genau der Glasgow-Coma-Scale-Wert ermittelt wurde. 14 oder 15? – Da gebe es im klinischen Alltag bei mehreren Sanitätern oder Ärzten oft ganz unterschiedliche Bewertungen – genau dieser Unterschied könne bei der Untersuchung mit CHALICE, CATCH und PECARN aber entscheidend sein, denn mit einem fälschlicherweise zu hoch angesetzten GCS-Score von 15 fallen die Patienten ja aus diesen Untersuchungen heraus.

„Aber insgesamt ist die Chance, dass jemand mit einem GCS-Score von 14 oder 15 etwas Relevantes hat, im Promillebereich“, ergänzt Gänsslen. „Und wenn solch ein Kind in der Klinik aufgenommen und vernünftig überwacht wird, bekommen wir auch ohne CT heraus, wenn sich relevante Unfallfolgen anbahnen.“

Wichtiger als hierzulande seien die Regelwerke sicher in Ländern, in denen Kinder, die Unfälle mit Kopfbeteiligung hatten, keine erfahrenen Pädiater um sich haben und in denen noch zu viele CT stattfinden.

 
Da bei Kindern das Malignitätsrisiko durch eine CT schon steigen kann, erinnern wir auf allen Kongressen daran, hier zurückhaltend zu sein. Dr. Markus Lehner
 

Für die nächsten Jahre wünscht Gänsslen sich weitere Studien zu PECARN, CATCH und CHALICE – „wir sollten auch hier in Deutschland in Erwägung ziehen, das zu evaluieren, gern multizentrisch in Unikliniken“, schlägt er vor. „Die Ergebnisse könnten Eingang in die Leitlinien finden.“



REFERENZEN:

1. Babl FE: Lancet 2017;389:2393–2402

Kommentar

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