Das Narkosemittel Ketamin wird vor allem in den USA auch als Antidepressivum eingesetzt – und zum Teil als „Durchbruch“ gefeiert. Im Gegensatz zu herkömmlichen Antidepressiva wirkt es sehr schnell. Für einen klinischen Einsatz von Ketamin als Antidepressivum sei aber die Zeit noch lange nicht reif, argumentieren jetzt australische Wissenschaftler in The Lancet Psychiatry [1]. An der Berliner Charité sammelt man indes mit Ketamin erste interessante Studienerfahrungen.
Als Anästhetikum werde Ketamin in der Regel nur einmalig verabreicht, geben Dr. Brooke Short vom New South Wales Institute of Psychiatry in Sydney und ihre Lancet-Mitautoren zu bedenken. „Ein beabsichtigter Einsatz von Ketamin bei Depression dürfte dagegen verschiedene Dosierungen und wiederholte Dosen über einen längeren Zeitraum umfassen“, schreiben sie. Ihre Analyse des Nebenwirkungsprofils von Ketamin in 60 ausgewählten Studien führt sie zu einem ernüchternden Fazit: Akute Risiken seien zwar bekannt, über die Langzeitwirksamkeit und Sicherheit von Ketamin als Antidepressivum lägen aber kaum Erkenntnisse vor.
Bei richtiger Anwendung doch sicher?
Dieser Einschätzung schließt sich Prof. Dr. Malek Bajbouj, der an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité-Universitätsmedizin Berlin den Forschungsbereich Affektive Neurowissenschaften leitet, zwar im Grundsatz an. Allerdings hält er Ketamin für ein sicheres Medikament, wenn bei der Anwendung bestimmte Richtlinien eingehalten werden.
Der Berliner Psychiater bezieht sich dabei auf ein jüngst in JAMA Psychiatry erschienenes Konsensus-Statement von Autoren um Dr. Gerard Sanacora vom Department of Psychiatry der Yale University School of Medicine, New Haven. Es gibt Empfehlungen zum Umgang mit Ketamin bei der Behandlung von affektiven Störungen. Enthalten sind unter anderem Hinweise zur Auswahl geeigneter Patienten für eine Ketamintherapie, die Dosierung, die Verabreichungsweise und die Überwachung der Patienten. Sanacora und seine Kollegen haben sich aber auch mit der Frage beschäftigt, über welche Erfahrungen der behandelnde Arzt verfügen sollte.
„Der Beitrag von Short und seinen Koautoren setzt den Fokus zu sehr auf unerwünschte Wirkungen“, kritisiert Bajbouj vor diesem Hintergrund.
Missbrauch als Partydroge
Die antidepressive Wirkung von Ketamin ist seit fast 2 Jahrzehnten bekannt. Dass es trotzdem für die Indikation Depression bislang auch in Deutschland nicht zugelassen ist, hat aus Bajboujs Sicht 2 Gründe: „Zum einen liegt das sicherlich an der unzureichenden Studienlage, insbesondere für die Langzeitbehandlung, zum anderen aber auch an den Wirkungen, die man von langjährigen Ketamin-Konsumenten kennt.“ Diese Personen nutzten Ketamin als Partydroge und wiesen oft deutliche Gedächtniseinbußen, präklinische psychotische Symptome sowie funktionelle und strukturelle Veränderungen in diversen Hirnarealen auf, wie er weiter erläutert.
Obwohl die als Droge konsumierten Dosen um ein Vielfaches höher sind als die in der Depressionstherapie eingesetzten, macht dieser Umstand für Bajbouj Folgendes deutlich: „Studien, in denen die Wirksamkeit und Tolerabilität einer längerfristigen Gabe von Ketamin untersucht werden, sind jetzt wichtig.“
Intravenöse Gabe begünstigt Nebenwirkungen
„Die meisten depressiven Patienten, die mit Ketamin behandelt wurden, litten unter Nebenwirkungen. Sie traten unmittelbar nach der Gabe einer einzelnen Ketamindosis auf“, schreiben Short und ihre Kollegen. Die meisten Studien in ihrem systematischen Review erfassten nur diese unmittelbaren, akuten Wirkungen von Ketamin.
Besonders auffällig war, dass die bevorzugte intravenöse Verabreichung zu mehr Nebenwirkungen führte als andere Verabreichungsformen. Dies galt vor allem für kardiovaskuläre und psychomimetische Effekte. Ketamin kann auch oral, intramuskulär, subkutan, intranasal, sublingual oder transmukosal appliziert werden, was allerdings nur in etwa einem Viertel der analysierten Beiträge gemacht worden war.
Der Analyse von Short und ihren Mitautoren liegen die Daten von 899 depressiven Patienten zugrunde, die mit mindestens einer Dosis Ketamin behandelt worden waren. In den meisten Studien gab es weder eine Placebogruppe noch eine andere Kontrollgruppe. Akute Nebenwirkungen wurden in 50 Studien erfasst, kumulative Nebenwirkungen in 24 und Langzeitnebenwirkungen lediglich in 12. In allen Studien, die eine Kontrollgruppe umfassten, waren Nebenwirkungen bei den Patienten, die Ketamin erhielten, generell häufiger.
Unerwünschte Effekte sind vielfältig
Um mehr Aufschluss über Art und Häufigkeit der beobachteten Nebenwirkungen zu gewinnen, teilten die Wissenschaftler um Short diese in Untergruppen ein. In 23 Studien wurden akute psychiatrische Nebenwirkungen beschrieben, am häufigsten Angst, Agitation, Euphorie, Wahnvorstellungen, Panik und Apathie. Von akuten psychomimetischen Nebenwirkungen berichteten 43 Studien. Am häufigsten waren Dissoziation, Wahrnehmungsstörungen, anomale Empfindungen, Halluzinationen, merkwürdige Gefühle und Depersonalisierung.
In den 23 Studien, die den kardiovaskulären Zustand der Teilnehmer erfassten, stiegen infolge der Ketamingabe meist der Blutdruck und die Herzfrequenz an. Weitere Begleiterscheinungen waren unter anderem Herzrhythmusstörungen, Brustschmerzen, Engegefühl und Schwindel. Die kardiovaskulären Beeinträchtigungen bildeten sich meist innerhalb von 90 Minuten wieder zurück.
Ketamin zeigte auch neurologische Effekte und löste vor allem Kopfschmerzen und Schwindel aus, aber auch Benommenheit, Koordinationsstörungen und Tremor kamen vor. Im kognitiven Bereich traten Gedächtnisstörungen bis hin zum Gedächtnisverlust zutage, aber auch eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit, Verwirrung und kognitive Leistungsminderung.
Wie in 32 Studien berichtet wurde, waren darüber hinaus auch anderer Organsysteme von Nebenwirkungen betroffen: das Gastrointestinalsystem, das okulare System, die Atemwege und die Harnwege. Verschwommenes Sehen und Übelkeit standen hier an erster Stelle.
Nur 2 Studien beschäftigten sich mit der Entwicklung von Ketamin-Abhängigkeit oder Ketamin-Missbrauch.
Neue Studie wird Langzeiteffekte zeigen
„Unsere Analyse lässt nur Schlussfolgerungen im Hinblick auf Einzeldosen und akute Nebenwirkungen zu“, stellen Short und ihre Mitautoren fest. Es fehlt an ausreichend Daten zu Nebenwirkungen wiederholter Dosen und zu möglichen kumulativen und Langzeitrisiken.
An der Charité ist man bereits dabei, diese Wissenslücken zu schließen. „Unter unserer Leitung ist inzwischen eine multizentrische Studie abgeschlossen worden, in der Ketamin nicht nur in der Akutphase, sondern auch in der Erhaltungsphase verabreicht worden ist“, berichtet Bajbouj. Sie werde derzeit ausgewertet und ihre Resultate würden mit großem Interesse erwartet, da sie wichtige Erkenntnisse zu Langzeiteffekten liefern könne.
Ausführliche neuropsychologische Tests, die im Rahmen der an der Charité üblichen Ketamin-Behandlung von 3 Infusionen pro Woche durchgeführt worden waren, hätten zumindest keinerlei Hinweise auf relevante kognitive Nebenwirkungen geliefert, konstatiert der Berliner Psychiater.
Abhängigkeitsrisiko nicht ausreichend untersucht
Short und ihre Kollegen sehen auch die Tatsache kritisch, dass das Abhängigkeitsrisiko in Studien bisher fast völlig außer Acht gelassen worden ist. Trotz der niedrigen Ketamin-Dosen, die bei Depression verabreicht werden, sprächen die bei wiederholter Gabe unter Anästhesie, bei chronischem Schmerz sowie bei Drogenkonsum aufgetretenen Nebenwirkungen – wie urologische Toxizität, Leberfunktionsstörungen, negative kognitive Effekte – und das Abhängigkeitsrisiko dafür, dass dem Einsatz von Ketamin als Antidepressivum Grenzen gesetzt sein dürften. „Diese Aspekte erfordern eine weitere sorgfältige Abklärung, bevor Ketamin klinisch eingesetzt werden kann“, schreiben sie.
Die Wissenschaftler um Short bemängeln außerdem, dass die meisten Studien Nebenwirkungen nur qualitativ erfasst haben und sich nicht auf aktive längerfristige Erhebungen stützen. Außerdem sei das Studiendesign zu heterogen und zu wenig strukturiert, so dass eine Metaanalyse nicht möglich gewesen sei. Für künftige Studien haben die Australier deshalb selbst Instrumente entwickelt – das Ketamine Side Effect Tool und das Ketamine Safety Screening Tool –, mit denen sich das Nebenwirkungsprofil und die Langzeitsicherheit von Ketamin besser erfassen lassen sollen.
REFERENZEN:
1. Short B, et al: The Lancet Psychiatry (online) 27. Juli 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Ketamin – Hoffnungsträger bei Depressionen: Manche befürchten Langzeitrisiken, an der Charité sammelt man Erfahrungen - Medscape - 11. Aug 2017.
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