RNA-Interferenz als neues Wirkprinzip: Fitusiran wirksam bei Hämophilie A und B, mit oder ohne Hemmkörper

Dr. Daniel M. Keller

Interessenkonflikte

10. August 2017

Berlin Ein experimentelles Medikament, das durch RNA-Interferenz (RNAi) den Spiegel des zirkulierenden Antithrombins reduziert, beschleunigt bei Patienten mit Hämophilie A oder B die Blutgerinnung. Indem er das Antithrombin vermindert, ermöglicht der Wirkstoff Fitusiran (Alnylam Pharmaceuticals) eine ausreichende Thrombinbildung und damit eine effektive Hämostase.

Fitusiran greift in der Gerinnungskaskade sowohl unterhalb des Faktors VIII an, der bei Hämophilie A fehlt, als auch unterhalb des Faktors IX, der bei Hämophilie B fehlt. Folglich wirkt Fitusiran bei beiden Störungen.

„Dieser Ansatz kann bei Patienten mit und ohne Hemmkörper genutzt werden“, sagte Prof. Dr. John Pasi bei der Vorstellung der Forschungsergebnisse auf dem Kongress der International Society on Thrombosis and Haemostasis 2017 in Berlin [1]. Pasi ist Hämatologe an der Queen Mary University, London. „Außerdem kann dieser Behandlungsansatz bei Hämophilie A und B angewandt werden, weil er nicht von Gerinnungsfaktoren abhängt.“ Die Resultate wurden gleichzeitig online im New England Journal of Medicine veröffentlicht [2].

Prof. Dr. Wolfram Ruf von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz erläutert im Gespräch mit Medscape, dass RNAi immer beliebter werden, wenn es darum geht, das Gerinnungssystem zu beeinflussen. „Diese Therapien scheinen recht sicher zu sein und gut zu funktionieren. Blockierung der Hemmkörper mit diesem Antithrombin III ist zweifellos ein Weg, Störungen anzupacken.“

Aber der Professor für Experimentelle Hämostaseologie rät auch zur Vorsicht: Substanzen, die in die Koagulation eingreifen, müssten noch genauer erforscht werden. „Jeder Versuch, das Gleichgewicht wiederherzustellen, birgt die Gefahr von Thrombosen, und es wird spannend zu erfahren, wie die tatsächlichen Daten zur Sicherheit am Ende aussehen. Jedenfalls haben wir hier interessante Umgehungspfade, die man einschlagen kann, um Blutungen zu reduzieren, besonders bei Patienten mit Hemmkörpern gegen Faktor VIII.“

 
Diese Therapien (mit RNAi) scheinen recht sicher zu sein und gut zu funktionieren. Prof. Dr. Wolfram Ruf
 

Phase-2-Studie mit verschiedenen Dosierungen von Fitusiran

In einer Abstract-Sitzung während des Kongresses präsentierte Pasi die vollständigen Ergebnisse der offenen (open-label) Verlängerung einer Phase-2-Studie. Darin erhielten 33 Patienten mit Hämophilie A oder B, mit oder ohne Hemmkörper gegen Koagulationsfaktoren, einmal monatlich subkutane Injektionen von 50 mg oder 80 mg Fitusiran. In einer vorangehenden Phase-1-Studie hatten die Patienten das Medikament in verschiedenen Dosierungen und nach verschiedenen Behandlungsplänen bekommen.

„Bei jeder der beiden Dosierungen von Fitusiran lässt sich eine Erhöhung der Thrombinbildung beobachten, die untere Normalwerte erreicht. … Das bedeutet eine signifikante Verbesserung für Patienten, deren Thrombinproduktion eigentlich extrem niedrig ist“, sagte er. „Wichtig ist, dass wir keine sehr hohen Spiegel messen.“

So funktioniert Fitusiran

RNAi zielt auf eine spezifische mRNA und verhindert deren Translation in ein Protein, im Fall von Fitusiran eben in das Protein Antithrombin. Fitusiran ist ein kleines, chemisch synthetisiertes RNA-Molekül mit einem Liganden, der es in die Leber dirigiert, den Ort der Antithrombin-Synthese. Es funktioniert nach demselben natürlichen RNAi-Mechanismus, der die Antithrombin-Spiegel im Plasma reguliert.


Bei beiden Fitusiran-Dosierungen sanken die Antithrombin-Konzentrationen innerhalb von 30 Tagen nach der ersten Injektion auf ungefähr 20% bis 30% des Ausgangswerts. Während eines Zeitraums von 360 Tagen blieben sie in diesem 20%-Bereich oder darunter.

 
Jeder Versuch, das Gleichgewicht wiederherzustellen, birgt die Gefahr von Thrombosen. Prof. Dr. Wolfram Ruf
 

Die Thrombinbildung schwankte mit beiden Dosierungen im Verlauf von 90 Tagen im selben unteren Bereich von 64 bis 210 μM wie bei gesunden Freiwilligen, für den Rest des Jahres pendelte sie um oder über dem Wert von 45 μM.

Blutungsraten gut kontrolliert

Am wichtigsten war, dass die Blutungsraten mit Fitusiran gut kontrolliert waren. Blutungsepisoden wurden dann bewertet, wenn die Antithrombin-Senkung mehr als 75% des Ausgangswertes überschritt. Mit dem Medikament hatten 48% (16/33) der Patienten ohne Hemmkörper im Studienzeitraum keine Blutungen, 67% der Patienten gaben an, keine spontanen Blutungen gehabt zu haben.

Für die gesamte Gruppe der Patienten ohne Hemmkörper betrug die mediane Blutungsrate aufs Jahr umgerechnet 1,7 – verglichen mit 2 bei Patienten mit vorangehender Prophylaxe und 12 bei Teilnehmern mit Bedarfstherapie. Für Patienten mit Hemmkörpern lag die mediane Blutungsrate im Beobachtungszeitraum bei 0, in der Phase vor Studienbeginn dagegen bei 38.

Bei Patienten ohne Hemmkörper wurden alle Blutungsepisoden erfolgreich durch eine Faktor-Ersatztherapie beherrscht. Patienten mit Hemmkörpern erhielten Konzentrate mit aktiviertem Prothrombin-Komplex oder ebenfalls eine Faktor-Ersatztherapie.

Die Patienten, die die 50-mg- oder die 80-mg-Dosierung erhielten, stimmten in Alter und Gewicht gut überein. 27 Patienten hatten Hämophilie A, 6 hatten Hämophilie B. Bei 30 war der Krankheitsverlauf schwer, bei 3 moderat. Die meisten, nämlich 27, hatten in der Anamnese eine Hepatitis C (HCV).

In der Verlängerungsphase der Studie erhielten die Patienten Fitusiran bis zu einer Dauer von 20 Monaten, im Median 11 Monate lang. 5 der 33 Patienten brachen die Medikation ab, davon nur einer wegen einer unerwünschten Wirkung, die anderen zogen ihre Zustimmung zurück.

Sicherheit und Verträglichkeit

Unerwünschte Ereignisse wurden bei 70% der Patienten gemeldet, aber die meisten waren in ihrer Ausprägung mild bis moderat und ließen sich nicht der Prüfarznei zuordnen. 6 Patienten berichteten über schwere unerwünschte Wirkungen, bei 2 von ihnen wurde ein Zusammenhang mit dem Medikament erwogen. Bei einem der Patienten – er litt an einer chronischen HCV-Infektion – hatten sich die Leberenzyme erhöht, woraufhin er die Behandlung abbrach. Ein anderer Patient, bei dem anamnestisch eine Epilepsie bekannt war, hatte einen Anfall bekommen.

 
Die Behandlung für die Patienten ist sicher und die Mehrzahl der unerwünschten Ereignisse mild. Prof. Dr. John Pasi
 

Bei weiteren Teilnehmern wurden bei Leberfunktionstests asymptomatische Unregelmäßigkeiten registriert, die jedoch meist von selbst zurückgingen.

Bei Patienten ohne Hämophilie, aber mit einem Antithrombin-Mangel, besteht die Gefahr einer Thrombose. Jedoch traten in dieser Studie weder thromboembolische Ereignisse auf, noch ergab sich ein klinischer oder labordiagnostischer Hinweis auf die pathologische Bildung eines Blutpfropfs. Ebenso wenig fanden die Forscher Anhaltspunkte dafür, dass der Wirkstoff die Bildung von Antikörpern gegen das Medikament ausgelöst hätte.

Pasi folgerte daraus, dass die offene Verlängerungshase der Studie vielversprechende Daten liefert, „die bis zu einer Dauer von 20 Monaten belegen, dass die Behandlung für die Patienten sicher und die Mehrzahl der unerwünschten Ereignisse mild ist. Und wir haben sehr ermutigende Resultate zum klinischen Nutzen erhalten. Wir haben nachgewiesen, dass Antithrombin um nahezu 80 Prozent reduziert werden kann, wobei die Unterschiede zwischen einzelnen Patienten sehr gering sind. Und dass diese Behandlung einmal monatlich subkutan erfolgen kann.“


Dieser Artikel wurde von Dr. Angela Speth aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.



REFERENZEN:

1. Kongress der International Society on Thrombosis and Hemostasis (ISTH), 8. bis 13. Juli 2017, Berlin

2. Pasi KJ, et al: NEJM (online) 10. Juli 2017

Kommentar

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