Notdienste und Kliniken: Gerüstet für Terrorattacken? Was wir von Frankreich nach Paris und Nizza lernen können

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

9. August 2017

Wie sollten Ärzte und Notfalldienste künftig aufgestellt sein, um auf Terrorattacken vorbereitet zu sein? Im Lancet beschreiben französische Krankenhausärzte ihre Erfahrungen und Erkenntnisse nach den Terroranschlägen von Paris und Nizza [1]. „Die Notfallhilfe bei einem terroristischen Anschlag rettet nicht nur Leben, sondern sendet auch eine Botschaft an unsere Leute: Wir kapitulieren nicht vor dem Terror“, betonen die Notfallmediziner und Unfallchirurgen um Prof. Dr. Pierre Carli von der Universität Paris-Descartes.

Prof. Dr. Benedikt Friemert

In Paris starben beim Terroranschlag vom 13. November 2015 insgesamt 137 Menschen und 413 wurden verletzt – in Nizza wurden am 14. Juli 2016 insgesamt 87 Menschen getötet und 458 verletzt. „Es ist von zentraler Bedeutung, dass wir Notfallpläne vorbereiten, die sich an diese Bedrohung mit ihren vielen Facetten anpassen“, so die französischen Mediziner. Bislang seien Notfallpläne eher auf Naturkatastrophen und Unfälle eingestellt und weniger auf Anschläge, bei denen Terroristen auch Kriegswaffen einsetzen. Außerdem: Um möglichst viele Menschen zu töten, führen Attentäter oft – wie etwa in Paris – Anschläge nahezu zeitgleich an verschiedenen Orten aus.  

„Ihre Erfahrungen, die die Franzosen mit uns teilen, sind von großem Wert für andere Länder, die ebenso bedroht sind, aber diese brutale Initialzündung nicht erleben mussten“, sagt Prof. Dr. Benedikt Friemert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie des Bundeswehrkrankenhauses Ulm, gegenüber Medscape. Im Vergleich zu den französischen Erfahrungen sei das Attentat auf dem Berliner Breitscheitplatz an Weihnachten 2016 eher glimpflich verlaufen.

 
Die Notfallhilfe bei einem terroristischen Anschlag rettet nicht nur Leben, sondern sendet auch eine Botschaft an unsere Leute: Wir kapitulieren nicht vor dem Terror. Prof. Dr. Pierre Carli
 

Ein Terroranschlag ist etwas anderes als ein Massenunglück

„Ein Terroranschlag hat eine andere Logik als zum Beispiel eine Autokarambolage oder ein schweres Zugunglück wie in Eschede“, erläutert Friemert. Während etwa nach der Zugentgleisung in Eschede alle schwerverletzten Patienten erstversorgt, wegtransportiert und systematisch auf verschiedene Kliniken verteilt werden konnten, sind Anschläge, wie sie in Frankreich passierten, unberechenbar und ohne vorhersehbaren Endpunkt. So zog sich das Attentat in Paris über mehrere Stunden hin – und dies an verschiedenen Orten, etwa im Pariser Fußballstadion und in der Konzerthalle Bataclan.

Vor allem Kliniken, die in der Nähe der Tatorte lagen, waren völlig überfordert mit der Situation, weil sie eine unüberschaubare Menge an Patienten versorgen mussten, die entweder zu Fuß zur Klinik gingen oder von Laienhelfern gebracht wurden. So bekamen die Krankenhäuser, die in der Nähe der Attacke lagen, ein Ressourcenproblem, woraus dann eine totale Überforderung entstand, erläutern Carli und seine Kollegen.

Ärzte werden bei einem Terroranschlag vor große medizinische und auch taktisch-strategische Herausforderungen gestellt, sagt auch der Bundeswehr-Chirurg Friemert. „Das Hauptproblem ist die große Menge der schwer blutenden Patienten, die sofort vom Chirurgen versorgt werden müssen.“ Ärzte haben es dabei oft mit dramatischen Verletzungen zu tun, die durch Kriegswaffen, Sturmgewehre und Sprengsätze verursacht wurden.

Expertise von Militärärzten

Die Expertise von Militärärzten und -chirurgen ist dabei wichtig. Sie bilden z.B. in Frankreich ihre zivilen Kollegen fort. „Das Militär verfügt über die Erfahrung mit Angriffen und Anschlägen im Auslandseinsatz und mit dem Umgang mit Mangel“, meint Friemert.

 
Das Hauptproblem ist die große Menge der schwer blutenden Patienten, die sofort vom Chirurgen versorgt werden müssen. Prof. Dr. Benedikt Friemert
 

Er selbst hat für deutsche Kliniken einen Kurs mitentwickelt mit dem Titel „Terror and Disaster Surgical Care“, der seit Anfang des Jahres angeboten wird. Träger ist die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) zusammen mit der AUC (Akademie der Unfallchirurgie). Auch Notfallmediziner und Anästhesisten bieten spezielle Kurse an.

Chirurgen müssen bei Terrorattacken mit vielen Verletzten bestimmte Prinzipien befolgen – wie etwa „Life before limp“: „Priorität hat es, das Leben der Menschen zu retten, bevor man versucht, einzelne Gliedmaßen zu erhalten. Wir haben in dieser Situation nicht die Zeit, 6 Stunden das Bein eines Einzelnen zu rekonstruieren, wie es im Normalfall wäre. Wir müssen die knappe Zeit darauf verwenden, weitere Leben zu retten“, betont Friemert.

Bis die deutschen Kliniken allerdings flächendeckend geschult seien, werde es noch Jahre dauern, schränkt er ein. Es gebe nicht genügend Ärzte in der Bundeswehr, die als Ausbilder zur Verfügung stehen, deshalb baue man nun ein Train-the-Trainer-System auf.

Insgesamt sei Deutschland aber sehr gut mit seinen regional und überregional kooperierenden Trauma-Netzwerken DGU® in der Versorgung von Schwerstverletzten aufgestellt. „Wir haben damit eine hervorragende Basis. Was wir aber noch brauchen, sind die spezifischen Inhalte, die mit einem Terroranschlag zusammenhängen“, betont er.

 
Das Militär verfügt über die Erfahrung mit Angriffen und Anschlägen im Auslandseinsatz und mit dem Umgang mit Mangel. Prof. Dr. Benedikt Friemert
 

Kooperation, „prehospital damage control“ und Triage

Entscheidend bei den Terror-Attacken in Paris und Nizza sei vor allem das Zusammenspiel von Notfalldienst, Polizei, Feuerwehr und auch dem Militär gewesen, betonen Carli und seine Kollegen. So arbeitet der französische Notfalldienst traditionell eng mit dem medizinischen Dienst des französischen Militärs zusammen.

Die Franzosen setzen vor allem auf die Notfallhilfe, die vor der Einlieferung ins Krankenhaus („prehospital damage control“) erfolgen soll. Um viele Leben zu retten, braucht es auch eine entsprechende Ausrüstung der Helfer mit Tourniquets und speziellem Verbandsmaterial, womit man in Frankreich inzwischen die Krankenhäuser und Notfalldienste ausgestattet habe.

Wären deutsche Kliniken und Notfallmediziner im Fall eines Anschlages ausreichend ausgerüstet? „Terror und Krankenhäuser sind bei uns Ländersache. Es muss also künftig geklärt werden, wer diese Ausgaben finanziert und vor allem auch ein Wille bekundet werden, dass die Ausrüstung für den Terrorfall wichtig ist und die Kliniken entsprechendes Material bevorraten können. Einzelne Länder und Landkreise sind hier schon vorbildlich vorangegangen“, so Friemert. Die deutschen Kliniken benötigten für den Ernstfall Tourniquets, sie zu beschaffen sei jedoch in einem föderalen Staat wie Deutschland schwieriger als im zentralistischen Frankreich.

Angesichts der Massen von Verletzten, musste man in den französische Krankenhäuser zur Triage greifen und Prioritäten setzen, erläutern die französischen Ärzte. Zudem wurden auch sofort zusätzliche Mittel aktiviert, die nicht vor Ort angesiedelt waren – entweder für die sofortige Versorgung oder einem späteren Transfer. Auch spezielle Ressourcen wie Zentren für Verbrennungen oder pädiatrische Teams außerhalb von Paris wurden in Anspruch genommen. Darüber hinaus seien auch regionale Krankenhäuser informiert worden, um im Bedarfsfall zusätzliche Kapazitäten bereitzustellen.

 
Priorität hat es, das Leben der Menschen zu retten, bevor man versucht, einzelne Gliedmaßen zu erhalten. Prof. Dr. Benedikt Friemert
 

Eine bittere Lektion, die die französischen Ärzte lernen mussten: Unter den zahlreichen Verletzten waren Kinder, die bei den Anschlägen im Fußballstadion sowie im Konzerthaus Bataclan verletzt wurden. Den Notfalldiensten sei bewusst geworden, dass sie nicht genügend Ressourcen hatten, um die zahlreichen Kinder adäquat pädiatrisch zu behandeln. Inzwischen gebe es hier eigene Fortbildungen.

Einsatz von Psychologen und Psychiater notwendig

Auch langfristige Ressourcen galt es in Frankreich nach den Anschlägen zu mobilisieren: Psychiater und Psychologen, die sich um die Überlebenden und Angehörige, aber auch um die Helfer und das medizinische Personal kümmerten. Niedergelassene mussten sich darauf einstellen, über Wochen und Monate hinweg einen kontinuierlichen Fluss von Patienten zu behandeln.

Rund ein Drittel der Personen, die direkte Gewalt-Opfer werden, sind gefährdet, eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zu entwickeln. Unter denjenigen mit PTBS erholt sich ein Drittel auch in einen Zeitraum von 10 Jahren nicht von dem Trauma, was zu erheblichen Beeinträchtigungen der Gesundheit und der Lebensqualität führen kann.

Ein klares Defizit nach den Attacken in Frankreich sehen die Lancet-Autoren bei der Identifikation der Toten, zumal ein enormer Druck bestehe, weil die Angehörigen auf eine zeitnahe Antwort warten und auch im Bereich der Jurisdiktion eine hohe Qualität der Beweise erforderlich ist.

 
Eine geeignete Notfallversorgung rettet nicht nur Leben, sondern kann die Resilienz der Bevölkerung stärken. Prof. Dr. Pierre Carli und Kollegen
 

Die Erfahrungen in Paris und Nizza haben zu einer neuen „Standard Operating Procedure“ geführt, vor allem die Sammlung von Fingerabdrücken, DNA und dentaler Daten kombiniert mit der externen körperlichen Untersuchung der gestorbenen Opfer. Alle Daten wurden zudem zusammengeführt in einer Liste von vermissten Personen und Verletzen.

Notfalldienst rettet Leben und gibt Hoffnung

„Eine geeignete Notfallversorgung rettet nicht nur Leben, sondern kann die Resilienz der Bevölkerung stärken“, betonen die Autoren. Sie mobilisiere das ganze Land und wirke den Hauptzielen des Terrorismus entgegen, Aggression, Angst und Panik zu verbreiten. „Weil der Krieg gegen den Terrorismus international ist, muss auch die Notfallversorgung international sein. Wir müssen daher unsere Erfahrung und Notfallpläne teilen, damit wir alle besser der Sache der Humanität dienen können“, betonen die Autoren.



REFERENZEN:

1. Carli P, et al: Lancet (online) 25. Juli 2017

Kommentar

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