„Ärzte müssen aufhören, ihren Patienten zu sagen, dass sie Antibiotika immer bis zu Ende nehmen sollen – selbst wenn sie keine Beschwerden mehr haben!“ Dies fordern britische Wissenschaftler in einem im BMJ erschienen Artikel [1].
Prof. Dr. Martin J. Llewelyn, Professor für Infektionskrankheiten an der Brighton and Sussex Medical School, Falmer, Großbritannien, und seine Kollegen plädieren dafür, die Einnahmedauer von Antibiotika grundsätzlich zu verkürzen – dies gefährde in den meisten Fällen weder den Therapieerfolg, noch fördere es die Entstehung von Resistenzen. Ganz im Gegenteil: Die verkürzte Therapiedauer könnte sogar vor der Entstehung von Resistenzen schützen, meinen sie.

Prof. Dr. Winfried V. Kern
Aufhören bei Beschwerderückgang?
Doch wie soll entschieden werden, auf welche Dauer die Antibiotikatherapie verkürzt werden kann? Für die meisten Infektionen fehlen Studien, die zeigten, welche Therapiedauer optimal wäre, schreiben Llewelyn und sein Team. „Möglicherweise sollten Ärzte ihren Patienten raten, mit der Einnahme aufzuhören, wenn sie sich besser fühlen“, schlagen sie vor.
Laut Prof. Dr. Winfried V. Kern, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), ist das über Jahrzehnte aufrecht erhaltene Dogma, Antibiotika immer über eine feste Zahl von Tagen zu nehmen, schon länger am Bröckeln. Doch den Vorschlag der britischen Autoren, bei Antibiotikatherapien generell auf feste Therapiedauern zu verzichten, lehnt er ab.
Opportunistische Pathogene sind das eigentliche Problem
„Entscheidend ist, welche Indikation für die Antibiotikatherapie vorliegt. Doch das diskutieren die Autoren überhaupt nicht“, kritisiert Kern, der am Universitätsklinikum Freiburg die Abteilung Infektiologie leitet. „Es gibt Infektionen, bei denen mit der Einnahme aufgehört werden kann, wenn es dem Patienten besser geht, aber das kann man nicht bei jeder Infektionstherapie machen.“
Im Fokus der Argumentation von Llewelyn und seinen Kollegen stehen die harmlosen Bakterien, die Darm, Haut und Schleimhäute besiedeln oder in der Umwelt des Menschen leben. Unter ungünstigen Bedingungen können auch sie krank machen. Sie seien das eigentliche Problem, weil sich bei ihnen Resistenzen anders entwickelten als bei echten Pathogenen wie Mycobacterium tuberculosis, so die Autoren.Bei Krankheitserregern werden vor allem unter Monotherapien spontan entstandene resistente Mutanten gezielt selektiert, die sich dann ausbreiten können.
Die opportunistischen Pathogene dagegen entwickeln Resistenzen in erster Linie als Antwort auf die Antibiotika-Behandlung einer Infektion, die von einem anderen Krankheitserreger herrührt. Diese durch kollaterale Selektion entstandenen Resistenzen können sich sehr schnell sowohl innerhalb derselben Art als auch auf andere Arten ausbreiten und die harmlose Form ersetzen – wie es beispielsweise im Falle der Methicillin-Resistenz bei Staphylococcus aureus (MRSA) geschehen ist.
„Die kollaterale Selektion ist der eigentliche Treiber aller wichtigen Formen von Antibiotikaresistenzen, von denen Patienten heute betroffen sind“, so die britischen Wissenschaftler. Je länger diese opportunistischen Bakterien Antibiotika ausgesetzt seien, umso höher sei der Selektionsdruck in Richtung Resistenz.
Dieser Argumentation stimmt Kern grundsätzlich zu: „In der Diskussion über die Vermeidung von Antibiotikaresistenzen ist man inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass die Antibiotika-Therapiedauer verkürzt werden muss, um den Selektionsdruck auf die ‚unschuldige‘ Mikroflora so gering wie möglich zu halten.“
Notwendigkeit der Therapie überprüfen
In Krankenhäusern beginne sich die Strategie bereits zu ändern, weil dort anhand von Biomarkern wie Procalcitonin individuell entschieden werden könne, wann die Antibiotikatherapie zu beenden sei, schreiben die BMJ-Autoren. Im außerklinischen Versorgungsbereich sei dies nicht so einfach machbar. Eine Möglichkeit sei aber, den Patienten zu raten, die Einnahme einzustellen, sobald sie sich besser fühlen.
Soll künftig also der Patient entscheiden, wann er mit der Einnahme der Antibiotika-Tabletten aufhört? Für Kern geht dies zu weit: Eine erstrebenswerte kürzere Therapiedauer bedeute nicht, dass der Patient nach subjektivem Empfinden die Therapie absetzen soll.
„Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben dazu geführt, dass man es heute bei bestimmten Infektionen vom klinischen Verlauf abhängig macht, wie lange Antibiotika eingenommen werden – und zum klinischen Verlauf gehört natürlich auch das Beschwerdebild des Patienten“, sagt Kern.
Als Beispiele für Infektionen, bei denen durchaus ein flexiblerer Umgang mit der Therapiedauer möglich ist, nennt Kern die Sinusitis und die Pneumonie. „Die Behandlungsempfehlung lautet in diesen Indikationen, die Antibiotika 5 bis 7 Tage zu geben. Hier kann man dem Patienten durchaus sagen: ‚Wenn Sie sich nach 5 Tagen besser fühlen, dann können sie aufhören, das Medikament zu nehmen‘.“
Doch es gebe auch Infektionen, bei denen man das Antibiotikum über eine fixe Behandlungsdauer geben sollte, um den Therapieerfolg sicher zu stellen. „Bei Infektionen wie Candida-Sepsis, Staphylococcus-aureus-Sepsis, Typhus, Syphilis, Endokarditis oder Osteomyelitis muss man dem Patienten ganz klar sagen: ‚Wenn Sie das vor Ablauf der genannten Therapiedauer absetzen, kann es passieren, dass Sie einen Rückfall bekommen‘.“
Entscheidungshilfen für den Patienten
Doch selbst bei Erkrankungen mit einer flexibleren Therapiedauer wie Sinusitis gelte: „Der Patient muss in der Lage sein, richtig einzuschätzen, wann es ihm ‚besser geht‘. Das heißt, der Arzt muss ihm erklären, woran er das festmachen kann, etwa einem Fieberrückgang, weniger Druck auf den Nebenhöhlen oder weniger Schleimbildung“, sagt Kern. Aber selbst mit Erklärungen sei dies nicht allen Patienten möglich, schränkt er ein. „Der Arzt muss einschätzen, ob er es dem jeweiligen Patienten zutraut.“
Llewelyn und seine Mitautoren schlussfolgern in ihrem Artikel: „Es gibt Evidenz, die zeigt, dass ein früherer Einnahmestopp bei Antibiotikatherapien eine sichere und effektive Möglichkeit ist, den übermäßigen Gebrauch von Antibiotika zu reduzieren.“ In Krankenhäusern sei es im Rahmen von Anstrengungen, den Antibiotikaverbrauch zu verringern, längst üblich, die Notwendigkeit der Therapie täglich neu zu beurteilen. Doch in der Primärversorgung, in der 85% aller Antibiotika verschrieben würden, werde das bislang nicht einmal versucht.
Mehr Flexibilität in Deutschland
Allerdings gebe es hier Unterschiede zwischen der Situation in Großbritannien und Deutschland, schränkt Kern ein: „In Großbritannien sind die Therapieempfehlungen in den Leitlinien oft starrer als bei uns. Ein Beispiel ist die Behandlungsempfehlung bei Lungenentzündungen, die in der britischen Leitlinie bei exakt 7 Tagen festgelegt ist, während hierzulande von fünf bis 7 Tagen die Rede ist.“
„In Deutschland räumen wir schon lange bei bestimmten Indikationen einen gewissen Spielraum ein, den man bei günstigem klinischen Verlauf auch ausnutzen kann“, so Kern. Wichtig sei dabei die Frage, ob man den klinischen Verlauf nur vom subjektiven Gefühl des Patienten abhängig machen kann. „Das ist die ärztliche Entscheidung und hängt auch von den Fähigkeiten des Patienten ab.“

Dr. Katja de With
Auf die Indikation kommt es an
„Für viele Infektionserkrankungen ist die Therapiedauer inzwischen sehr gut definiert“, stellt Dr. Katja de With, Leiterin des Zentralbereichs Klinische Infektiologie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden gegenüber Medscape klar. „Manchmal, aber nicht immer, sind die Packungsgrößen sehr gut an die empfohlene Therapiedauer angepasst, so dass die Empfehlung an den Patienten, die Packung aufzubrauchen, zumindest vom Verständnis her nachvollziehbar ist.“
„Heilungserfolg und Resistenzentwicklung dürfen nicht miteinander verwechselt oder in ihrer Bedeutung gleichgestellt werden“, gibt sie zu bedenken. Bei manchen Infektionserkrankungen wie der Osteomyelitis oder der Endokarditis müsse einer langen Therapiedauer, die für den Heilungserfolg Voraussetzung ist, der Vorzug gegeben werden. Eine mögliche Förderung der Resistenzentwicklung sei in solchen Fällen aus klinischer Sicht nicht von Bedeutung.
Andererseits fördere ein unnötiger Antibiotika-Verbrauch die Entstehung von Resistenzen. Darin stimmt de With mit den Autoren überein. Auch in Deutschland würden bei vielen Indikationen unnötig viele Antibiotika verordnet, beispielsweise bei viralen Infektionen der oberen Atemwege, ist sie überzeugt. „Durch Absetzen bei fehlender Indikation oder durch Einhalten der in den Leitlinien empfohlenen Dauer könnte der Antibiotika-Verbrauch tatsächlich reduziert werden“, meint die Infektiologin, die auch Sprecherin der Sektion „Antibiotic Stewardship“ der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie ist.
REFERENZEN:
1. Llewelyn M, et al: BJM 2017; 358:j3418
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Antibiotika müssen nicht immer bis zu Ende genommen werden!“ Britische Forscher fordern Abkehr von fixer Therapiedauer - Medscape - 8. Aug 2017.
Kommentar