Männer mit lokal begrenztem Prostatakarzinom leben nicht länger, wenn man sie direkt operiert statt abzuwarten und zu beobachten, wie sich der Tumor weiter entwickelt. Mit diesem Ergebnis bestätigt ein jüngst im New England Journal of Medicine publiziertes Update der PIVOT-Studie „unseren klinischen Alltag, den wir längst so leben“, sagt Prof. Dr. Thomas Steuber, leitender Arzt des Prostatakrebszentrums an der Martini-Klinik in Hamburg, gegenüber Medscape.
Andererseits schränkten erhebliche Limitationen die Aussagekraft der Studie drastisch ein, betont Prof. Dr. Michael Stöckle, der am Universitätsklinikum des Saarlandes die Klinik für Urologie und Kinderurologie leitet: „Die Lebenserwartung eines Großteils der Patienten in der Studie war viel zu kurz. So lässt sich nicht sagen, ob sie bei längerer Lebenserwartung nicht doch von einer aktiven Therapie profitiert hätten.“
Längere Nachbeobachtung und nicht-fatale Endpunkte
Dr. Timothy J. Wilt vom Department of Medicine der University of Minnesota, Minneapolis, USA, und seine Kollegen hatten bereits 2012 publiziert, dass sich in der PIVOT-Studie kein Mortalitätsunterschied zwischen Prostatektomie und einer zuwartenden Strategie („Observation“) gezeigt hatte. Die aktuelle Publikation umfasst eine längere Nachbeobachtung und weitere Endpunkte wie die Notwendigkeit von Systemtherapien bei Krankheitsprogress [1].

Prof. Dr. Thomas Steuber
Insgesamt wurden für die Studie 731 Männer mit lokal begrenztem Prostatakarzinom auf eine radikale Prostatektomie oder Zuwarten randomisiert. Die längsten Nachbeobachtungszeiträume umfassen bis zu 20 Jahre, der Median der Nachbeobachtung liegt allerdings nur bei gut 12 Jahren.
Von den auf die radikale Prostatektomie randomisierten Männern starben während des Follow-up 61,3%, von den Teilnehmern in der Gruppe mit zuwartender Strategie waren es 66,8%. Der Risikounterschied von 5,5 Prozentpunkten sei statistisch nicht signifikant gewesen, berichten die Autoren um Wilt.
Unterschied ab intermediärem Risiko sichtbar
Schaut man sich allerdings Subgruppen mit unterschiedlichen Risikoprofilen an, machen sich Unterschiede bemerkbar: „Patienten, deren Tumoren ein intermediäres Risiko hatten, profitierten tendenziell von der Operation“, so Steuber. Das Sterberisiko war in dieser Gruppe von Patienten immerhin um 14,5 Prozentpunkte niedriger, wenn sie operiert wurden.
Dass der Risikounterschied zwischen Operation und Zuwarten dagegen bei Hochrisikotumoren bei nur 2,3 Prozentpunkten lag, ist Steuber zufolge der viel zu geringen Power der Studie geschuldet. „Laut ursprünglicher Power-Analyse hätte die PIVOT-Studie 2.000 Patienten gebraucht, rekrutiert werden konnten aber nur 731. Sie ist also massiv unterpowert. Schaut man sich dann Subgruppen an, ist es kaum möglich, haltbare Aussagen zu treffen.“ Steuber betont: „Es gibt hinreichend Belege in guten Publikationen, dass Patienten mit einem Hochrisikotumor von einer Lokaltherapie mit einem relevanten Überlebensvorteil profitieren.“
Kritik an der Patientenselektion
Dass die PIVOT-Studie nicht unbedingt zu diesen „guten Publikationen“ zählt, stellt auch Stöckle klar. Im Gespräch mit Medscape betont er: „Die Patientenpopulation war überhaupt nicht geeignet, um herauszufinden, welche der beiden Vorgehensweisen die bessere ist. Denn nach 12 Jahren waren bereits 50 Prozent der Patienten an anderen Ursachen als dem Prostatakarzinom gestorben.“
Aufgrund des langsamen Wachstums von Niedrigrisiko-Prostatakarzinomen laute die Regel, dass ein Patient eine weitere Lebenserwartung von mindestens 10 bis 15 Jahren haben muss, um für eine Operation in Frage zu kommen. Kritisch gesprochen bedeute dies, stimmt Steuber zu, dass „diese Patienten nach heutigen Kriterien gar nicht hätten operiert werden dürfen.“ Tatsächlich starben am Prostatakarzinom oder der Behandlung selbst in der Prostatektomie-Gruppe gerade einmal 7,4% und in der Gruppe mit zuwartender Strategie 11,4% der Männer. Die restlichen Todesfälle hatten andere Ursachen.
„Wenn die Hälfte der Patienten an etwas anderem stirbt, lange bevor es zu einem Progress der Prostatakrebs-Erkrankung gekommen wäre, lässt sich nicht sagen, ob die Patienten bei höherer Lebenserwartung nicht vielleicht doch von einer operativen Behandlung profitiert hätten“, so Stöckle. Bei der Entscheidung für oder gegen eine aktive Therapie spielen neben dem Risikoprofil des Tumors auch die Lebenserwartung des Patienten sowie vorhandene Begleiterkrankungen eine entscheidende Rolle – darin sind sich die beiden Experten einig.
Systemtherapien beim Zuwarten häufiger
Die PIVOT-Studie zeigt allerdings auch: Das Überleben mag der wichtigste sein, ist aber bei weitem nicht der einzige Endpunkt von Bedeutung. „Der Anteil der Patienten, die aufgrund eines Fortschreitens der Erkrankung im Verlauf eine Hormon- oder Chemotherapie benötigen, ist in der Gruppe, bei der abgewartet und beobachtet wurde, deutlich höher“, gibt Steuber zu bedenken.
Schaue man sich nur den Endpunkt Tod an, gebe es keinen Unterschied. „Wenn jemand schon seine dritte Chemotherapie bekommt, lebt er zwar noch, hätte aber dennoch von einer Operation profitiert“, sagt er. Deshalb sei es entscheidend, „rechtzeitig den Schalter umzulegen“.
In der PIVOT-Studie wurde in der Gruppe mit zuwartender Strategie tatsächlich nur abgewartet und beobachtet, und es wurden erst bei einem Krankheitsprogress Therapien angeboten. „Heutzutage praktiziert man dagegen die aktive Überwachung, die sich vorbehält, bei Anzeichen einer Krankheitsprogression doch zu operieren oder zu bestrahlen – beides in kurativer Intention“, ergänzt Steuber.
Ausnahmen seien nur alte und kranke Patienten, die aufgrund ihrer geringen Lebenserwartung für eine kurative Prostatakrebs-Therapie nicht in Frage kämen, diese würden ebenfalls lediglich beobachtet.
REFERENZEN:
1. Wilt TJ, et al: NEJM 2017;377:132-142
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Diesen Artikel so zitieren: Prostatakarzinom: Besser zuwarten als operieren? Studie bestätigt klinische Praxis, erntet aber Kritik - Medscape - 1. Aug 2017.
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