Review zu Süßstoffen: Helfen nicht beim Abnehmen – möglicherweise aber mit erhöhten kardiometabolischen Risiken assoziiert

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

31. Juli 2017

Helfen Süßstoffe tatsächlich beim Abnehmen, wie es Werbung und Hersteller suggerieren? Ein systematischer Review kanadischer Forscher kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: In randomisiert-kontrollierten Interventionsstudien (RCTs) hatte der Konsum von kalorienfreien Süßstoffen keinen Effekt auf den Body-Mass-Index (BMI). Und in großen Observationsstudien waren Süßstoffe langfristig mit einem höheren Gewicht sowie höheren Risiken für Adipositas, Hypertonie, Typ-2-Diabetes, Schlaganfall und kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert [1].

„Die Evidenz aus RCTs spricht nicht eindeutig für den bezweckten Nutzen von Süßstoffen hinsichtlich der Gewichtskontrolle. Und Beobachtungsdaten deuten darauf hin, dass der routinemäßige Verzehr von Süßstoffen mit einem erhöhten BMI und kardiometabolischen Risiko assoziiert sein könnte“, lautet die Schlussfolgerung der Autoren um Dr. Meghan B. Azad vom George & Fay Yee Centre for Healthcare Innovation, Winnipeg, Kanada.

Verdacht auf reverse Kausalität

Prof. Dr. Dr. Hans-Georg Joost, ehemaliger Wissenschaftlicher Vorstand des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke, erklärt im Gespräch mit Medscape: „Der Zusammenhang zwischen Süßstoffverzehr und Gewichtszunahme ist lange bekannt.“

Die Interpretation dieser Beobachtungsstudien sei aber schwierig, da der Verdacht bestehe, dass der Effekt durch reverse Kausalität bedingt sei. „Wer Süßstoff nimmt, tut das, weil er übergewichtig ist, und nicht umgekehrt. Deshalb sind Interventionsstudien notwendig.“ Die strikte Trennung von Observationsstudien und RCTs in der im Canadian Medical Association Journal erschienenen Metaanalyse sei deshalb lobenswert.

Unterschiedliche Probandenzahlen

Die Metanalyse umfasst 7 RCTs mit insgesamt 1.003 Teilnehmern und einem medianen Follow-up von 6 Monaten sowie 30 Observationsstudien mit insgesamt 407.907 Teilnehmern und einem medianen Follow-up von 10 Jahren.

 
Beobachtungsdaten deuten an, dass der routinemäßige Verzehr von Süßstoffen mit einem erhöhten BMI und kardiometabolischen Risiko assoziiert sein könnte. Dr. Meghan B. Azad und Kollegen
 

„Interventionsstudien sind aufwendig und kaum zu finanzieren, deshalb sind die Teilnehmerzahlen erheblich geringer als bei den Observationsstudien“, kommentiert Joost. Die unterschiedlichen Stichprobengrößen seien wichtig für die Interpretation der Ergebnisse, denn: „Bei den hohen Zahlen in den Observationsstudien werden schon kleine Unterschiede statistisch signifikant, während bei den Interventionsstudien nur größere Effekte Signifikanz erreichen.“

An den 7 RCTs nahmen adipöse, übergewichtige oder hypertensive Menschen teil. Bei ihnen wurde getestet, welche Effekte es hat, den Zucker in Getränken durch Süßstoffe auszutauschen oder zum Süßen Steviatabletten oder Aspartam zu verwenden. Die Interventionen dauerten zwischen 6 und 24 Monate.

Die 30 Observationsstudien berichteten über insgesamt 22 verschiedene Kohorten. Für die meisten Studien wurde anhand von Fragebögen ermittelt, wie häufig die Teilnehmer mit Süßstoff gesüßte Getränke tranken. Der Großteil der Studien kontrollierte Faktoren wie Gewicht zu Studienbeginn, Ernährung, Alter, Geschlecht, Raucherstatus und körperliche Aktivität. Ethnizität und sozioökonomischer Status wurden nur in etwa der Hälfte der Studien berücksichtigt. Die Nachbeobachtung reichte von 1 bis zu 38 Jahren.

Als wichtigstes Maß für die Wirksamkeit von Süßstoffen schauten sich Azad und ihre Kollegen die Auswirkungen auf den BMI der Teilnehmer an.

BMI: Kein Effekt oder steigender BMI

In 2 RCTs mit hypertensiven Patienten, die Steviatabletten zum Süßen verwendeten, und einer RCT mit übergewichtigen Teilnehmern, die Light-Getränke konsumierten, zeigte sich über 6 bis 24 Monate kein signifikanter Effekt auf den BMI. Der Unterschied zwischen den Gruppen lag im Schnitt bei -0,37 kg/m2.

2 Kohortenstudien zeigten bei gesunden Teilnehmern, die regelmäßig Süßstoff verzehrten, über einen Beobachtungszeitraum von 3 bis 13 Jahren eine positive Korrelation mit dem BMI. Eine weitere Kohortenstudie fand, dass bei Teilnehmern, die täglich Süßstoffe zu sich nahmen, der BMI über 8 Jahre im Schnitt um 0,77 kg/m2 stärker anstieg als bei Teilnehmern, die keinen Süßstoff benutzten.

 
Es bleibt die Schlussfolgerung, dass Süßstoffe sicherlich nicht das Wundermittel sind, das sie versprechen zu sein. Prof. Dr. Dr. Hans-Georg Joost
 

Zusammenhang zwischen Süßstoffen und Gewichtszunahme – Artefakt des Studiendesigns?

Insgesamt 5 RCTs untersuchten Interventionen mit Süßstoffen bei adipösen Teilnehmern. Einen konsistenten Effekt auf die Gewichtsentwicklung gab es nicht. 2 RCTs mit längerer Dauer zeigten einen signifikanten Gewichtsverlust über 16 bis 24 Monate. 3 kürzere RCTs (6 Monate) zeigten keinen Effekt von Süßstoffen.

„Es gibt somit durchaus RCTs, die zeigen, dass der Einsatz von Süßstoffen einen Effekt auf das Gewicht haben kann – nämlich diejenigen, die am längsten liefen“, sagt Joost. Allerdings seien die gewichtsreduzierenden Effekte der Süßstoffe auch in von der Industrie finanzierten Studien tendenziell stärker ausgeprägt gewesen, merken Azad und ihre Kollegen an und ergänzen: „Da beide RCTs mit längerer Dauer von der Industrie finanziert wurden, ist es unmöglich, den Effekt der Studiendauer vom Effekt der Industriefinanzierung zu trennen.“

„Dass Süßstoffe im Hinblick auf die Gewichtsabnahme unwirksam sind, kann aus den vorliegenden Daten nicht geschlossen werden“, betont Joost: „Allerdings kann man auch nicht mit der nötigen Sicherheit schließen, dass sie wirksam sind.“

In 2 Observationsstudien (4 Kohorten) war über einen Beobachtungszeitraum von 2 bis 4 Jahren eine signifikante positive Korrelation zwischen dem Verzehr von Süßstoffen und einer Gewichtszunahme zu erkennen.

„Den Zusammenhang zwischen Süßstoffen und Gewichtszunahme zeigen fast alle epidemiologischen Studien, er ist schon lange gesichert“, bestätigt Joost. „Ich halte dieses Ergebnis für einen Artefakt des Studiendesigns. Der Süßstoff verursacht nicht die Gewichtszunahme, sondern das Übergewicht führt bei Personen, die Probleme mit ihrem Gewicht haben, zur Verwendung von Süßstoff.“

Und auch Azad und ihre Kollegen schreiben: „Observationsstudien unterliegen einem Bias durch Störfaktoren, speziell wenn die Exposition (hier der Süßstoff) eine potenzielle Therapie für den zu untersuchenden Endpunkt (Gewichtszunahme) ist.“

Inkonsistente Effekte auf den Taillenumfang

In 3 RCTs tranken adipöse Teilnehmer im Rahmen eines Gewichtsreduktionsprogramms Light-Limonaden anstatt der zuckerhaltigen Originale. Die Effekte auf den Taillenumfang waren inkonsistent: Eine 12-monatige Intervention führte zu einer signifikanten Reduktion des Taillenumfangs, während 2 6-monatige Studien keinen Effekt zeigten.

Im Gegensatz dazu zeigten Kohortenstudien mit 4 bis 9 Jahren Follow-up, dass ein höherer Konsum von Süßstoffen mit einem zunehmenden Taillenumfang assoziiert war.

Höheres Risiko für Typ-2-Diabetes/Metabolisches Syndrom in gepoolten Daten

Die Inzidenz von Typ-2-Diabetes und Metabolischem Syndrom wurde in den RCTs nicht untersucht. Gepoolte Daten der Kohortenstudien mit 4 bis 24 Jahren Nachbeobachtung brachten aber ein höheres Risiko sowohl für das Metabolische Syndrom (RR 1,31) als auch für Typ-2-Diabetes (RR 1,14) zu Tage – jeweils beim Vergleich des höchsten mit dem niedrigsten Süßstoffkonsum.

Kardiologische Erkrankungen: Wert und Probleme von Observationsstudien zeigen sich

Auch zu kardiologischen Endpunkten gibt es keine Evidenz aus RCTs. In den Observationsstudien war ein hoher Süßstoffkonsum mit einem erhöhten Risiko für Hypertonie (HR 1,13) über 5 bis 38 Jahre assoziiert. Auch die Risiken für Schlaganfall (RR 1,14) und kardiovaskuläre Ereignisse (RR 1,32) waren bei hohem Süßstoffkonsum erhöht. Eine signifikante Assoziation mit koronarer Herzkrankheit gab es nicht.

„Unsere Ergebnisse zeigen sowohl den Wert als auch die Probleme von Observationsstudien, wenn der Effekt von Real-World-Expositionsfaktoren auf gesundheitliche Endpunkte, die sich nur sehr langsam im Verlauf der Zeit entwickeln, beurteilt werden soll“, schreiben Azad und ihre Kollegen.

 
Optimal wäre natürlich, zuckerhaltige Getränke durch ungesüßte Optionen wie Mineralwasser zu ersetzen. Prof. Dr. Dr. Hans-Georg Joost
 

RCTs lieferten zwar die qualitativ höchste wissenschaftliche Evidenz, könnten aber die chronische Exposition über die Ernährung, die in jahrzehntelangen Observationsstudien eingefangen wird, oft nicht abbilden.

Süßstoffe sind kein Wundermittel

„Es bleibt die Schlussfolgerung, dass Süßstoffe sicherlich nicht das Wundermittel sind, das sie versprechen zu sein“, resümiert Joost. „Warum das so ist, bleibt offen.“ Denn, so Joost, es gebe durchaus einige wenige Interventionsstudien, in denen auf zuckerhaltige Getränke verzichtet wurde (ohne sie gegen die Light-Version zu ersetzen) – und diese hätten mittelfristig Wirksamkeit gezeigt.

„Die meisten Experten sind sich heute einig, dass zuckerhaltige Getränke für einen Teil der Adipositas-Epidemie und ihre Folgeerkrankungen verantwortlich sind“, so Joost. „Folglich würde man eine Gewichtsreduktion erwarten, wenn man den Zucker durch den kalorienfreien Süßstoff ersetzt – und in einigen Interventionsstudien mit längerer Dauer geschieht dies auch.“

Alles in allem zeige auch dieser Review wieder, dass es eine „gute Idee ist, auf zuckerhaltige Getränke bzw. den Zucker darin zu verzichten, wenn man sein Gewicht halten will“, schlussfolgert Joost. „Und optimal wäre natürlich, zuckerhaltige Getränke durch ungesüßte Optionen wie Mineralwasser zu ersetzen.“



REFERENZEN:

1. Azad MB, et al: CMAJ (online) 17. Juli 2017

Kommentar

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