
Prof. Dr. Sebastian Rauer
Viele Ärzte, die sich auf die Behandlung der Lyme-Borreliose spezialisiert haben, tendieren dazu, hinter allen möglichen Beschwerden eine chronische Form der Krankheit zu vermuten. Prof. Dr. Sebastian Rauer, Leitender Oberarzt an der Neurologischen Universitätsklinik Freiburg, erklärt im Interview mit Medscape, anhand welcher Symptome und Labortests eine Spätmanifestation der Borreliose sicher zu erkennen ist – und welche Tests unsinnig sind.
Medscape: Herr Professor Rauer, welche Symptome sind für eine chronische Borreliose charakteristisch?
Prof. Rauer: Der Begriff der chronischen Borreliose wird heutzutage leider sehr unterschiedlich verwendet. Manche Borreliose-Experten tendieren ja unglücklicherweise dazu, eine ganze Reihe von Beschwerden – etwa ständige Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, Muskel- und Gelenkschmerzen – auf eine chronische Borreliose zurückzuführen.
Ich würde daher lieber von einem Spätstadium der Lyme-Borreliose sprechen. Bei diesen späten Manifestationen handelt es sich um klar umschriebene Krankheiten – die monate- oder gar jahrelang andauern können, wenn sie nicht mit Antibiotika behandelt werden.
Medscape: Um welche Krankheiten handelt es sich?
Prof. Rauer: Eine mögliche Spätfolge einer unbehandelten akuten Infektion mit Borrelien ist eine chronische Hautinfektion, bei der sich die Haut bläulich verfärbt und eine pergamentartige Struktur entwickelt. Diese sogenannte Acrodermatitis chronica atrophicans, kurz ACA, geht oft mit Schädigungen der peripheren Nerven einher.
Eine weitere Spätfolge kann die chronische Lyme-Arthritis sein. Das betroffene Gelenk schwillt typischerweise an und schmerzt, wird aber nicht rot. Schließlich kann es noch zu einer Entzündung des Rückenmarks und/oder des Gehirns kommen, die beispielsweise mit zunehmenden Spastiken in den Beinen und Blasenschwäche bis hin zu psychiatrischen Krankheitsbildern einhergehen.
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All diese Erkrankungen sollten Ärzte ernst nehmen und behandeln, da es sonst zu dauerhaften Schäden kommen kann, wie Gehbeeinträchtigungen und Blasenfunktionsstörungen.
Medscape: Sind Sie der Meinung, dass sich beispielsweise Beschwerden wie chronische Müdigkeit überhaupt nicht auf eine Infektion mit Borrelien zurückführen lassen?
Prof. Rauer: Nicht, wenn solche unspezifischen Symptome alleine auftreten. In Verbindung mit einer der 3 genannten Spätfolgen können sie hingegen durchaus vorkommen.
Unsinnig ist es meines Erachtens übrigens auch, eine chronische Borreliose zu vermuten, wenn sich keine entsprechenden Antikörper im Blut nachweisen lassen. Oder der Liquor – bei Verdacht auf eine Neuroborreliose – keine Auffälligkeiten zeigt. In diesem Fall haben die Beschwerden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine andere Ursache.
Klinische Studien haben beispielsweise gezeigt, dass es bei solchen Patienten keinen Unterschied macht, ob sie mit Antibiotika oder Placebos behandelt werden.
Medscape: Welche Möglichkeiten gibt es, eine Spätmanifestation der Borreliose sicher, also nicht nur anhand ihrer Symptome, zu diagnostizieren?
Prof. Rauer: Zunächst einmal bin ich der Ansicht, dass Spätfolgen einer Borrelien-Infektion erst dann in Erwägung gezogen werden sollten, wenn die genannten typischen Symptome zu beobachten sind. Nur dann macht es meines Erachtens Sinn, im Blut nach entsprechenden Antikörpern zu suchen.
Studien haben nämlich gezeigt, dass sich Borrelien-spezifische IgM- und vor allem IgG-Antikörper auch bei 10-15% der gesunden Menschen finden. Das heißt, die Antikörper verbleiben auch nach einer ausgeheilten Erkrankung im Blut – was man ansonsten vor allem von Virusinfektionen kennt.
Medscape: Mithilfe welcher Tests sollte man nach solchen Antikörpern im Blut suchen?
Prof. Rauer: Bewährt haben sich zwei Methoden, die in der Regel auch beide zum Einsatz kommen. Als erstes sollte man bei einem entsprechenden Verdacht einen ELISA-Test vornehmen. Die Abkürzung steht für Enzyme-linked Immunosorbent Assay. Bei diesem Test werden die Antikörper mithilfe eines Enzyms über eine Farbreaktion nachgewiesen.
Ergänzt wird der ELISA-Test durch einen Immunoblot, auch Western- oder Lineblot genannt. Dieser liefert noch genauere Ergebnisse. Hierbei werden gentechnisch hergestellte rekombinante Proteine oder native Antigene von im Labor gezüchteten Borrelien gewonnen und auf einer Trägermembran aufgebracht.
Gibt man nun die Blutprobe eines Patienten hinzu, entwickelt sich ein typisches Streifenmuster, das einem Barcode ähnelt. Anhand der entstehenden Banden lässt sich ablesen, welche und wie viele Antikörper im Blut des Getesteten vorhanden sind.
Ist der Immunoblot positiv, sollte bei passender Symptomatik unverzüglich mit einer Antibiose begonnen werden. Bei einem negativen Testergebnis hingegen kann es sich meines Erachtens und dem gesunden Menschenverstand folgend definitiv nicht um eine Spätform der Borreliose handeln.
Medscape: Es gibt ja noch eine ganze Reihe anderer Testverfahren, um eine Borrelien-Infektion nachzuweisen – etwa der Lymphozyten-Transformationstest, kurz LTT. Damit sucht man im Blut nach Borrelien-spezifischen T-Lymphozyten. Sind derartige Test, die gesetzlich Versicherte selber zahlen müssen, aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Prof. Rauer: Nein, nahezu alle anderen außer den beiden zuvor genannten Testverfahren sind nicht hinreichend validiert und führen womöglich zu falschen Diagnosen – die dann natürlich auch Fehlbehandlungen nach sich ziehen. Zum Teil sind wirklich hanebüchene Tests auf dem Markt. Sie ziehen dem Patienten zwar das Geld aus der Tasche, nutzen ihm aber in keiner Weise.
Das einzige Verfahren, das die Suche nach Antikörpern in bestimmten Situationen sinnvoll ergänzen kann, ist eine PCR oder die Anzucht von Borrelien mittels Kultur. Mithilfe der Polymerasen-Kettenreaktion lässt sich die DNA des Erregers direkt nachweisen.
Medscape: Reichen der ELISA-Test und der Immunoblot aus, um auch eine Neuroborreliose sicher zu diagnostizieren?
Prof. Rauer: Beim Verdacht auf eine Neuroborreliose, etwa aufgrund von nächtlichen Schmerzen oder spastischer Schwäche in den Beinen mit zusätzlichen Blasenstörungen, sollte immer auch der Liquor untersucht werden. Ist die Menge der gefundenen Antikörper dort größer als im Blut und stößt man zusätzlich auf eine erhöhte Zellzahl, deutet das ziemlich sicher auf eine Neuroborreliose hin.
Medscape: Sollten andere Erkrankungen zusätzlich ausgeschlossen werden?
Prof. Rauer: Wenn die Symptome charakteristisch sind und die Tests positiv ausfallen, ist es meines Erachtens zunächst nicht nötig, weitere Krankheiten auszuschließen. Das gilt insbesondere für typische Infektionen der Haut. Entzündungen der Gelenke und des Nervensystems können hingegen auch schon mal durch andere Erreger, etwa durch Treponemen oder Herpesviren, hervorgerufen werden. Hier könnte eine entsprechende Untersuchung sinnvoll sein – insbesondere dann, wenn eine Antibiotikabehandlung keinen Erfolg bringt.
Medscape: Wer sollte der erste Ansprechpartner sein, wenn ein Patient vermutet, dass er an einer Spätform der Borreliose leidet?
Prof. Rauer: Erster Ansprechpartner ist immer der Hausarzt. Gegebenenfalls kann dieser seinen Patienten dann zu einem Dermatologen, einem Neurologen oder Rheumatologen überweisen. Von speziellen Borreliose-Zentren, die nicht nach allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Methoden arbeiten, würde ich aus den schon genannten Gründen dringend abraten.
Ich möchte noch einmal betonen, dass die Grundlage für die Diagnose einer Borreliose die Beschwerdebilder sind. Ein entsprechender Verdacht kann dann durch Labortests bestätigt oder widerlegt werden, Für unsinnig und sogar gefährlich halte ich dagegen, wenn der Arzt aufgrund unspezifischer Beschwerden mit zahlreichen, nicht ausreichend geprüften Tests nach Hinweisen auf Borrelien zu sucht,
Medscape: Anhand welcher Kriterien lässt sich der Behandlungserfolg einer antibiotischen Therapie messen?
Prof. Rauer: Wichtigstes Kriterium ist das Zurückgehen beziehungsweise Verschwinden der Symptome. Bei einer Neuroborreliose sollten zudem die Entzündungsmarker im Nervenwasser zurückgehen. Serologische Tests hingegen machen als Verlaufsparameter keinen Sinn, da die Antikörper wie gesagt auch bei einer vollständig ausgeheilten Erkrankung vielfach im Blut verbleiben.
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Diesen Artikel so zitieren: Vorsicht Fehldiagnose! Unspezifische Beschwerden und fragwürdige Tests liefern keine Hinweise auf chronische Borreliose - Medscape - 25. Jul 2017.
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