„An der Digitalisierung in der Pflege führt kein Weg vorbei“ – doch die Risiken sind noch zu wenig erforscht

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

24. Juli 2017

Pflege- und  Haushaltsroboter oder digitale Tourenbegleiter für ambulantes  Pflegedienstpersonal: Das Thema E-Pflege wird wohl die Zukunft beherrschen. Das  Potential sei enorm, man müsse es aber noch besser heben, so das Fazit des  Beratungsunternehmens Roland Berger GmbH sowie des Deutschen Instituts für  angewandte Pflegewirtschaft e.V. (DIP) und der Philosophisch-Katholischen  Hochschule in Vallendar (PKHV) in einer gemeinsamen  Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) [1].

Die Forderung: Die  E-Pflege müsse stärker vorangetrieben, das Personal besser geschult werden und die  Forschung intensiviert werden, um den Nutzen und Mehrwert von digitalen  Lösungen zu belegen.

Dieser Ansatz ist  jedoch dem Pflegeexperten Prof. Dr. Stefan  Görres vom Institut für Public Health und Pflegeforschung von der  Universität Bremen zu einseitig: „Die Studie konzentriert sich auf die  Potentiale und die Hemmnisse, beschäftigt sich aber nicht im Sinne einer  Technikfolgen-Abschätzung mit den möglichen Nachteilen der Digitalisierung“,  kritisiert er gegenüber Medscape. „Man kann nicht einfach davon ausgehen,  dass Digitalisierung per se etwas Gutes ist“, sagt Görres. „Das Thema  ist wichtig. Aber die Forschung dazu sollte ergebnisoffen und nach beiden  Seiten ausgerichtet sein und auch mögliche Risiken untersuchen“, betont er.

Zahlreiche Hemmnisse festgestellt

In ihrer Studie  zur E-Pflege haben Thilo Zelt (Roland Berger), Prof. Dr. Frank Weidner (DIP) und Prof. Dr. Manfred  Hülsken-Giesler (PKHV) und ihre Teams in einer Online-Befragung 63 Akteure  im Pflegebereich befragt sowie 217 aktuelle E-Pflege-Projekte analysiert.  Darüber hinaus wurden 4 Expertenworkshops initiiert und eine qualitative  Befragung von 13 Experten durchgeführt, um Potenziale, Hemmnisse und den Bedarf  zu identifizieren.

 
Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass Digitalisierung per se etwas Gutes ist. Prof. Dr. Stefan Görres
 

Da sich der  Fachkräftemangel in der Pflege verschärfe und auch die Bevölkerung älter werde,  seien digitalen Lösungen notwendig, um die Pflege zu optimieren und qualitativ  zu verbessern, so die Autoren. So müssten Abläufe optimiert und die  Kommunikation innerhalb der ambulanten Pflegekette verbessert werden.

Hilfsmittel seien  z.B. digitalen Tourenbegleiter,  also Tablets oder Smartphones, die Pflegekräfte im ambulanten Dienst dabei haben  und die mit der Pflegezentrale verbunden sind, um den Tourenverlauf zu  kontrollieren, im laufenden Dienst zu verändern sowie eingehende Daten sofort  zu dokumentieren. Auch der Markt für Assistenzsysteme  wie z.B. Sensorik-Matten, die auf Stürze reagieren und Alarme auslösen oder  auch für Haushalts-und Pflegeroboter, sei groß. Die Autoren kritisieren jedoch,  dass es an Studien mangle, die den Nutzen und Mehrwert der digitalen Angebote  nachweisen. Hier sei die Pflegewissenschaft künftig gefordert.

Als weitere  zentrale Hemmnisse für den Einsatz von digitalen Systemen sahen alle 63 Online-Befragten mangelndes Wissen über Wirkungen des Technikeinsatzes, unklare  Geschäftsmodelle (n = 55), mangelnde Informations- und Beratungsangebote (46),  mangelnde Vernetzbarkeit verschiedener Lösungen (46), mangelnde Bekanntheit  verfügbarer technischen Lösungen (42).

Die  Studie adressiert aktuelle Themen in der Pflege, wie etwa die  Schnittstellenproblematik. Die Kommunikation zwischen Pflegekräften, Ärzten,  Pflegebedürftigen, Kassen und Medizinischem Dienst der Krankenversicherung (MDK) könne durch digitale Lösungen verbessert werden, so die Autoren. „Oft  geht wertvolle Zeit verloren, weil digitalisierte Daten z.B. im Rahmen des  Entlassungs- und Überleitungsmanagement nicht ausgetauscht werden können.“

 
An der Digitalisierung wird in der Pflege kein Weg vorbeiführen. Prof. Dr. Stefan Görres
 

Insgesamt  plädieren sie dafür, dass sich die Akteure mit Hilfe von E-Pflege besser  vernetzen und der Aufbau einer Verwaltung initiiert wird, die die Vernetzung  fördert. Ferner sollen Leuchtturmprojekte initiiert werden, die  wissenschaftlich erprobt und evaluiert werden.

Mangelnde Technikkompetenz beim Personal

Die  Autoren bemängeln, dass vor allem professionellen Dienstleistern und pflegenden  Angehörigen die notwendige Technikkompetenz fehlten, wie zuverlässig die  angebotenen Systeme seien und wie sie bedient werden können. Deshalb müssten  sie hier auch da Personal geschult werden.

Allein  nur auf die Vermittlung von Technikkompetenzen und Fortbildung zu setzen, wie  die Autoren es vorschlagen, dies greift laut Pflegewissenschaftler Görres zu  kurz: „Wir haben es wahrscheinlich mit einer tiefen Skepsis sowie Ängsten und  Verunsicherungen zu tun. Das kann man nicht damit hinwegfegen, indem man sagt: ‚Wir  schulen diese Kräfte und das Problem ist gelöst.‘“, so Görres.

Perspektive von Nutzern und  Pflegepersonal untersuchen

Insgesamt  sei mit der Studie sehr stark das Interesse der Industrie- und der  Dienstleister bedient worden. Es sei aber auch wichtig, dass das Pflegepersonal  befragt werde und nicht nur die Leitungsebene. Insgesamt seien zwar auch  Akteure wie etwa Gewerkschaften eingebunden worden. Damit habe man aber eher  nur die Funktionärsebene eingeschlossen.

Görres  fordert auch, das Risiko einer möglichen digitalen Spaltung nicht außer Acht zu  lassen. Es könnte Gewinner geben, wie etwa Dienstleister, aber auch mögliche  Verlierer, wie das Pflegepersonal mit einem Durchschnittsalter zwischen 40 und  50 Jahren. In der Praxis beklage das Personal häufig die Mehrarbeit durch den  Einsatz von digitalen Systemen wie etwa dem Dokumentieren mit dem PC oder  Tablet, was auch mitunter als störend im Alltag erlebt werde. Deshalb  dokumentierten viele noch auf Papier, weil es schneller gehe.

 
Bei dieser wichtigen Frage sollte noch mehr die Nutzerperspektive berücksichtigt werden und die Fragestellung muss neutraler und offener ausgerichtet sein. Prof. Dr. Stefan Görres
 

„Ich  bin kein Gegner der Digitalisierung. An der Digitalisierung wird in der Pflege kein Weg vorbeiführen“,  stellt Görres klar. Das Thema müsse jedoch in vernünftige Bahnen gelenkt  werden, betont er. Er findet es insgesamt gut, dass das BMG eine solche Studie  beauftragt hat. Die vorgelegte Studie könne aber seiner Ansicht nur ein erster  Aufschlag sein. „Bei  dieser wichtigen Frage sollte noch mehr die Nutzerperspektive berücksichtigt  werden und die Fragestellung muss neutraler und offener ausgerichtet sein“,  so Görres. Hier sei trotz Beteiligung  zahlreicher Akteure vor allem die Perspektive der  Dienstleister und der Wirtschaft akzentuiert  worden.



REFERENZEN:

1. Studie  im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums, 28. Juni 2017

Kommentar

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