Pflege- und Haushaltsroboter oder digitale Tourenbegleiter für ambulantes Pflegedienstpersonal: Das Thema E-Pflege wird wohl die Zukunft beherrschen. Das Potential sei enorm, man müsse es aber noch besser heben, so das Fazit des Beratungsunternehmens Roland Berger GmbH sowie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegewirtschaft e.V. (DIP) und der Philosophisch-Katholischen Hochschule in Vallendar (PKHV) in einer gemeinsamen Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) [1].
Die Forderung: Die E-Pflege müsse stärker vorangetrieben, das Personal besser geschult werden und die Forschung intensiviert werden, um den Nutzen und Mehrwert von digitalen Lösungen zu belegen.
Dieser Ansatz ist jedoch dem Pflegeexperten Prof. Dr. Stefan Görres vom Institut für Public Health und Pflegeforschung von der Universität Bremen zu einseitig: „Die Studie konzentriert sich auf die Potentiale und die Hemmnisse, beschäftigt sich aber nicht im Sinne einer Technikfolgen-Abschätzung mit den möglichen Nachteilen der Digitalisierung“, kritisiert er gegenüber Medscape. „Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass Digitalisierung per se etwas Gutes ist“, sagt Görres. „Das Thema ist wichtig. Aber die Forschung dazu sollte ergebnisoffen und nach beiden Seiten ausgerichtet sein und auch mögliche Risiken untersuchen“, betont er.
Zahlreiche Hemmnisse festgestellt
In ihrer Studie zur E-Pflege haben Thilo Zelt (Roland Berger), Prof. Dr. Frank Weidner (DIP) und Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler (PKHV) und ihre Teams in einer Online-Befragung 63 Akteure im Pflegebereich befragt sowie 217 aktuelle E-Pflege-Projekte analysiert. Darüber hinaus wurden 4 Expertenworkshops initiiert und eine qualitative Befragung von 13 Experten durchgeführt, um Potenziale, Hemmnisse und den Bedarf zu identifizieren.
Da sich der Fachkräftemangel in der Pflege verschärfe und auch die Bevölkerung älter werde, seien digitalen Lösungen notwendig, um die Pflege zu optimieren und qualitativ zu verbessern, so die Autoren. So müssten Abläufe optimiert und die Kommunikation innerhalb der ambulanten Pflegekette verbessert werden.
Hilfsmittel seien z.B. digitalen Tourenbegleiter, also Tablets oder Smartphones, die Pflegekräfte im ambulanten Dienst dabei haben und die mit der Pflegezentrale verbunden sind, um den Tourenverlauf zu kontrollieren, im laufenden Dienst zu verändern sowie eingehende Daten sofort zu dokumentieren. Auch der Markt für Assistenzsysteme wie z.B. Sensorik-Matten, die auf Stürze reagieren und Alarme auslösen oder auch für Haushalts-und Pflegeroboter, sei groß. Die Autoren kritisieren jedoch, dass es an Studien mangle, die den Nutzen und Mehrwert der digitalen Angebote nachweisen. Hier sei die Pflegewissenschaft künftig gefordert.
Als weitere zentrale Hemmnisse für den Einsatz von digitalen Systemen sahen alle 63 Online-Befragten mangelndes Wissen über Wirkungen des Technikeinsatzes, unklare Geschäftsmodelle (n = 55), mangelnde Informations- und Beratungsangebote (46), mangelnde Vernetzbarkeit verschiedener Lösungen (46), mangelnde Bekanntheit verfügbarer technischen Lösungen (42).
Die Studie adressiert aktuelle Themen in der Pflege, wie etwa die Schnittstellenproblematik. Die Kommunikation zwischen Pflegekräften, Ärzten, Pflegebedürftigen, Kassen und Medizinischem Dienst der Krankenversicherung (MDK) könne durch digitale Lösungen verbessert werden, so die Autoren. „Oft geht wertvolle Zeit verloren, weil digitalisierte Daten z.B. im Rahmen des Entlassungs- und Überleitungsmanagement nicht ausgetauscht werden können.“
Insgesamt plädieren sie dafür, dass sich die Akteure mit Hilfe von E-Pflege besser vernetzen und der Aufbau einer Verwaltung initiiert wird, die die Vernetzung fördert. Ferner sollen Leuchtturmprojekte initiiert werden, die wissenschaftlich erprobt und evaluiert werden.
Mangelnde Technikkompetenz beim Personal
Die Autoren bemängeln, dass vor allem professionellen Dienstleistern und pflegenden Angehörigen die notwendige Technikkompetenz fehlten, wie zuverlässig die angebotenen Systeme seien und wie sie bedient werden können. Deshalb müssten sie hier auch da Personal geschult werden.
Allein nur auf die Vermittlung von Technikkompetenzen und Fortbildung zu setzen, wie die Autoren es vorschlagen, dies greift laut Pflegewissenschaftler Görres zu kurz: „Wir haben es wahrscheinlich mit einer tiefen Skepsis sowie Ängsten und Verunsicherungen zu tun. Das kann man nicht damit hinwegfegen, indem man sagt: ‚Wir schulen diese Kräfte und das Problem ist gelöst.‘“, so Görres.
Perspektive von Nutzern und Pflegepersonal untersuchen
Insgesamt sei mit der Studie sehr stark das Interesse der Industrie- und der Dienstleister bedient worden. Es sei aber auch wichtig, dass das Pflegepersonal befragt werde und nicht nur die Leitungsebene. Insgesamt seien zwar auch Akteure wie etwa Gewerkschaften eingebunden worden. Damit habe man aber eher nur die Funktionärsebene eingeschlossen.
Görres fordert auch, das Risiko einer möglichen digitalen Spaltung nicht außer Acht zu lassen. Es könnte Gewinner geben, wie etwa Dienstleister, aber auch mögliche Verlierer, wie das Pflegepersonal mit einem Durchschnittsalter zwischen 40 und 50 Jahren. In der Praxis beklage das Personal häufig die Mehrarbeit durch den Einsatz von digitalen Systemen wie etwa dem Dokumentieren mit dem PC oder Tablet, was auch mitunter als störend im Alltag erlebt werde. Deshalb dokumentierten viele noch auf Papier, weil es schneller gehe.
„Ich bin kein Gegner der Digitalisierung. An der Digitalisierung wird in der Pflege kein Weg vorbeiführen“, stellt Görres klar. Das Thema müsse jedoch in vernünftige Bahnen gelenkt werden, betont er. Er findet es insgesamt gut, dass das BMG eine solche Studie beauftragt hat. Die vorgelegte Studie könne aber seiner Ansicht nur ein erster Aufschlag sein. „Bei dieser wichtigen Frage sollte noch mehr die Nutzerperspektive berücksichtigt werden und die Fragestellung muss neutraler und offener ausgerichtet sein“, so Görres. Hier sei trotz Beteiligung zahlreicher Akteure vor allem die Perspektive der Dienstleister und der Wirtschaft akzentuiert worden.
REFERENZEN:
1. Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums, 28. Juni 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „An der Digitalisierung in der Pflege führt kein Weg vorbei“ – doch die Risiken sind noch zu wenig erforscht - Medscape - 24. Jul 2017.
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