EuGH-Urteil zu Impffolgen: „Klare Indizien“ statt Studienbeweis reichen aus – droht Ärzten nun eine Klagewelle?

Christian Beneker

Interessenkonflikte

19. Juli 2017

Die Vorstellung ist erschreckend: Dass ausgerechnet eine Schutzimpfung zu einer schweren Erkrankung führt. Dieses Erschrecken scheint auch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) geleitet zu haben, als er jüngst sein Produkthaftungsurteil zum Thema Impffolgen fällte. Danach reichen vom Kläger gegenüber dem Hersteller – in diesem Fall Sanofi – vorgebrachte „ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien” zum Zusammenhang der Impfung und der Erkrankung aus, auch wenn die Forschung jenen Zusammenhang weder beweisen noch widerlegen kann [1].

Der Kläger, ein inzwischen gestorbener Franzose, war ein Jahr, nachdem er sich 3-mal gegen Hepatitis B hatte impfen lassen, an Multipler Sklerose (MS) erkrankt. Die französischen Gerichte hatten die Klage abgewiesen, den Fall gleichwohl dem EuGH zur Klärung vorgelegt.

Unter Medizinern trifft das Urteil auf harsche Kritik: Prof. Dr. Thomas Mertens, ärztlicher Direktor des Institutes für Virologie am Universitätsklinikum Ulm, fürchtet, Impfgegner könnten nun auf dieses Urteil als Präzedenzfall zurückgreifen. Es „wird dringend erforderlich sein, kontinuierlich darauf hinzuweisen, dass dieses Urteil keine neue Evidenz schafft, sondern dass ausschließlich die Gewichtung von Indizien ohne Beweiskraft verändert (erhöht) wurde”, betont Mertens in einer Stellungnahme.

„Ein solches Vorgehen verstößt eklatant gegen gute wissenschaftliche Praxis und schadet im speziellen Fall der Akzeptanz einer außerordentlich segensreichen Impfung (sie wird in Deutschland öffentlich empfohlen), die sogar bei entsprechender weltweiter Anwendung das Potenzial hätte, die Hepatitis B auszurotten”, erklärt Mertens.

Auch Dr. Cornelia Betsch, wissenschaftliche Leiterin des Center for Empirical Research in Economics and Behavioral Sciences der Universität Erfurt, warnt: „Wird die Maßgabe aufgegeben, dass eine kausale Verbindung zwischen Impfung und Schadensfall nachgewiesen sein muss, damit es zur Anerkennung kommt, wird willkürlichen Behauptungen Tür und Tor geöffnet.”

 
Ein solches Vorgehen verstößt eklatant gegen gute wissenschaftliche Praxis und schadet im speziellen Fall der Akzeptanz einer außerordentlich segensreichen Impfung. Prof. Dr. Thomas Mertens
 

Was bedeutet die Europäische Rechtsprechung für die Rechtsprechung hierzulande? Müssen impfende Ärzte nun damit rechnen, vor dem Kadi zu landen?

Anteil nicht schwerwiegender Impffolgen in Deutschland steigt an

In Deutschland wurden dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zufolge im Jahr 2014 (das sind die jüngsten Zahlen) genau 3.720 Verdachtsmeldungen von Impfnebenwirkungen gemeldet, 1.146 davon waren schwerwiegende Fälle, so das PEI im Bulletin zur Arzneimittelsicherheit. 12 Menschen starben an den Folgen von Impfungen und 43 behielten einen bleibenden gesundheitlichen Schaden zurück.

„Der Anteil der Meldungen von nicht schwerwiegenden Verdachtsfällen ist 2014 gegenüber den Jahren 2012 und 2013 in allen Altersgruppen im Vergleich weiter angestiegen, während die Zahl der Meldungen zu schwerwiegenden Verdachtsfällen annähernd gleich geblieben ist”, heißt es in dem Bericht des PEI.

8 deutschen Patienten erging es 2014 wie dem Franzosen, der nach seiner Impfung an MS erkrankte. Bei ihnen wurde „im zeitlichen Zusammenhang mit unterschiedlichen Impfungen eine multiple Sklerose (MS) diagnostiziert”, so das PEI. Das Institut sieht dabei aber nur einen zufälligen und keinen kausalen Zusammenhang, da sich aus Studien kein Zusammenhang nachweisen lasse.

 
Entscheidend ist die Kausalität, die der EuGH festgestellt hat. Claus Burgardt
 

Anerkennung von Impfschäden durch die Versorgungsämter der Länder

Die Meldung eines Impfschadens ist die eine Sache, die Anerkennung eine andere. „In Deutschland sind die Versorgungsämter der Länder zuständig für die Anerkennung der Impfschäden”, sagt Brigitte Morgenroth, Sprecherin des PEI. „Denn wer sich impfen lässt, schützt die ganze Gesellschaft – und wird von ihr dann auch versorgt, sollte die Impfung seine Gesundheit geschädigt haben.” Voraussetzung ist, dass nachweislich eine der derzeit von der Ständigen Impfkommission (STIKO) des Robert Koch-Institutes empfohlenen 14 Standardimpfungen für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Erkrankung ausgelöst hat. Hepatitis B gehört dazu.

Allerdings braucht die Versorgung der Opfer von Impffolgen keinen nachgewiesenen Kausalzusammenhang, um den es im EuGH-Urteil ging. Sondern es genügt für die Versorgungsverwaltung, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Kausalität besteht, informiert Claus Burgardt, Fachanwalt für Medizinrecht bei der Bonner Kanzlei Sträter.

Droht eine Klagewelle?

Droht nun in Deutschland bei ähnlichen Fällen eine Klagewelle, wie Betsch und Mertens vermuten? „Es würde mich wundern, wenn nicht”, kommentiert Burgardt. Zwar kann kein deutscher Richter wie die EuGH-Richter die EU-Produkthaftungsrichtlinie zur Beurteilung heranziehen. Denn in Deutschland sind die Medikamente aus dieser Richtlinie ausgeschlossen – sie unterliegen dem Sonderhaftungsrecht nach § 84 Arzneimittelgesetz (AMG).

„Entscheidend ist die Kausalität, die der EuGH festgestellt hat”, betont Burgardt, also der Umstand, dass die Impfung für die Erkrankung verantwortlich sein kann. Jeder Richter, der in Deutschland ähnliche Fälle zu entscheiden habe, könne sich zukünftig bei der Würdigung der Indizien fragen: „Brauche ich eine generelle Kausalität oder genügt es mir, wenn ich für den Einzelfall von der Kausalität überzeugt bin?” Die Chance, dass ihm die Indizien im Einzelfall nun aufgrund der vorliegenden EuGH-Rechtsprechung genügen könnten, dürfte manchem Impfgegner Auftrieb geben.

 
Impfende Ärzte müssen nun noch sorgfältiger aufklären. Claus Burgardt
 

Das bedeutet auch, dass impfende Ärzte sich nun wärmer anziehen müssen, meint Burgardt. „Impfende Ärzte müssen nun noch sorgfältiger aufklären. Wenn laut EuGH eine Impfung Multiple Sklerose auslösen kann, muss der Arzt logischerweise vor der Impfung darüber aufklären. Auch wenn es nicht auf dem Beipackzettel steht. Versäumt er das, könnte er im Zweifel ein Problem bekommen.”

 

Abgelehnte Impfopfer – die potenziellen Kläger

Beim Landschaftsverband Rheinland, der in NRW anstelle des Versorgungsamtes für die Impfopfer sorgt, gingen nach Auskunft des Amtes in den Jahren 2009 bis 2016 genau 127 Anträge auf Versorgung nach Impfschäden ein. Davon wurden 55 bewilligt, 81 abgelehnt und 11 Verfahren liefen zum Zeitpunkt der letzten Zahlenerhebung im März 2017 noch. Bedenkt man, dass der Landschaftsverband Rheinland mit 9,6 Millionen Einwohnern 12% der bundesdeutschen Bevölkerung ausmacht, lässt sich die Zahl der bundesweit abgelehnten Impfopfer und damit die Zahl der potenziellen Kläger grob abschätzen.



REFERENZEN:

1. Urteil des Europäischen Gerichtshofs, Rechtssache C-621/15, 17. Juni 2017

Kommentar

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