Berlin – Eine Prophylaxe mit dem monoklonalen Antikörper Emicizumab senkt bei Patienten mit Hämophilie A und Antikörpern gegen Faktor VIII (Inhibitoren) die Blutungsrate um 87% – dies im Vergleich zu Patienten ohne diese Prophylaxe. Dies ergab die offene Phase-3-Studie HAVEN1, deren Ergebnisse Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Institut für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin der Universität Bonn, beim Jahreskongress der International Society on Thrombosis and Hemostasis (ISTH) in Berlin vorgestellt hat [1]. Parallel wurde sie im New England Journal of Medicine publiziert [2].

Prof. Dr. Johannes Oldenburg
„Diese starke Reduktion der Blutungen und der hohe Prozentsatz von Patienten ohne Blutungen ist ein optimaler Outcome der Behandlung“, so Oldenburg in einem Interview der ISTH. „Niedrigere Blutungsrate bedeutet niedrigeres Risiko von Arthropathien, niedrigeres Risiko von Gelenkzerstörung und sehr viel mehr Möglichkeiten, an den Aktivitäten des täglichen Lebens teilzunehmen.“

Prof. Dr. H. Marijke van den Berg
Allerdings gebe es eine Unverträglichkeit zwischen hochdosiertem aktiviertem Prothrombin-Komplex und Emicizumab, die man kennen müsse. Hierfür gäbe es inzwischen entsprechende Risiko-Managementpläne. 3 Fälle von thrombotischer Mikroangiopathie und 2 thrombotische Ereignisse bezeichnete Prof. Dr. H. Marijke van den Berg, Universitätsklinik Utrecht, in ihrer Kenneth M. Brinkhous Memorial Lecture beim ISTH 2017 als „ganz neue Ereignisse für unsere Community“. Sie ordnete diese Nebenwirkungen als „besorgniserregend“ ein.
In einem begleitenden Editorial im New England Journal of Medicine bezeichnete Prof. Dr. David Lillicrap, Abteilung für Pathologie und Molekulare Medizin, Queen’s Universität, Kingston, Kanada, die Ergebnisse der HAVEN1-Studie als extrem wichtig [3]. Auch er weist darauf hin, dass die gleichzeitige wiederholte Gabe von Emicizumab und hochdosiertem aktiviertem Prothrombin-Komplex vermieden werden sollte. Sein Fazit: „Die Einführung von Emicizumab repräsentiert einen wichtigen Beitrag, um einen verbesserten Therapiestandard für diese lebenslang zu behandelnde Blutkrankheit zu erreichen.“
Prophylaxe ist entscheidend
Bei Personen mit Hämophilie A ist die Blutgerinnung bekanntlich aufgrund eines fehlenden oder funktionsgestörten Gerinnungsfaktors VIII (FVIII) gestört. Ursache ist eine Mutation im FVIII-Gen, das auf dem X-Chromosom liegt. Daher erkranken fast ausschließlich Jungen an einer Hämophilie A. Die Erkrankung tritt bei etwa einer von 6.000 Geburten eines Jungen auf.
Im Deutschen Hämophilieregister des Paul-Ehrlich-Instituts sind mit Stand vom Mai 2017 2.209 Patienten mit schwerer Hämophilie A (FVIII/FIX-Restaktivität < 1%), 473 Patienten mit mittelschwerer Hämophilie A (FVIII/FIX-Restaktivität 1-5%) und 628 Patienten mit leichter Hämophilie A (FVIII/FIX-Restaktivität 5 - < 40%) gemeldet. Wichtigstes Ziel der Therapie ist es, Blutungen und deren Folgen wie Arthrose und Gehbehinderungen aufgrund von Gelenkblutungen zu vermeiden. „Die früh einsetzende Prophylaxe ist bei Patienten mit Hämophilie entscheidend“, betonte van den Berg.
Therapie der Wahl ist derzeit die intravenöse Substitution von Faktor VIII 2- bis 3-mal in der Woche. Im Lauf der Zeit kommt es jedoch zur Entwicklung von neutralisierenden Antikörpern (FVIII-Inhibitoren), die diese Substitutionsbehandlung unwirksam machen. In diesen Fällen erhalten die Patienten eine episodische oder prophylaktische Gabe von Bypass-Medikamenten wie Faktor VIIa oder aktivierten Prothrombinkomplex. „Ihre Wirksamkeit ist jedoch suboptimal und beide Optionen erfordern häufige intravenöse Infusionen, was von einem adäquaten venösen Zugang abhängig ist“, so Oldenburg im NEJM.
Antikörper als neue Option
Emicizumab ist ein monoklonaler humaner bispezifischer Antikörper, der eine Brücke zwischen Faktor IX und X bildet und damit die Funktion von fehlendem Faktor VIII wiederherstellt. Aufgrund seiner Struktur kann erwartet werden, dass Emicizumab durch Faktor-VIII-Inhibitoren nicht beeinflusst wird und auch ihre weitere Bildung nicht induziert. Die Halbwertszeit liegt bei 5 Wochen. Dies erlaubt es, sehr stabile Blutspiegel einzustellen. In einer kleinen Phase-1-Studie ergaben sich keine dosislimitierenden Toxizitäten mit wöchentlicher subkutaner Gabe. Die Blutungsrate wurde bei den Patienten mit Hämophilie A mit und ohne Inhibitoren deutlich reduziert.
Oldenburg und seine Kollegen untersuchten Wirksamkeit, Pharmakokinetik und Verträglichkeit von Emicizumab in der offenen multizentrischen Phase-3-Studie HAVEN1 bei Patienten mit Hämophilie und Inhibitoren in 43 Zentren in 14 Ländern. In die Studie wurden 109 männliche Patienten mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren (12-75 Jahren) aufgenommen, die in der Mehrzahl an schwerer Hämophilie A litten und einen hohen Titer an Faktor-VIII-Antikörper-Inhibitor aufwiesen. Sie wurden episodisch oder prophylaktisch mit Bypass-Substanzen behandelt.
Episodisch mit Bypass-Medikamenten behandelte Patienten erhielten randomisiert Emicizumab (Arm A, n = 35) oder keine Prophylaxe (Arm B, n = 18). 49 Patienten, die prophylaktisch Bypass-Medikamente erhalten hatten, wurden in Arm C ebenfalls mit Emicizumab behandelt. In Arm D wurden 7 Patienten mit Emicizumab behandelt, die nicht in eine der anderen Gruppen eingeschlossen werden konnten.
Blutungsrate in der Emicizumab-Gruppe sank um 87 Prozent
Der primäre Endpunkt – ein signifikanter Unterschied in der Rate behandelter Blutungsereignisse (Blutungsrate) über mindestens 24 Wochen zwischen Gruppe A und B – wurde erreicht. Nach einer medianen Beobachtungszeit von 29,5 Wochen war die Blutungsrate in der Emicizumab-Gruppe um 87% niedriger im Vergleich zur Kontrollgruppe von einer jährlichen Blutungsrate von 23,3 auf 2,9 (p < 0,0001). Ohne prophylaktische Therapie wiesen nur 5,6% der Patienten keine Blutungsereignisse auf, während es bei Prophylaxe mit dem Antikörper 62,9% waren. Auch in allen sekundären Endpunkten wie Reduktion der Anzahl an Gesamtblutungen, an behandelten Spontanblutungen, Gelenkblutungen und Zielgelenkblutungen war Emicizumab signifikant überlegen.
Schwere unerwünschte Wirkungen traten bei 8,7% der Patienten auf. Auffallend waren 3 Fälle von thrombotischer Mikroangiopathie und 2 thrombotische Ereignisse. In allen 5 Fällen waren die Patienten mit hohen kumulativen Dosen von Prothrombin-Komplex wegen Durchbruchsblutungen behandelt worden. Oldenburg und seine Kollegen vermuten, dass die gleichzeitige Gabe von Emicizumab und aktiviertem Prothrombin-Komplex mit einem erhöhten Risiko für toxische Wirkungen assoziiert ist. Dies könnte den Nutzen von Bypass-Medikamenten bei blutenden Patienten unter Emicizumab-Prophylaxe einschränken.
Es wurden keine gegen Emicizumab gerichteten Antikörper nachgewiesen. Bei 2 Teilnehmern fielen jedoch die Emicizumab-Spiegel über die Zeit so ab, dass dies auf die Entwicklung von Antikörpern hindeuten könnte. Eine längere Nachbeobachtung könnte hierzu weitere Erkenntnisse bringen.
Auf dem Weg zur Heilung?
Van den Berg stellte weitere Entwicklungen zur Behandlung der Hämophilie vor. Mit Fitusiran befindet sich eine RNA-Interferenz(RNAi)-Therapie in klinischer Entwicklung, von der Ergebnisse einer Phase-1-Studie beim ITSH2017 vorgestellt und parallel im New England Journal of Medicine publiziert wurden. Fitusiran greift an der Antithrombin-Messenger-RNA an und unterdrückt damit die Antithrombinproduktion in der Leber.
Eine einmal monatliche subkutane Injektion führte bei 4 gesunden Freiwilligen und bei 25 Patienten mit moderater bis schwerer Hämophilie ohne Inhibitoren zu einer dosisabhängigen Senkung der Antithrombinspiegel und zu einer vermehrten Thrombinbildung.
Mit Concizumab befindet sich ein weiterer gegen Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI) gerichteter Antikörper in der klinischen Prüfung, der bei subkutaner Gabe prokoagulatorisch wirkt.
Große Hoffnungen verknüpft van den Berg mit der Gentherapie. Verschiedene Projekte mit Faktor IX und Faktor VIII sind angelaufen. Bisher vorliegende Ergebnisse mit der Gentherapie beurteilt sie als so viel versprechend, dass sie der Meinung ist, dass mit diesen neuen Therapien die Blutungsrate als primärer Endpunkt nicht mehr eingesetzt werden kann.
Van den Berg wies in ihrer Lecture weiter darauf hin, dass derzeit vor allem die Bewohner der reicheren Länder Zugang zu den kostenintensiven Medikamenten zur Prophylaxe hätten. Das Humanitarian Aid Program der World Federation of Hemophilia (WFH) kanalisiert deshalb die Verteilung von Blutgerinnungsfaktor-Präparaten. Denn „die prophylaktische Therapie sollte allen Patienten mit schwerer Hämophilie angeboten werden“.
REFERENZEN:
1. Jahreskongress der International Society on Thrombosis and Hemostasis 2017, 8. bis 13. Juli 2017, Berlin
2. Oldenburg J, et al: NEJM (online) 10. Juli 2017
3. Lillicrap D: NEJM (online) 10 Juli 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Neue Option zur Blutungsprophylaxe bei Hämophilie A mit Inhibitoren: Antikörper Emicizumab überzeugt in Phase 3 - Medscape - 18. Jul 2017.
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