Eine Elektroakupunktur der Lumbosakralregion reduziert bei Frauen mit Belastungsinkontinenz erfolgreich den Urinverlust, berichten chinesische Forscher im Journal of the American Medical Association [1]. In einer randomisierten Studie mit 500 Frauen führte eine Elektroakupunktur über 6 Wochen im Vergleich zu einer Schein-Akupunktur zu einer statistisch signifikanten Verringerung des Urinverlustes um 9,9 g.

Prof. Dr. Daniela Schultz-Lampel

Dr. Thomas Ots
„Die Studie zeigt, dass eine Elektroakupunktur bei Belastungsinkontinenz effektiv ist“, kommentiert Prof. Dr. Daniela Schultz-Lampel, Direktorin des Kontinenzzentrums Südwest am Schwarzwald-Baar-Klinikum in Villingen-Schwenningen, im Gespräch mit Medscape. „Ob der Effekt der Behandlung für den einzelnen Patienten klinisch relevant ist, lässt sich allerdings schwer an der Grammzahl des Urinverlustes erkennen. Gerade bei Inkontinenzstudien ist es wichtig, immer Fragebögen zur Lebensqualität mitlaufen zu lassen“, schränkt sie ein.
Dr. Thomas Ots, der seit 20 Jahren als niedergelassener Arzt im Bereich Akupunktur, TCM und Psychosomatik tätig ist, betont: „Es handelt sich hier um eine sehr minimalistische Grundlagenstudie, da nur 2 Punkte gereizt wurden.“ In der Praxis würde man weitere Punkte dazunehmen, erklärt er. „Dann wäre der Therapieerfolg wohl deutlich höher ausgefallen“, ist er sich sicher.
Reizung von 2 Akupunkturpunkten – oder ein Stück daneben
Die chinesischen Ärzte um Dr. Zhishun Liu vom Guang’an Men Hospital der China Academy of Chinese Medical Sciences in Peking, China, akupunktierten bei den Frauen 3-mal in der Woche einen Punkt in der Lumbalregion, der auf die Blase abzielt, und einen Punkt im Bereich des Kreuzbeines, der auf den Beckenboden abzielt – jeweils auf beiden Körperseiten. Die Schein-Akupunktur fand jeweils 2 cm neben den auf den Meridianen liegenden Akupunkturpunkten statt, ohne dass dabei in die Haut eingestochen wurde.
Die Elektroakupunktur unterscheidet sich von der klassischen Akupunktur durch den Einsatz von Nadeln, die zusätzlich mit geringem elektrischem Strom stimuliert werden.
Vor der Behandlung betrug der durchschnittliche Urinverlust in der Elektroakupunktur-Gruppe 18,4 g und in der Scheinakupunktur-Gruppe 19,1 g. Innerhalb von 72 Stunden hatten die Frauen in der Elektroakupunktur-Gruppe ausgangs 7,9 Inkontinenz-Episoden, diejenigen in der Scheinakupunktur-Gruppe 7,7.
Nach 6 Wochen Behandlung hatte der Urinverlust in der Elektroakupunktur-Gruppe um 9,9 g und in der Scheinakupunktur-Gruppe um 2,6 g abgenommen. „Der Effekt der Elektroakupunktur hielt nach der Behandlung über 24 Wochen an“, berichten Liu und seine Kollegen.
Teils weniger Inkontinenzepisoden
In einigen Zeiträumen zeigte sich eine Wirkung der Elektroakupunktur auf die Zahl der Inkontinenz-Episoden innerhalb von 72 Stunden. In den Wochen 1 bis 6 hatten die Frauen im Schnitt 1,0 Inkontinenz-Episoden weniger als in die Frauen in der Scheinakupunktur-Gruppe, in den Wochen 15 bis 18 waren es 2,0 Episoden weniger und in den Wochen 27 bis 30 waren es 2,1 Episoden weniger.
Die Inzidenz von – meist leichten – Nebenwirkungen war gering und in den beiden Gruppen vergleichbar.
Vergleichbar mit Beckenbodentraining
Der Therapieeffekt der Elektroakupunktur entspricht den Autoren zufolge dem, was auch mit klassischem Beckenbodentraining – der verbreitetsten Therapie bei Belastungsinkontinenz – erreicht wird. „Studien ergaben nach 8 Wochen Beckenbodentraining eine Reduktion des Urinverlustes um 5,1 g und nach 12 Wochen eine Reduktion um 8,9 Gramm“, berichtet das Team um Liu. Eine Reduktion des Urinverlustes um mindestens 50% sei in diesen Studien als klinische Verbesserung angesehen worden.
„In unserer Studie reduzierte sich der Urinverlust bei 64,6% der Patientinnen in der Elektroakupunktur-Gruppe um 50% oder mehr“, so die Autoren. Dies zeige, dass die Elektroakupunktur einen klinisch relevanten Nutzen im Hinblick auf die Verringerung des Urinverlustes habe.
Eine Therapieoption mehr
Angesichts des vergleichbaren Effektes wie Beckenbodentraining oder auch Duloxetin – der medikamentösen Therapieoption bei Belastungsinkontinenz – „reiht sich die Akupunktur bei Belastungsinkontinenz als weitere Therapieoption in die Riege konservativer bzw. minimal invasiver Verfahren ein“, resümiert Schultz-Lampel, die bei der Deutschen Gesellschaft für Urologie dem Arbeitskreis Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau vorsitzt.
„Gerade im gynäkologisch-urologischen Raum können mit Akupunktur große Therapieerfolge erzielt werden“, betont Ots, der die Methode in Zusammenarbeit mit den Universitätskliniken für Gynäkologie und Urologie in Graz, Österreich, selbst gerade bei Frauen mit chronisch rezidivierenden Harnwegsinfekten erforscht.
Scheinbehandlung mit Wirkung
„Die klassische chinesische Akupunkturtheorie geht davon aus, dass es keine Wirkung hat, wenn man 2 cm neben dem Meridian sticht. Das ist in den letzten Jahren durch den Westen, vor allem durch deutsche Akupunkteure, widerlegt worden“, erläutert Ots, der für die Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur (DÄGfA) als Dozent tätig ist. Inzwischen wisse man, dass es kaum einen Unterschied mache, wo akupunktiert werde, solange man sich noch innerhalb der richtigen Segmente befinde. Für den gynäkologisch-urologischen Raum sind das die Segmente Th10 bis L2.
„Deshalb ist in der Studie der Unterschied zwischen Elektroakupunktur und Scheinakupunktur nicht sehr groß. Es ist auch wichtig zu wissen, dass es sich nicht um ein Placebo handelt, sondern einfach um eine schlechtere Akupunktur, zumal die Nadeln nur leicht die Haut berührt haben“ erklärt Ots. Das einzige mögliche Placebo in der Akupunktur sei „ein Laser, der nicht angeschaltet ist und der die Haut nicht berührt. Aber eigentlich sollten die Vergleiche mit einer Scheinakupunktur obsolet sein. Wichtiger wäre ein Vergleich mit einer anderen bewährten Therapie.“
REFERENZEN:
1. Liu Z, et al: JAMA 2017;317(24):2493-2501
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: So gut wie Beckenbodentraining: Elektroakupunktur reduziert Urinverlust bei Belastungsinkontinenz - Medscape - 17. Jul 2017.
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