Dicke Welt: Die Zahl der Übergewichtigen hat sich – auch in vielen Entwicklungsländern – in 35 Jahren verdoppelt

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

13. Juli 2017

Immer mehr Erwachsene und Kinder bringen deutlich zu viel Gewicht auf die Waage und kämpfen mit den gesundheitlichen Folgen von Adipositas. In den letzten 35 Jahren hat sich die Prävalenz in mehr als 70 Ländern verdoppelt – so lautet die erschreckende Erkenntnis des Global Burden of Disease (GBD) Obesity Reports mit Daten von insgesamt 68,5 Millionen Männern, Frauen und Kindern aus 195 Ländern. Der Bericht zur Entwicklung und weltweiten Verteilung von Übergewicht und Adipositas sowie zu Mortalität und Krankheitslast infolge eines hohen Body-Mass-Index (BMI) wurde im New England Journal of Medicine veröffentlicht [1].

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass sowohl die Prävalenz als auch die Krankheitslast eines erhöhten BMI ansteigen“, resümiert das internationale Studienkollektiv unter der Leitung von Dr. Christopher J. L. Murray vom Institute for Health Metrics and Evaluation der University of Washington, USA. Bedenklich sei, dass in vielen Ländern die Übergewichtsrate unter Kindern noch stärker zunehme als unter Erwachsenen, fügen die Autoren der von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung gesponserten Studie an.

Prof. Dr. Hans Hauner

„Der Report brachte das zutage, was wir im Grunde schon ahnten – Adipositas nimmt weltweit zu“, sagt Prof. Dr. Hans Hauner, Leiter des Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin an der TU München, im Gespräch mit Medscape. „Das ist kein Wunder, denn wir sind Tag und Nacht von Kalorien umgeben. Durch diese ständige Verfügbarkeit werden die Menschen, die sich zudem immer weniger bewegen, zum Essen verführt“, so seine Erfahrung.

Adipositas-Problem in Entwicklungsländern neu

Während die westliche Welt schon lange mit dem Problem Adipositas kämpfe, sei das Auftreten in Ländern wie China, Indien oder Bangladesch infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs und des stark erhöhten Fast-Food-Konsums verhältnismäßig neu und auch bei Kindern immer mehr verbreitet, erklärt Hauner.

Prof. Dr. Matthias Blüher

Auch Prof. Dr. Matthias Blüher, Leiter der Adipositas-Ambulanz für Erwachsene an der Klinik und Poliklinik für Endokrinologie und Nephrologie der Universitätsmedizin Leipzig, zeigt sich angesichts der Erkenntnisse des Reports beunruhigt: „Das Adipositas-Problem erstreckt sich mittlerweile über die ganze Welt und macht insbesondere Ländern zu schaffen, die schlechter auf die Folgeerkrankungen vorbereitet sind, etwa durch limitierten Zugang zu Gelenksprothesen“, erklärt er gegenüber Medscape.

„Unsere Erkenntnisse indizieren, dass das Problem nicht einfach auf hohes Einkommen oder Reichtum zurückführbar ist“, bemerken die Autoren. Vielmehr haben sehr energiereiche Lebensmittel und deren aggressive Vermarktung sowie immer weniger Bewegung – ein Trend, der mit der zunehmenden Urbanisierung einhergehe – erheblichen Einfluss auf die Adipositas-Epidemie, vermuten sie.

 
Unsere Ergebnisse zeigen, dass sowohl die Prävalenz als auch die Krankheitslast eines erhöhten BMI ansteigen. Dr. Christopher J. L. Murray und Kollegen
 

12 Prozent der Erwachsenen und 5 Prozent der Kinder extrem übergewichtig

Die systematische Analyse der Trends von Übergewicht (BMI 25 bis 29) und Adipositas (BMI ≥ 30) von 1980 bis 2015 brachte zutage, dass weltweit 2015 geschätzt 108 Millionen Kinder (unter 20 Jahren) und 604 Millionen Erwachsene adipös waren. Dies entspricht einer Prävalenz von 5% bei Kindern und 12% bei Erwachsenen.

Generell waren in allen Altersgruppen mehr Frauen als Männer adipös. Die höchste Prävalenz von Adipositas war in der Altersklasse 60 bis 64 Jahre bei den Frauen, bei den Männern in der Altersklasse 50 bis 54 Jahre.

Der Report liefere eine „entmutigende Erinnerung daran, dass sich die globale Adipositas-Epidemie verschlimmert“, bilanziert Dr. Edward W. Gregg vom National Center for Disease Prevention and Health Promotion der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, USA, in einem Editorial zum GBD Obesity-Report [2].

Deutschland: Adipositas bei Kindern stark zugenommen

Die Zahlen für Deutschland waren laut GBD-Report:

  • Im Jahr 1980 waren 48% der Männer und 26% der Frauen übergewichtig.

  • Der Anteil der Übergewichtigen war 35 Jahre später nahezu identisch.

  • 8,5% der Männer und 11% der Frauen waren 1980 adipös.

  • Adipositas nahm sowohl bei Männern (19%) als auch bei Frauen (22,5%) in 2015 deutlich zu.

  • Bei Kindern (2 bis 19 Jahre) hat Übergewicht leicht zugenommen: 1980 14,5% (Jungen) bzw. 11% (Mädchen) auf 18% (Jungen) bzw. 14,5% (Mädchen) im Jahr 2015.

  • Die Zahl der adipösen Kinder hat sich dagegen von 1980 bis 2015 in etwa verdoppelt: bei Jungen von 2,9% auf 6%, bei Mädchen von 2,75% auf 5,1%.

Entgegen der Studienergebnisse zeigten die Schuleingangsuntersuchungen keinen Trend zu mehr übergewichtigen Kindern, bemerkt Hauner. Bei älteren Jungen und Mädchen nehme das Übergewichtsproblem jedoch zu. „Jugendliche essen immer mehr Fast Food und hören auf, Sport zu treiben“, erklärt Hauner den Trend.

 
Durch die ständige Verfügbarkeit werden die Menschen, die sich zudem immer weniger bewegen, zum Essen verführt. Prof. Dr. Hans Hauner
 

Bei den Erwachsenen stagniere die Zahl der Übergewichtigen, nicht jedoch die der Adipösen, was auch der GBD-Report zu Tage brachte. „In Deutschland werden nicht mehr Menschen übergewichtig, sondern diejenigen, die übergewichtig sind, werden immer dicker“, stellt der Ernährungsexperte fest. Insbesondere immer mehr junge Frauen werden immer dicker.

Als „besonders besorgniserregend“ bezeichnet Gregg die „Verdreifachung der Adipositas bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Entwicklungs- und Schwellenländern wie China, Brasilien oder Indonesien“. Wer Adipositas früh im Leben entwickle, laufe Gefahr, sowohl Typ-2-Diabetes als auch Bluthochdruck und chronische Nierenerkrankungen zu entwickeln, wodurch die Morbiditätslast ins mittlere Alter nach vorne verschoben werde, fügt er an.

Adipositas fordert Millionen Todesopfer

Infolge eines zu hohen BMI starben zwischen 1990 und 2015 rund 4 Millionen Menschen weltweit; mehr als 3 Viertel davon aufgrund kardiovaskulärer Erkrankungen. Zwar habe die Krankheitslast infolge eines zu hohen BMI seit 1990 weltweit zugenommen; die Geschwindigkeit dieser Zunahme konnte jedoch in den vergangenen Jahren gedrosselt werden. Das sei vor allem möglich gewesen, da mittlerweile relativ betrachtet weniger Menschen infolge kardiovaskulärer Erkrankungen sterben als noch vor 25 Jahren – auch, da Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder erhöhte Cholesterinwerte immer besser behandelt werden.

 
Das Adipositas-Problem erstreckt sich mittlerweile über die ganze Welt und macht insbesondere Ländern zu schaffen, die schlechter auf die Folgeerkrankungen vorbereitet sind. Prof. Dr. Matthias Blüher
 

Diese Entwicklung bezeichnet Editorialist Gregg als ermutigend: „Der Rückgang indiziert, dass adipöse Menschen heute gesünder sind und länger leben als früher, aufgrund von besserer Versorgung und besserem Risikofaktor-Management.“

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind aber immer noch mit 70% für die meisten Todesfälle aufgrund eines erhöhten BMI verantwortlich: Im Untersuchungszeitraum starben 2,7 Millionen Menschen mit erhöhtem BMI aufgrund einer kardiovaskulären Erkrankung. 0,6 Millionen Menschen starben aufgrund von Diabetes, der zweithäufigsten Todesursache übergewichtiger und adipöser Menschen.

Hinsichtlich der Krankheitslast, die ein erhöhter BMI nach sich zieht, liegt Diabetes vorne, gefolgt von Erkrankungen des Bewegungsapparates sowie kardiovaskulären Erkrankungen. „Ein BMI von über 40 verkürzt das Leben im Schnitt um 4 bis 12 Jahre und bedeutet schwere Einschränkungen in der Lebensqualität“, sagt Hauner. Am besten vor Wohlstandskrankheiten geschützt seien Menschen mit einem BMI von 20 bis 25 – das zeigten Untersuchungen immer wieder, fügt er an.

Maßnahmen, um Adipositas zu stoppen

Wissenschaftler haben in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Maßnahmen postuliert, um die Adipositas-Welle zu stoppen. Die Autoren nennen u.a. eine Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung für ungesunde Lebensmittel, eine Verbesserung des Schulessens, die Besteuerung ungesunder Lebensmittel, etwa zuckerhaltiger Getränke (was die WHO und Foodwatch seit Jahren weltweit fordern) sowie die Subvention gesunder Lebensmittel und deren Anbau.

 
In Deutschland werden nicht mehr Menschen übergewichtig, sondern diejenigen, die übergewichtig sind, werden immer dicker. Prof. Dr. Hans Hauner
 

„In Deutschland ist dahingehend sehr wenig passiert – es gibt keine abgestimmte Kampagne“, kritisiert Ernährungsexperte Hauner. Andere Länder seien weiter. Einige Beispiele:

  • In England sind Maßnahmen zu gesundem Schulessen oder mehr Bewegung für Schulkinder initiiert worden.

  • In Mexiko werden zuckerhaltige Getränke seit 2014 besteuert – mit Erfolg. Der sehr hohe Konsum ist seither um 6% gesunken.

  • In Frankreich sind Limonaden ebenfalls teurer.

  • Großbritannien plant eine Besteuerung ab 2018.

„Wir wissen, dass eine Selbstverpflichtung der Industrie nutzlos ist – daher muss die Politik regulatorisch eingreifen“, sagt Hauner. Zudem gelte es, mehr Bewegung in den Alltag der Menschen einzubauen: „beispielsweise Radwege ausbauen und mehr Sport an Schulen anbieten“, schlägt er vor.

Übergewicht gilt nicht als Krankheit

Eine weitere Hürde im Kampf gegen überflüssige Pfunde sei die fehlende Erstattung von Therapieleistungen gegen Adipositas, erklärt Endokrinologe Blüher gegenüber Medscape. „Adipositas wird in Deutschland wie in vielen anderen Ländern nicht als Erkrankung anerkannt, sondern als Lebensstilproblem betrachtet – daher werden Behandlungen meist nicht erstattet“, moniert der Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft und 2. Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Diabetes, Sport & Bewegung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).

 
Ein BMI von über 40 verkürzt das Leben im Schnitt um 4 bis 12 Jahre und bedeutet schwere Einschränkungen in der Lebensqualität. Prof. Dr. Hans Hauner
 

Um die Zahl der Adipositas-Patienten zu reduzieren, seien Maßnahmen auf 3 Ebenen notwendig:

  • Ein „nationaler Aktionsplan Adipositas“ auf politischer Ebene, der etwa eine Besteuerung zuckerhaltiger und eine Vergünstigung gesunder Lebensmittel sowie ein Werbeverbot für ungesunde Lebensstil enthalte. Aktuell lehnt das Bundesernährungsministerium eine Besteuerung ungesunder Lebensmittel ab.

  • Auf gesellschaftlicher Ebene: Kampagnen gegen Übergewicht und für mehr Bewegung, besonders für Kinder und Jugendliche.

  • Zugang zu Therapiemöglichkeiten für Patienten und, damit verbunden, die Anerkennung von Adipositas als Krankheit.

Zudem müsse mehr in die Forschung rund um Übergewicht und Adipositas investiert werden, ergänzt Blüher, um den Mechanismen hinter der Volkskrankheit und damit auch möglichen Therapieansätzen auf die Spur zu kommen. „Bisher gibt es gegen Adipositas fast keine Medikamente, auch, weil wir die Ursachen noch nicht ganz verstehen.“

 
Wir wissen, dass eine Selbstverpflichtung der Industrie nutzlos ist – daher muss die Politik regulatorisch eingreifen. Prof. Dr. Hans Hauner
 

Der GBD-Report könne einen Anstoß geben sowohl für intensivere Ursachenforschung als auch für politisches Eingreifen, hofft Blüher.



REFERENZEN:

1. Murray CJL, et al: NEJM 2017;377:13-27

2. Gregg EW, et al: NEJM 2017;377:80-81

Kommentar

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