Epigenetische Krebsmedikamente gibt es seit fast 20 Jahren. Ihre Wirkung entfalten die Arzneien aber womöglich auf ganz andere Weise als bislang gedacht. Das zeigt eine Studie von Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg, die im Fachblatt Nature Genetics veröffentlicht worden ist [1].

Dr. Stefan Stricker
„Das ist eine hochinteressante Studie, in der zum ersten Mal untersucht wurde, wie epigenetische Krebsmedikamente ihre Wirkung entfalten“, kommentiert Dr. Stefan Stricker, Leiter der Gruppe Epigenetic Engineering am Institut für Stammzellforschung (ISF) des Helmholtz Zentrums München und Teil des Munich Center for Neurosciences an der Ludwig-Maximilians-Universität, gegenüber Medscape.
„Die Ergebnisse stellen die ursprüngliche Vorstellung von der epigenetischen Krebstherapie ziemlich stark in Frage“, so Stricker. Bisher habe man geglaubt, die entarteten Zellen würden durch epigenetische Medikamente wieder in ihren Normalzustand zurückversetzt. „Nun hat sich herausgestellt, dass sie sie in einen völlig anderen Zustand versetzen“, sagt Stricker.
Mit dem neu gewonnenen Wissen hofft das Team um Prof. Dr. Christoph Plass von der Abteilung Epigenomik und Krebsrisikofaktoren am DKFZ, die epigenetische Therapie künftig noch effizienter einsetzen zu können. Zudem sollen mehr Krebspatienten als bisher, etwa auch solche mit soliden Tumoren, von ihr profitieren.
Epigenetische Wirkstoffe gehen wie ein Rasenmäher über die DNA
Bislang waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass epigenetische Krebsmedikamente wie etwa Decitabin oder Azacitidin, die zurzeit insbesondere bei Leukämien und malignen Lymphomen zum Einsatz kommen, in den entarteten Zellen Tumorsuppressorgene reaktivieren. Diese waren durch chemische Veränderungen an der DNA inaktiv geworden.

Prof. Dr. Christoph Plass
„Man stellte sich das so vor, dass die Medikamente diese Veränderungen, sogenannte epigenetische Markierungen, beseitigen und damit die Gene wieder anschalten“, erläutert Plass im Gespräch mit Medscape. „Allerdings gehen die Wirkstoffe wie ein Rasenmäher über die DNA und entfernen praktisch alle Markierungen.“ Niemand habe bislang im Detail überprüft, welche Konsequenzen dies für die Tumorzelle habe.
In den behandelten Zellen entstanden unzählige mysteriöse Genabschriften
Plass und sein Team sind dieser Frage nun gemeinsam mit US-Kollegen nachgegangen. Hierzu führten sie eine Reihe von Versuchen mit Leukämie- und Lungenkrebs-Zelllinien aus, die sie mit DNA-Methyltransferase-Inhibitoren (DNMTi) sowie mit Histon-Deacetylase-Inhibitoren (HDACi) behandelten. Mithilfe von genomweiten Analysen fanden die Forscher anschließend heraus, dass in den Zellen – unabhängig von der Art des eingesetzten Wirkstoffs – epigenetisch abgeschaltete Gene tatsächlich wieder angeschaltet wurden.
„Darunter waren allerdings auch einige kryptische Gene, wodurch unzählige mysteriöse Genabschriften entstanden“, sagt Plass. Eine eingehendere Untersuchung konnte zeigen, dass die aktivierten regulatorischen Elemente von Viren abstammen, die sich vor langer Zeit ins Erbgut eingebaut haben. Im Laufe der Evolution wurden sie offenbar stillgelegt und somit zu normalen DNA-Bestandteilen.
Die gemachten Beobachtungen kamen für die Forscher sehr unerwartet: „Das ist das totale Chaos in den behandelten Tumorzellen – damit hatten wir nicht gerechnet“, wird Plass’ Mitarbeiter David Brocks, einer der Erstautoren der Studie, in einer Pressemitteilung des DKFZ zitiert. Die Forscher vermuten, dass womöglich das Chaos in den Zellen diese abtötet – oder aber dass die behandelten Zellen aufgrund der ungewöhnlichen Genabschriften vom Immunsystem besser erkannt und somit bekämpft werden können.
Die gefundenen Proteine eignen sich womöglich auch als Biomarker
„Natürlich gilt es nun zu untersuchen, ob sich der von uns beobachtete Effekt gezielt für eine Verbesserung der Therapie ausnutzen lässt“, sagt Plass. Zudem sei es denkbar, dass sich die gefundenen Genabschriften als Biomarker eignen könnten, anhand derer sich herausfinden lasse, ob eine epigenetische Therapie bei einem bestimmten Patienten sinnvoll sei oder nicht. Auch das wolle man nun in weiteren Experimenten überprüfen.

Prof. Dr. Michael Lübbert
„Ein solcher Biomarker wäre für uns Kliniker äußerst hilfreich“, sagt der ebenfalls an der Studie beteiligte Hämatologe und internistische Onkologe Prof. Dr. Michael Lübbert, Oberarzt an der Klinik für Innere Medizin I (Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation) des Universitätsklinikums Freiburg, im Gespräch mit Medscape. Man wisse, dass nur etwa die Hälfte der Blutkrebspatienten auf eine epigenetische Therapie anspreche. „Und bislang müssen wir diese Behandlung mindestens 4 bis 6 Monate lang anwenden“, sagt Lübbert. Erst dann lasse sich mit Sicherheit sagen, ob eine Krankheitskontrolle oder gar Blutbildnormalisierung erzielt werde. Bisher ist allein ein früher Anstieg der Blutplättchen ein etablierter Biomarker für ein späteres Anschlagen der Therapie.
Kombinationsstudien mit Lungenkrebspatienten sind jetzt in Planung
Lübbert hofft zudem, dass künftig mehr Patienten von der epigenetischen Krebstherapie profitieren als bisher. „Jetzt, wo wir ein gutes Verständnis vom Wirkmechanismus dieser Behandlungsform haben, können wir Kombinationsstudien beispielsweise auch beim Lungenkarzinom planen“, sagt er.
Der Mediziner denkt dabei nicht nur an die Kombination von epigenetischer und Chemo- oder Immuntherapie. „Mein Traum wäre es, durch eine Vorbehandlung mit epigenetischen Wirkstoffen gute Behandlungsergebnisse auch mit biologisch aktiven, nicht toxischen Substanzen wie beispielsweise einem Vitamin-A-Derivat zu erzielen“, sagt er. Hiervon könnten besonders ältere Patienten profitieren, für die eine aggressive Therapie nicht mehr in Frage komme.
REFERENZEN:
1. Brocks D, et al: Nature Genetics 2017;49:1052-1060
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Diesen Artikel so zitieren: Epigenetische Krebstherapie: Überraschende Erkenntnisse könnten Therapie verbessern und zu neuen Biomarkern führen - Medscape - 12. Jul 2017.
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