Musiktherapien bei neurologischen Erkrankungen erfahren – vor allem in Fachkreisen – oft nur wenig Anerkennung. Doch in den letzten Jahrzehnten hat eine Fülle randomisiert-kontrollierter Studien gezeigt, dass an musikbasierten Interventionen bei Schlaganfall, Demenz, Parkinson, Multipler Sklerose und Epilepsie viel mehr dran ist als gedacht.
„Das Potenzial von Musiktherapien bei neurologischen Erkrankungen wird oft unterschätzt“, bestätigt Prof. Dr. Georg Ebersbach, Chefarzt des Neurologischen Fachkrankenhauses für Bewegungsstörungen/Parkinson in Beelitz-Heilstätten, gegenüber Medscape. Viele Ärzte sähen in Musiktherapien mehr ein „Kurprogramm auf einer Ebene mit Fangopackungen“ als eine ernstzunehmende Therapie.
Eine große Übersichtsarbeit in Lancet Neurology könnte dies ändern. Wissenschaftler der Universität Helsinki um den Hirnforscher Dr. Aleksi J. Sihvonen geben darin einen Überblick über die aktuelle und durchaus vielversprechende Evidenz zu Musiktherapien bei neurologischen Erkrankungen [1].
Musiktherapien bei Schlaganfall: Beste Evidenz
Die stärkste Evidenz für die Wirksamkeit musikbasierter Interventionen existiert für Schlaganfall. Insgesamt 16 randomisiert-kontrollierte Studien (RCTs), in denen Musiktherapien als Ergänzung zur Standardtherapie untersucht wurden, zeigen Effekte auf motorische Symptome, Aphasie, kognitive und emotionale Defizite, neuropsychiatrische Symptome, Stimmung und Lebensqualität.
Zur Rehabilitation der Gehfähigkeit werden vorwiegend 2 Arten von Musiktherapie eingesetzt: Bei der rhythmisch auditorischen Stimulation wird der Takt durch ein Metronom, ein Schlaginstrument, rhythmisches Klatschen oder über Musik vorgegeben. Der Patient synchronisiert seine Bewegungen mit dem Rhythmus. Bei musikgestützten Therapien spielen die Patienten auf Musikinstrumenten, etwa Trommeln oder einem Keyboard, wodurch die Grob- und Feinmotorik der Arme und Hände trainiert wird.
Die rhythmisch auditorische Stimulation wurde in 4 RCTs untersucht. „In allen 4 Studien verbesserte die Intervention verschiedene Gangparameter mehr als ein Gehtraining ohne musikalische Unterstützung“, berichten die Autoren um Sihvonen. Verbesserungen waren nach 3 bis 6 Wochen rhythmisch auditorischer Stimulation zu beobachten: z.B. bei der Gehgeschwindigkeit, der Schrittlänge, der Dauer des Fußkontakts mit dem Boden, dem Takt und der Symmetrie der Schritte.
Musizieren wirkt bei Armlähmungen und Gesang bei Aphasie
Das Musizieren auf Instrumenten trug in 5 RCTs zu einer wirksamen Rehabilitation bei Armlähmungen bei. Über 3 Wochen verbesserten die musikgestützten Interventionen die motorischen Fähigkeiten im gelähmten Arm mehr als eine konventionelle Physiotherapie.
Außerdem waren bei den musizierenden Patienten eine verbesserte kortikale Konnektivität und eine erhöhte Aktivierung des motorischen Kortex zu beobachten. Dass die Effekte tatsächlich auch mit der Musik zusammenhingen – und nicht vorwiegend durch die Bewegung zustande kamen – zeigten Tests mit stummen Instrumenten.
Knapp ein Drittel der Schlaganfall-Patienten hat mit Aphasie zu kämpfen. Die Melodische Intonationstherapie ist eine Form der Musiktherapie, die Gesang zur Behandlung von Patienten mit Aphasien einsetzt. Diese Therapieform verbesserte in 2 RCTs die alltägliche Kommunikation der Patienten und auch die Fähigkeit, Objekte zu benennen, signifikant stärker als andere Sprachtherapien.
Bessere Stimmung und Kognition mit Lieblingsmusik
Etwa die Hälfte der Patienten mit Schlaganfall weist Defizite bei kognitiven Funktionen auf oder leidet an Stimmungsproblemen, etwa Depressionen. Sie profitieren der Übersichtsarbeit zufolge ebenfalls von Musiktherapien.
In einer Studie hörten die Patienten jeden Tag eine Stunde lang ihre Lieblingsmusik, was messbar zur kognitiven Genesung beitrug. Selbst nach einem 6-monatigen Follow-up schnitten die Patienten, die ihrer Lieblingsmusik gelauscht hatten, bei Verbalgedächtnis und Aufmerksamkeit noch besser ab als Patienten ohne musikbasierte Intervention – aber auch besser als diejenigen, die sich Hörbücher angehört hatten. Im Vergleich zur Standardtherapie war Musikhören außerdem mit weniger Depression und Verwirrung assoziiert.
Musiktherapien bei Demenz
Bislang haben 17 RCTs die Auswirkungen von Musiktherapien bei Menschen mit Demenz untersucht. In 4 Studien verbesserte eine Kombination aus Musikhören und Erinnerungs- und Aufmerksamkeitstraining die kognitive Leistungsfähigkeit (Mini Mental Status Test) von Demenzpatienten. Verbesserungen durch musikbasierte Interventionen werden außerdem auf den Gebieten Aufmerksamkeit und exekutive Funktionen, Orientierung und Verbalgedächtnis berichtet.
In einer Studie verbesserte gemeinsames Singen das Kurzzeit- und das Arbeitsgedächtnis von Patienten mit leichter Demenz. Eine Intervention mit Musik und gemeinsamem Kochen bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Demenz hatte dagegen keinen Effekt.
Wirkung nur bei leichter Demenz?
„Dass ein kognitiver Nutzen von Musik nur in den frühen Stadien der Demenz zu beobachten ist, könnte mit der größeren noch vorhandenen kognitiven Reserve, der Nutzung alternativer neuronaler Netzwerke und kognitiven Strategien zum Umgang mit der fortschreitenden Pathologie zusammenhängen“, schreiben die Autoren.
Studien zeigen, dass Musiktherapien bei Menschen mit Demenz auch neuropsychiatrische Symptome lindern können, etwa Ängste und Agitiertheit. Doch in diesem Bereich sind die Ergebnisse nicht eindeutig, denn es gibt auch Studien, die keine Effekte auf Ängste und Agitiertheit fanden. Auch im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit der Effekte gibt es Unterschiede, in einigen Studien hielten sie nur wenige Wochen an, in anderen bis zu 2 Monate.
Die Lebensqualität wurde in 3 RCTs untersucht. Auch sie kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen – von keinem Effekt durch Musiktherapien bis hin zu einer substanziellen Zunahme der Lebensqualität.
Sihvonen und seine Kollegen spekulieren, dass der Effekt von Musikinterventionen bei Demenz möglicherweise durch das Wohlbefinden und die emotionale Sicherheit, die die vertraute Musik vermitteln, ausgelöst werden könnte. Dies könnte Verwirrung und Orientierungslosigkeit zeitweise lindern, da sich die Aufmerksamkeit der Patienten auf den vertrauten Reiz konzentriere und nicht auf die ansonsten so verwirrende Umwelt. Dieser Effekt ließe sich durch die Verwendung von Kopfhörern möglicherweise verstärken, so die Autoren.
Musiktherapien bei Parkinson
Die Wirkung von Musiktherapien auf Parkinsonsymptome wurde in 5 RCTs untersucht. Am häufigsten kamen musikunterstützte Bewegungstherapien zum Einsatz. Den konsistentesten und klinisch bedeutsamsten Effekt auf motorische Symptome hatte das Tanzen.
In einer Gruppe von Parkinson-Patienten verbesserten regelmäßiger Tango, Walzer und Foxtrott das Gleichgewicht, den 6-Minuten-Gehtest und die Rückwärts-Schrittlänge im Vergleich zur Standardtherapie. Aber auch mit einem zur Musik synchronisierten Gehtraining ließen sich Therapieerfolge erzielen: verbesserte Geschwindigkeit, Schrittzeit und Takt.
Den Tango zu tanzen scheint dabei effektiver zu sein als etwa Walzer, Foxtrott und Tai-Chi-Übungen. Von derartigen Vergleichen rät Ebersbach jedoch ab: „Die Verfahren wurden nicht ausreichend gegeneinander getestet, um derartige Wertungen vorzunehmen. Es gibt robuste Ergebnisse, die zeigen, dass Tanzen und rhythmisches Gehtraining bei Parkinson sinnvoll sind, doch feine Differenzierungen zwischen den Methoden erlaubt die Evidenz nicht.“
Und auch Sihvonen und seine Kollegen betonen: „Die Stichprobengrößen dieser Studien waren meist klein. Die Evidenz deutet darauf hin, dass Tanzen und musikbasierte Interventionen, bei denen die Bewegungen synchron zur Musik ablaufen, helfen können, die motorische Leistung bei Parkinson länger aufrecht zu erhalten.“ Doch: Wie lange diese Effekte anhalten, lasse sich aufgrund der durchgehend zu kurzen Follow-up-Zeiträume der Studien nicht sagen.
Anders als etwa Physio- oder Sprechtherapie lässt sich Musiktherapie übrigens nicht einfach verschreiben: „Es gibt kein strukturiertes Programm, in dem diese Therapieverfahren angeboten werden“, berichtet Ebersbach. Oft sind es Patientenverbände und Selbsthilfegruppen, die Tanzgruppen organisieren, einige Kliniken haben entsprechende Angebote im Therapieprogramm.
Ebersbach geht auch nicht davon aus, dass – insbesondere was das Tanzen anbelangt – künftig strukturierte Angebote entstehen werden, für die man „ein Rezept ausschreiben kann“. Vielmehr seien die positiven Studienergebnisse Anregungen für Seniorensportgruppen, Seniorenzentren oder Selbsthilfegruppen, entsprechende Angebote zu organisieren.
Musiktherapien bei Multipler Sklerose?
Bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) wurden Musiktherapien erst in 2 kleinen RCTs untersucht. „Die Ergebnisse der beiden Studien fielen unterschiedlich aus, und nur in einer der Studien wurde die Intervention von einem Musiktherapeuten geleitet“, schreiben Sihvonen und seine Kollegen.
Die Studie ohne Musiktherapeuten untersuchte, welchen Effekt Keyboard-Spielen bei 19 Patienten mit MS auf die Funktion der Hände hat. Verglichen wurde normales Keyboard-Spielen mit dem Spielen auf einem stumm geschalteten Keyboard. Das hörbare Spielen auf dem Keyboard verbesserte die Funktionalität der Hände signifikant.
In einer Studie mit 10 MS-Patienten mit Gehproblemen führte rhythmisch auditorische Stimulation, angewendet durch einen Musiktherapeuten, zu gewissen Verbesserungen.
„Die Ergebnisse musikbasierter Interventionen bei MS-Patienten sind dürftig und erlauben keine definitiven Schlussfolgerungen zum rehabilitativen Effekt“, schreiben die Autoren um Sihvonen.
Musiktherapien bei Epilepsie könnten Anfälle reduzieren
Epileptische Anfälle entstehen durch eine anomale Synchronisation der elektrischen Aktivität des Gehirns. Eine Studie testete die Hypothese, dass strukturierte auditorische Reize zu einer nicht-invasiven exzitatorischen Stimulation des Kortex führen könnten, wodurch sich die anfallsauslösende Aktivität reduzieren lassen könnte.
Den Patienten wurde ein Jahr lang jede Nacht in regelmäßigen Intervallen Musik von Mozart vorgespielt. Dies führte zu einer signifikanten Abnahme der Anfallshäufigkeit um 17% während des Studienzeitraumes. Auch im Folgejahr – ohne Mozart – war die Anfallshäufigkeit noch um 16% reduziert.
„Es gibt keine weiteren RCTs mit erwachsenen Patienten“, berichten Sihvonen und seine Kollegen. „Doch in einer jüngst veröffentlichte Metaanalyse von 12 Studien mit pädiatrischen und erwachsenen Patienten sprachen 85% der Patienten günstig auf Musik an – mit einer durchschnittlichen Reduktion der epileptischen Aktivität zwischen den Anfällen um 31%.“ Doch es seien weitere Studien notwendig, da nur 2 dieser Untersuchungen eine Kontrollgruppe gehabt hätten.
Wie wirkt Musiktherapie bei neurologischen Erkrankungen?
Auch zu den Mechanismen, die der Wirksamkeit von Musiktherapien bei neurologischen Erkrankungen zugrunde liegen könnten, haben sich Sihvonen und sein Team Gedanken gemacht bzw. die vorhandene Literatur durchforstet. Eine wichtige Rolle spielen demnach neuronale Aktivierung und Neuroplastizität.
„Bildgebungsstudien zeigen, dass Musik zu einer großflächigen Aktivierung verschiedener neuronaler Netzwerke im Gehirn führt“, so die Autoren. Die dementsprechend erhöhte Durchblutung dieser Bereiche könnte die Genesung generell begünstigen.
Da musikbasierte Rehabilitationsmaßnahmen in vielerlei Hinsicht dem normalen Üben beim Erlernen eines Musikinstrumentes entsprächen, sei es, so die Autoren, nur plausibel, dass die Maßnahmen zu vergleichbaren strukturellen und funktionellen neuroplastischen Veränderungen führten. Die spezifischen zellulären Mechanismen der musikinduzierten Neuroplastizität seien allerdings unbekannt.
Musik als externer Taktgeber bei Parkinson?
Ebersbach erklärt einen weiteren möglichen Mechanismus, der vor allem bei Patienten mit Parkinson zum Tragen kommen könnte: Bei ihnen fallen mit Fortschreiten der Erkrankung interne Taktgeber in den subkortikalen Zentren, die für automatisierte Bewegungen wie Sprechen, Schlucken und Gehen zuständig sind, zunehmend aus. „Die Patienten müssen sich sehr konzentrieren, um diese Bewegungen noch korrekt auszuführen, tun sie dies nicht, geht die Bewegungskontrolle verloren, sie bleiben beim Laufen stecken oder sprechen nur noch verwaschen und leise“, berichtet der Neurologe.
Das Fehlen eines internen Taktgebers lässt sich durch den Einsatz äußerer Impulse korrigieren. „Beim rhythmischen Gehtraining ersetzt man z.B. die rhythmischen Reize, die normalerweise in den Basalganglien generiert werden, durch äußere Reize wie Metronom, Musik oder Klatschen.“ Dies führt auch über das eigentliche Training hinaus zu einer Stabilisierung des internen Rhythmus: „Übertragungseffekte von der Trainingssituation in den Alltag sind in Studien belegt“, so Ebersbach.
Ebenfalls bedeutsam für die Wirksamkeit von Musiktherapien ist, dass „kreative, künstlerische Tätigkeiten über andere Netzwerke gesteuert werden als die die zweckgerichtete Alltagsmotorik“, wie Ebersbach erläutert. „Ein gutes Beispiel für diesen Mechanismus ist der Fall eines professionellen Sängers, der durch Parkinson eine schwere Sprachstörung entwickelt hat und nur noch sehr leise und undeutlich spricht, aber immer noch in der Lage ist, brillant Lieder zu schmettern.“ Ähnliches sei oft bei Parkinson-Patienten zu beobachten, die in ihrer Bewegung sehr gehemmt und verlangsamt seien, aber dennoch sehr gut tanzen könnten.
Ein weiterer möglicher Wirkmechanismus von Musiktherapien ist Sihvonen und seinen Kollegen zufolge eine Aktivierung des dopaminergen mesolimbischen Systems, also des Belohnungssystems des Gehirnes. Bei gesunden Menschen zeigte sich, dass eine intensive emotionale Reaktion auf Musik zu einer erhöhten Dopamin-Sekretion führt. „Erhöhte extrazelluläre Dopamin-Level könnten die kognitiv-emotionalen Auswirkungen von Musik bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen teilweise erklären“, so die Autoren.
Reicht die Evidenz?
Sihvonen und seine Kollegen betonen, dass vieles für die Wirksamkeit von Musiktherapien bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen spreche. Sie betonen aber auch die Notwendigkeit weiterer und vor allem größerer Studien mit längerer Nachbeobachtung.
„Die Studienlage entspricht noch nicht dem, was man sich wünschen würde“, bestätigt Ebersbach. In größeren Studien müsse zum Beispiel noch geklärt werden, in welcher Dosis und über welche Dauer Musiktherapien angewendet werden sollten und welche Therapien bei welchen Störungen am wirksamsten sind.
„Doch die aktuelle Evidenz ist bereits ein Argument dafür, Musiktherapien schon jetzt anzuwenden und nicht zu warten, bis die ganzen großen Studien kommen - die aufgrund der schwierigen Finanzierung vielleicht noch lange auf sich warten lassen werden“, so Ebersbach.
REFERENZEN:
1. Sihvonen AJ, et al: Lancet Neurology (online) 26. Juni 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Großer Review zu Musiktherapie bei Schlaganfall, Demenz und Parkinson: „Ernstzunehmende Therapie, kein Kurprogramm“ - Medscape - 11. Jul 2017.
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