Heidelberg – Es klingt wie eine Utopie: Ein Strategieplan, um Darmkrebs zu eliminieren. „How to eliminate Colon Cancer. A Road Map“ lautete der Titel eines internationalen Workshops am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Doch die rund 300 Wissenschaftler, die sich für 2 Tage dort trafen, sind alles andere als Utopisten.
Ihr Ziel ist es tatsächlich, die aktuellen Erkenntnisse zusammenzutragen und daraus ein Konzept zu entwickeln, das es ermöglicht, Darmkrebs langfristig auszumerzen. Es handelt sich um eine gemeinsame Initiative des Netzwerks gegen Darmkrebs, des DKFZ, des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT), des Universitätsklinikums Heidelberg und der Felix Burda Stiftung.
Derzeit noch 26.000 Darmkrebs-Tote jährlich
Derzeit sind wir allerdings noch weit von dem Ziel entfernt: 60.000 Menschen erkranken jedes Jahr in Deutschland neu an Darmkrebs; 26 000 sterben daran. Doch bietet gerade dieser Tumor ideale Ansatzpunkte für eine „echte Vorsorge“. Schon seit dem Jahr 2002 ist die Koloskopie für alle ab dem 55. Lebensjahr Kassenleistung.
„Bei Diagnose in einem frühen Stadium liegen die Heilungschancen (beim Kolonkarzinom) zwischenzeitlich bei über 90 Prozent“, so Prof. Dr. Hermann Brenner, Leiter der Abteilung Klinische Epidemiologie und Alternsforschung im DKFZ und kommissarischer Leiter der Abteilung Präventive Onkologie am NCT. Außerdem können bekanntlich bei der Koloskopie Polypen und Krebsvorstufen, aus denen sich der Tumor in der Regel nur sehr langsam entwickelt, gleich mit entfernt werden.
Wie Brenner sagte, sind nach Hochrechnungen bereits in den ersten 10 Jahren der Vorsorge-Koloskopie in Deutschland bei über 4 Millionen Teilnehmern etwa 180.000 Darmkrebsfälle verhindert worden, indem Krebsvorstufen entdeckt und entfernt wurden. Weitere 40.000 Krebserkrankungen seien in einem – meist noch heilbaren – frühen Stadium erkannt worden. Tatsächlich sind die Erkrankungs- und Sterberaten an Darmkrebs in den letzten 2 Jahrzehnten um etwa 20% zurückgegangen.
Das bekannte Manko: Nur etwa 30% der Versicherten nehmen das Recht auf die Darmkrebsvorsorge wahr. Die Darmkrebsmortalität könnte um weitere 40% reduziert werden, betonte Brenner, wenn die Vorsorge-Angebote konsequenter genutzt würden. Er kritisierte, dass in Deutschland vieles langsamer umgesetzt wird als in anderen Ländern, so habe es der G-BA z.B. bis heute nicht geschafft, das Einladungsverfahren für die Darmkrebsvorsorge einzuführen, obwohl dies bereits seit 2013 beschlossen ist und bis 2016 umgesetzt sein sollte.
Vorbildliches Holland: Stuhltest mit 70% Rücklaufquote
Als positives Vorbild gilt Holland. Dort erhielten 850.000 Bürger im Alter über 55 Jahre persönliche Einladungen, denen ein immunchemischer Stuhltest plus frankierter Rückumschlag beilag. Rücklaufquote im ersten Jahr nach Einführung: 70%. Prof. Dr. Ernst J. Kuipers und sein Team von der Erasmus Universität Rotterdam, die die holländische Initiative verantworten, erhielten dafür den Felix-Burda-Award 2017.
In Deutschland, wo rund 20 Millionen Menschen für das Kolonkarzinom-Screening qualifiziert wären, würden solche Einladungsschreiben, Tests und Laboranalysen rund 350 Millionen Euro für 5 Jahre kosten, sagte Prof. Dr. Christof von Kalle, Geschäftsführender Direktor am NCT. Sie hätten aber das Potenzial bis zu 500.000 Leben zu retten – eine im Vergleich zu vielen anderen gesundheitspolitischen Maßnahmen hervorragende Kosten-Nutzen-Relation, betonte er.
Screening ab 55 erfasst nicht die steigende Zahl junger Darmkrebs-Kranker
Allerdings: Das Koloskopie-Screening ist erst ab dem 55. Lebensjahr Kassenleistung. Und gerade die Zahl der jüngeren Darmkrebs-Patienten steigt besonders stark. Laut Robert Koch-Institut (RKI) hat sich die Rate der Neuerkrankungen bei den 20- bis 34-Jährigen von 1995 bis 2013 um 168% erhöht. Dr. Christa Maar, Vorstand der Felix-Burda-Stiftung und Präsidentin des Netzwerks gegen Darmkrebs e.V., verlor vor 15 Jahren ihren damals erst 33-jährigen Sohn durch Darmkrebs. Sie verwies darauf, dass derzeit rund 11% der Neuerkrankungen Menschen unter 50 Jahre betreffen. Und etwa jeder 2. Erkrankte hat ein familiäres Risiko. Auf dieses gelte es stärker zu achten.
Leitlinien-Empfehlung ist, dass Menschen mit familiärem Risiko schon in jüngeren Jahren am Screening teilnehmen sollten: 10 Jahre vor dem Diagnosealter des jüngsten erkrankten Familienmitglieds oder spätestens ab dem 40. bis 45. Lebensjahr. Ihre Forderung: „Die Möglichkeit, Vorsorge gemäß der wissenschaftlichen Leitlinie durchzuführen, muss gesetzliche Leistung für diese Risikogruppen werden.“ Und an die Ärzte appellierte sie, auch bei jungen Menschen wachsam zu sein: „Symptome, die nicht eindeutig für Hämorrhoiden sprechen, sollten Sie unbedingt durch eine Darmspiegelung abklären lassen!“
Gentests – oft schwierig zu interpretieren
Können Gentest helfen, besonders Gefährdete zu erkennen? Tatsächlich ist das familiäre Clustering beim kolorektalen Karzinom hoch, bei etwa jedem 3. Patienten findet sich eine familiäre Disposition, erläuterte Prof. Dr. Richard C. Boland, University of California, San Diego, auf der Veranstaltung. Allerdings finden sich nur bei wenigen dieser Patienten tatsächlich Keimbahn-Mutationen mit hoher Penetranz.
Empfohlen wird daher derzeit nur die Testung auf ein Lynch-Syndrom, das aber nur etwa 3% der Fälle mit kolorektalem Karzinom ausmacht. Zwar gebe es Gentests-Panels, die auf eine Reihe von Kandidaten-Genen testeten, sagte Boland, aufgrund von inkompletter Penetranz, Heterogenität (mehr als ein Gen ist für ein Syndrom verantwortlich) und Pleitropien (ein Gen bedingt mehr als einen Phänotyp) seien die Ergebnisse solcher Test aber oft schwierig zu interpretieren – und auch deren klinische Konsequenzen unsicher.
Zuverlässige Bluttests werden kommen – aber wann?
Für diejenigen Patienten, die die Koloskopie ablehnen, ist der neue genauere immunologische Stuhltest eine „Einstiegsoption“ und in Deutschland seit 1. April Kassenleistung ( Medscape berichtete ). Noch besser wären blut-basierte Analysesysteme ähnlich dem PSA-Test beim Prostatakarzinom, von denen es bereits einige gibt, wie Prof. Dr. Thomas Seufferlein, Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Ulm, informierte. Dazu gehören Genexpressionspanel aus mononukleären weißen Blutzellen, die Analyse von zirkulierender Tumor-DNA und ihrer epigenetischen Modifikationen, die Analyse von Nukleosomen, die Aktivität von NK-Zellen oder von tumorspezifischen Glykanen.
Die Sensitivität dieser Tests für kolorektale Karzinome beträgt 70 bis 80%, die Spezifität liegt bei 50 bis 90%. „Die Tests sind allerdings noch sehr ungenau, wenn es um die Detektion von Vorstufen, den fortgeschrittenen Adenomen, geht“, räumte Seufferlein ein. Er erwartet aber schon bald Verbesserungen der Testsysteme: „Es ist zu erwarten, dass es valide Blut- oder Urintests für die Früherkennung von Darmkrebs in den nächsten Jahren geben wird.“ Bei einem positiven Testergebnis bleibt es dann allerdings als Nachfolge-Maßnahme doch bei der Koloskopie.
Chancen der Prävention: Vom Triclosan-Bann über das Mikrobiom bis zur antientzündlichen Ernährung Beim kolorektalen Karzinom bieten sich auch viele Chancen der Primärprävention. Diese auszuloten, daran arbeiten derzeit zahlreiche wissenschaftliche Arbeitsgruppen. Interessant ist dies vor allem, weil das kolorektale Karzinom in seiner Häufigkeit nach geographischer Region variiert. Dabei nimmt die Inzidenz mit dem ökonomischen Status und dem durchschnittlichen Einkommen in einer Region zu. Das heißt: Darmkrebs ist quasi eine Zivilisationskrankheit. So steigt die Inzidenz z.B. in Schwellenländern mit dem Grad der Industrialisierung. Prof. Dr. Martha Shrubsole, Vanderbilt University Medical Center, Nashville, Tennessee, nannte als Beispiel Costa Rica, wo die Darmkrebsraten sehr niedrig waren, aber seit Jahren steigen. Dass dies etwas mit dem Lebensstil – also Umweltfaktoren – zu tun hat, lässt sich daran ableiten, dass sich Immigranten sehr rasch in der Darmkrebs-Häufigkeit an ihre Umgebung angleichen. Einige Lebensstil-Faktoren, die das Darmkrebsrisiko erhöhen, sind bekannt. Shrubsole nannte als Beispiele die Adipositas, das Rauchen, einen hohen Konsum von rotem Fleisch oder eine Ernährung, die einen hohen „inflammatorischen Index“ hat. Andererseits böten aber auch antientzündliche Wirkstoffe wie ASS „eine hochinteressante Möglichkeit der Prävention“. Weitere Ansatzpunkte für die Vorbeugung eröffnet die Mikrobiom-Forschung. Es ist bekannt, dass die Diversität des Mikrobioms bei Patienten mit kolorektalem Karzinom verringert ist, berichtete Prof. Dr. Ami Bhatt, Stanford University School of Medicine. Möglicherweise vermitteln viele Umweltfaktoren ihren Einfluss auf das Darmkrebsrisiko über das Mikrobiom. Faktoren, die die Zusammensetzung der Darmflora verändern können, sind dabei natürlich die Ernährung, aber auch Schwermetalle, Antibiotika oder Desinfektionsmittel in der Umwelt. Bhatt nannte als Beispiel Triclosan. Das Desinfektionsmittel ist nicht nur in Krankenhäusern und Arztpraxen beliebt, es findet sich auch in Zahnpasta, Kosmetikprodukten und sogar Textilien und Matratzen werden damit behandelt. In eigenen Untersuchungen hat Bhatt nachgewiesen, dass durch die Exposition mit Triclosan aber auch z.B. mit Antibiotika ein messbarer „Druck auf das Mikrobiom“ ausgeübt wird. In den USA hat man aus diesen Forschungen bereits Konsequenzen gezogen. Die FDA hat 2016 die Hersteller aufgefordert, ihre Zusammensetzung bei Konsumer-Produkten zu ändern. Ende 2017 dürfen frei verkäufliche Seifen in den USA z.B. kein Triclosan mehr enthalten. Der Bann gilt auch für 17 andere anti-mikrobielle Substanzen. |
REFERENZEN:
1. 3rd International Symposium Innovations in Oncology “How to Eliminate Colon Cancer – a Roadmap”, 26. bis 27. Juni 2017, Heidelberg
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Diesen Artikel so zitieren: „Zivilisationskrankheit“ Darmkrebs – Wissenschaftler erarbeiten einen Strategieplan, um ihn langfristig zu eliminieren - Medscape - 3. Jul 2017.
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