San Diego – Spielen Sulfonylharnstoffe in der zeitgemäßen Behandlung von Typ-2-Diabetes noch eine Rolle? Eine Diskussion zu diesem Thema ist beim Kongress der American Diabetes Association (ADA) 2017 in San Diego auf reges Interesse gestoßen [1].
Vor großer Zuhörerschaft präsentierte Dr. Kamlesh Khunti von der britischen Universität Leicester einen Überblick zur Geschichte der Sulfonylharnstoffe – und ihre Bedeutung in der modernen Diabetestherapie.
Firstline Metformin – und was spricht für Sulfonylharnstoffe in der Second-Line?
Während allgemein Konsens besteht, dass Metformin bei Typ-2-Diabetes das Medikament der 1. Wahl sein sollte, ist umstritten, welche Substanzklassen in der Second-Line genutzt werden sollten, falls Metformin allein nicht mehr zur Blutzuckerkontrolle ausreicht.
„Ich bin nicht der Meinung, dass man Sulfonylharnstoffe komplett über Bord werfen kann. Viele Daten zeigen, dass sie nützlich sind – und vor allem auch bezahlbar“, sagte Khunti nach seinem Vortrag gegenüber Medscape. Es gebe reiche Erfahrungswerte aus der Anwendung, und Risiken und Nutzen seien recht gut untersucht, betonte er.
Betrachte man sehr große Datensätze blieben Sulfonylharnstoffe zwar hinter anderen Typ-2-Antidiabetika zurück, aber trotzdem seien in randomisierten kontrollierten Studien die Ergebnisse in punkto Wirksamkeit, Sicherheit und Stabilität des Blutzuckerspiegels ganz akzeptabel. „Sulfonylharnstoffe haben immer noch einen Stellenwert. (…) Und in Großbritannien werden sie noch häufig angewandt“, fügte er hinzu.
Andererseits: „Wenn die Kosten kein Problem wären, würde sich die Frage nicht stellen“, bemerkte er. Was bedeutet: Wären die Sulfonylharnstoffe nicht so preisgünstig, würde er für die Zweitlinie einen anderen Wirkstoff bevorzugen.
Seit viele neuere Substanzklassen zur Behandlung von Typ-2-Diabetes auf den Markt kämen, würden „einige führende Diabetesexperten die Ansicht vertreten, dass Sulfonylharnstoffe möglicherweise keinen Platz mehr hätten“, berichtete die Vorsitzende des Symposiums, Dr. Neda Rasouli von der Universität Colorado in Aurora, USA, im Gespräch mit Medscape.
„Aber wegen der niedrigen Kosten ist es schwer, sie aufzugeben“, räumte sie ein und fügte hinzu: „Jeder möchte gern sicherstellen, dass eine verwendete Medikation mit wenig Risiken verbunden ist. Wenn jedoch die Kosten nicht relevant wären, würde wahrscheinlich niemand Sulfonylharnstoffe nutzen“, räumte sie ein.
CAROLINA und GRADE werden Therapie-Entscheidung beeinflussen
Wie Khunti beim Kongress sagte, sind die Hauptargumente gegen die Sulfonylharnstoffe deren unerwünschte Wirkungen wie Hypoglykämien und Gewichtszunahme. Zu den immer wieder diskutierten möglichen negativen kardiovaskulären Effekten der Sulfonylharnstoffe seien allerdings die Daten widersprüchlich, merkte Rasouli an. „Was wir brauchen und worauf wir dringend warten, sind direkte Vergleichsstudien“, resümierte Khunti.
Dazu gehört eine Studie zu den kardiovaskulären Effekten des Dipeptidylpeptidase-4(DPP-4)-Inhibitors Linagliptin (Trajenta®, Lilly/Boehringer Ingelheim) im Vergleich zum Sulfonylharnstoff Glimepirid (Cardiovascular Outcome Study of Linagliptin Versus Glimepiride in Patients With Type 2 Diabetes, CAROLINA).
Außerdem verwies er auf eine laufende Studie, die verschiedene Therapiestrategien zur Senkung des Blutzuckers bei Typ-2-Diabetes vergleicht (Glycemia Reduction Approaches in Diabetes, GRADE). GRADE untersucht in direktem Vergleich (head-to-head) 4 gebräuchliche Diabetes-Medikationen, jeweils als Zusatz zu Metformin: den Sulfonylharnstoff Glimepirid, den DPP-4-Hemmstoff Sitagliptin (Januvia®, Merck), den Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1) Rezeptoragonisten Liraglutid (Victoza®, Novo Nordisk) und Insulin glargin. Die Patienten werden über 4 bis 5 Jahre nachverfolgt. „Diese Studie wird uns helfen zu entscheiden, welches die beste Medikation nach Metformin ist“, so Khunti.
Beide Studien werden die Daten zu den primären Studienzielen voraussichtlich bis zum Februar 2019 bzw. bis zum August 2020 gesammelt haben. Ihre Resultate würden für die klinische Praxis wegweisend sein, bestätigte Rasouli.
Sind SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten auch kardioprotektiv?
Nicht berücksichtigt allerdings sind in GRADE die SGLT-2-Hemmer, obwohl einer dieser Wirkstoffe, Empagliflozin (Jardiance®, Boehringer Ingelheim), das 1. Medikament gegen Typ-2-Diabetes war, für das sich ein kardiovaskulärer Schutzeffekt nachweisen ließ, und zwar in der bahnbrechenden EMPA-REG OUTCOME-Studie, die im September 2015 publiziert wurde.
Für 2 GLP-1-Agonisten ließ sich dies inzwischen ebenfalls belegen, für Liraglutid in LEADER und für den Wirkstoff Semaglutid (Novo Nordisk), der sich noch in der klinischen Erprobung befindet, in SUSTAIN-6. Und jetzt aktuell auch in der CANVAS-Studie für Canagliflozin.
„Nun wird es spannend, ob andere SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten ebenfalls kardioprotektiv sind“, lautete Rasoulis Kommentar. „Dann könnte man sie als zweiten Wirkstoff in Betracht ziehen. Aber wenn die Studien das nicht bestätigen, werden für uns wieder die Kosten der Medikation ausschlaggebend sein.“
Wie sie weiterhin erläuterte, hat die ADA erst kürzlich in ihren Leitlinien festgelegt, dass basales Insulin nach Metformin angewandt werden könne. Jedoch herrsche im klinischen Alltag eine gewisse Trägheit und nicht jedem passe es, als Zweittherapie mit Injektionen zu beginnen.
Der Kostenfaktor
Wie bedeutsam die Kosten bei der Therapieentscheidung sind, machte Khunti anhand von Zahlen deutlich: „Weltweit sind 415 Millionen Menschen an Diabetes erkrankt, und 80 Prozent von ihnen leben in Ländern mit geringem bis mittlerem Einkommen.“ Aber selbst in entwickelten Ländern sei der Preis ein wichtiger Aspekt, betonte er.
Die gemeinnützige britische Organisation Diabetes UK z.B. habe mitgeteilt, dass die Kosten der Diabetesbehandlung das Nationale Gesundheitssystem an den Rand des Bankrotts bringen könnten.
Es gebe „massive Unterschiede“ bei den Kosten für die jährliche Versorgung mit Antidiabetika. In den Vereinigten Staaten reiche die Spanne von 96 US-Dollar für Glipizid und 192 US-Dollar für Glyburid – beides Sulfonylharnstoffe – über 1.243 US-Dollar für generisches Metformin bis 5.000 US-Dollar für DPP-4-Inhibitoren und ungefähr 5.400 US-Dollar für SGLT2-Inhibitoren, rechnete er vor.
Nach einer aktuellen Studie würden 31% der Diabetespatienten in den Vereinigten Staaten noch mit Sulfonylharnstoffen behandelt. Und er fügte hinzu, in Europa lägen die Raten sogar noch höher: in Großbritannien zwischen 41 und 45% und in den Niederlanden bei 47%.
Allerdings könne es zwischen den einzelnen Ländern Unterschiede in der Art der verwendeten Sulfonylharnstoffe geben, erläuterte Khunti. „In Großbritannien ist Gliclazid der am häufigsten verordnete Sulfonylharnstoff“, sagte er. Dieses Arzneimittel scheine der ADVANCE-Studie zufolge ein besseres Profil zu haben als andere Sulfonylharnstoffe. „Und im Lauf der Zeit sind wir besser geworden und verwenden eine niedrigere Gliclazid-Dosis“, sagte er. Gliclazid sei in den Vereinigten Staaten nicht verfügbar, merkte Rasouli an, wogegen Glimepirid und Glipizid erhältlich seien.
Für die Patienten die Therapie, die sie sich leisten können
Khuntis Fazit: „Ich habe Ihnen dargelegt, dass die Vorstellungen darüber, ob wir mit Sulfonylharnstoffen behandeln sollten oder nicht, stark auseinandergehen und dass viel davon abhängt, was erschwinglich ist.“
„Wir haben wunderbare Medikamente, aber wir nutzen sie nicht rechtzeitig ... und wir warten bei weitem zu lange, bis wir die Therapie der Patienten intensivieren.“
„Wir sollten die Patienten auf diejenige Therapie einstellen, die wir bieten können, um den HbA1c von der Diagnose an unter Kontrolle zu bringen und ihn so lange wie möglich niedrig zu halten. Diese Therapie, welche auch immer, sollte so sicher wie möglich, verfügbar und für den Patienten erschwinglich sein.“ Auf diese Weise sei die Wahrscheinlichkeit größer, für die Patienten langfristig eine bessere Prognose zu erzielen, erläuterte er.
„Die Wirksamkeit und die anhaltende Stabilisierung der Blutglukosespiegel sind gut. Mit den Sulfonylharnstoffen der zweiten Generation ist das Risiko von Hypoglykämien gering. Wir haben in randomisierten kontrollierten Studien einen Langzeitnutzen festgestellt mit einem reduzierten Risiko von mikro- und bis zu einem gewissen Grad auch makrovaskulären Komplikationen.“
Und Sulfonylharnstoffe seien für 80% der Diabetespatienten erschwinglich, die in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen leben, betonte er nochmals.
Dieser Artikel wurde von Dr. Angela Speth aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. Scientific Sessions der American Diabetes Association (ADA), 9. bis 13. Juni 2017, San Diego/USA
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Money, money, money …: Sulfonylharnstoffe sind nicht passé – und vor allem erschwinglich - Medscape - 29. Jun 2017.
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