Money, money, money …: Sulfonylharnstoffe sind nicht passé – und vor allem erschwinglich

Marlene Busko

Interessenkonflikte

29. Juni 2017

San Diego –  Spielen Sulfonylharnstoffe in der zeitgemäßen Behandlung von Typ-2-Diabetes  noch eine Rolle? Eine Diskussion zu diesem Thema ist beim Kongress der American  Diabetes Association (ADA) 2017 in San Diego auf reges Interesse gestoßen [1].

Vor großer Zuhörerschaft präsentierte Dr. Kamlesh Khunti von der britischen  Universität Leicester einen Überblick zur Geschichte der Sulfonylharnstoffe –  und ihre Bedeutung in der modernen Diabetestherapie.

Firstline  Metformin – und was spricht für Sulfonylharnstoffe in der Second-Line?

Während allgemein Konsens besteht, dass Metformin bei  Typ-2-Diabetes das Medikament der 1. Wahl sein sollte, ist umstritten, welche Substanzklassen  in der Second-Line genutzt werden sollten, falls Metformin allein nicht mehr zur  Blutzuckerkontrolle ausreicht.

„Ich  bin nicht der Meinung, dass man Sulfonylharnstoffe komplett über Bord werfen  kann. Viele Daten zeigen, dass sie nützlich sind – und vor allem auch bezahlbar“,  sagte Khunti nach seinem Vortrag gegenüber Medscape. Es gebe reiche  Erfahrungswerte aus der Anwendung, und Risiken und Nutzen seien recht gut  untersucht, betonte er.

Betrachte man sehr große Datensätze blieben Sulfonylharnstoffe  zwar hinter anderen Typ-2-Antidiabetika zurück, aber trotzdem seien in  randomisierten kontrollierten Studien die Ergebnisse in punkto Wirksamkeit,  Sicherheit und Stabilität des Blutzuckerspiegels ganz akzeptabel.  „Sulfonylharnstoffe haben immer noch einen Stellenwert. (…) Und in  Großbritannien werden sie noch häufig angewandt“, fügte er hinzu.

Andererseits: „Wenn die Kosten kein Problem wären, würde  sich die Frage nicht stellen“, bemerkte er. Was bedeutet: Wären die  Sulfonylharnstoffe nicht so preisgünstig, würde er für die Zweitlinie einen  anderen Wirkstoff bevorzugen.

Seit viele neuere Substanzklassen zur  Behandlung von Typ-2-Diabetes auf den Markt kämen, würden „einige führende  Diabetesexperten die Ansicht vertreten, dass Sulfonylharnstoffe möglicherweise  keinen Platz mehr hätten“, berichtete die Vorsitzende des Symposiums, Dr. Neda Rasouli von der Universität  Colorado in Aurora, USA, im Gespräch mit Medscape.  

„Aber wegen der niedrigen Kosten ist es schwer, sie  aufzugeben“, räumte sie ein und fügte hinzu: „Jeder möchte gern sicherstellen,  dass eine verwendete Medikation mit wenig Risiken verbunden ist. Wenn jedoch die Kosten nicht  relevant wären, würde wahrscheinlich niemand Sulfonylharnstoffe nutzen“,  räumte sie ein.

 
Ich bin nicht der Meinung, dass man Sulfonylharnstoffe komplett über Bord werfen kann. Viele Daten zeigen, dass sie nützlich sind – und vor allem auch bezahlbar. Dr. Kamlesh Khunti
 

CAROLINA und  GRADE werden Therapie-Entscheidung beeinflussen

Wie Khunti beim Kongress sagte, sind die Hauptargumente  gegen die Sulfonylharnstoffe deren unerwünschte Wirkungen wie Hypoglykämien und  Gewichtszunahme. Zu den immer wieder diskutierten möglichen negativen kardiovaskulären  Effekten der Sulfonylharnstoffe seien allerdings die Daten widersprüchlich,  merkte Rasouli an. „Was wir brauchen und worauf wir dringend warten, sind  direkte Vergleichsstudien“, resümierte Khunti.

Dazu gehört eine Studie zu den kardiovaskulären Effekten  des Dipeptidylpeptidase-4(DPP-4)-Inhibitors Linagliptin (Trajenta®, Lilly/Boehringer Ingelheim) im Vergleich zum  Sulfonylharnstoff Glimepirid (Cardiovascular Outcome Study of Linagliptin  Versus Glimepiride in Patients With Type 2 Diabetes,  CAROLINA).

Außerdem verwies er auf eine laufende Studie, die  verschiedene Therapiestrategien zur Senkung des Blutzuckers bei Typ-2-Diabetes vergleicht (Glycemia Reduction Approaches in Diabetes, GRADE).  GRADE untersucht in direktem Vergleich (head-to-head) 4 gebräuchliche  Diabetes-Medikationen, jeweils als Zusatz zu Metformin: den Sulfonylharnstoff  Glimepirid, den DPP-4-Hemmstoff Sitagliptin (Januvia®, Merck), den Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1)  Rezeptoragonisten Liraglutid (Victoza®, Novo Nordisk) und Insulin glargin. Die Patienten werden über 4 bis  5 Jahre nachverfolgt. „Diese Studie wird uns helfen zu entscheiden, welches die  beste Medikation nach Metformin ist“, so Khunti.

Beide Studien werden die Daten zu den primären  Studienzielen voraussichtlich bis zum Februar 2019 bzw. bis zum August 2020  gesammelt haben. Ihre Resultate würden für die klinische Praxis wegweisend  sein, bestätigte Rasouli.

Sind  SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten auch kardioprotektiv?

Nicht berücksichtigt allerdings sind in GRADE die  SGLT-2-Hemmer, obwohl einer dieser Wirkstoffe, Empagliflozin (Jardiance®, Boehringer Ingelheim), das 1. Medikament gegen  Typ-2-Diabetes war, für das sich ein kardiovaskulärer Schutzeffekt nachweisen  ließ, und zwar in der bahnbrechenden EMPA-REG OUTCOME-Studie,  die im September 2015 publiziert wurde.

Für 2 GLP-1-Agonisten ließ sich dies inzwischen ebenfalls  belegen, für Liraglutid in LEADER und für den Wirkstoff Semaglutid (Novo  Nordisk), der sich noch in der klinischen Erprobung befindet, in SUSTAIN-6. Und jetzt aktuell auch in der CANVAS-Studie für  Canagliflozin.

„Nun wird es spannend, ob andere SGLT-2-Inhibitoren und  GLP-1-Rezeptoragonisten ebenfalls kardioprotektiv sind“, lautete Rasoulis  Kommentar. „Dann könnte man sie als zweiten Wirkstoff in Betracht ziehen. Aber wenn  die Studien das nicht bestätigen, werden für uns wieder die Kosten der  Medikation ausschlaggebend sein.“

 
Wenn jedoch die Kosten nicht relevant wären, würde wahrscheinlich niemand Sulfonylharnstoffe nutzen. Dr. Neda Rasouli
 

Wie sie weiterhin erläuterte, hat die ADA erst kürzlich  in ihren Leitlinien festgelegt, dass basales Insulin nach Metformin angewandt  werden könne. Jedoch herrsche im klinischen Alltag eine gewisse Trägheit und  nicht jedem passe es, als Zweittherapie mit Injektionen zu beginnen.

Der Kostenfaktor

Wie bedeutsam die Kosten bei der Therapieentscheidung  sind, machte Khunti anhand von Zahlen deutlich: „Weltweit sind 415 Millionen  Menschen an Diabetes erkrankt, und 80 Prozent von ihnen leben in Ländern mit  geringem bis mittlerem Einkommen.“ Aber selbst in entwickelten Ländern sei der  Preis ein wichtiger Aspekt, betonte er.

Die gemeinnützige britische Organisation Diabetes UK z.B.  habe mitgeteilt, dass die Kosten der Diabetesbehandlung das Nationale  Gesundheitssystem an den Rand des Bankrotts bringen könnten.

Es gebe „massive Unterschiede“ bei den Kosten für die  jährliche Versorgung mit Antidiabetika. In den Vereinigten Staaten reiche die  Spanne von 96 US-Dollar für Glipizid und 192 US-Dollar für Glyburid – beides  Sulfonylharnstoffe – über 1.243 US-Dollar für generisches Metformin bis 5.000 US-Dollar für DPP-4-Inhibitoren und ungefähr 5.400 US-Dollar für  SGLT2-Inhibitoren, rechnete er vor.

Nach einer aktuellen Studie würden 31% der  Diabetespatienten in den Vereinigten Staaten noch mit Sulfonylharnstoffen  behandelt. Und er fügte hinzu, in Europa lägen die Raten sogar noch höher: in  Großbritannien zwischen 41 und 45% und in den Niederlanden bei 47%.

Allerdings könne es zwischen den einzelnen Ländern  Unterschiede in der Art der verwendeten Sulfonylharnstoffe geben, erläuterte  Khunti. „In Großbritannien ist Gliclazid der am häufigsten verordnete  Sulfonylharnstoff“, sagte er. Dieses Arzneimittel scheine der ADVANCE-Studie  zufolge ein besseres Profil zu haben als andere Sulfonylharnstoffe. „Und im  Lauf der Zeit sind wir besser geworden und verwenden eine niedrigere  Gliclazid-Dosis“, sagte er. Gliclazid sei in den Vereinigten Staaten nicht  verfügbar, merkte Rasouli an, wogegen Glimepirid und Glipizid erhältlich seien.

Für die Patienten  die Therapie, die sie sich leisten können

Khuntis Fazit: „Ich habe Ihnen dargelegt, dass die Vorstellungen darüber, ob  wir mit Sulfonylharnstoffen behandeln sollten oder nicht, stark  auseinandergehen und dass viel davon abhängt, was erschwinglich ist.“

 
Die Vorstellungen darüber, ob wir mit Sulfonylharnstoffen behandeln sollten oder nicht, gehen stark auseinander – und viel hängt davon ab, was erschwinglich ist. Dr. Kamlesh Khunti
 

„Wir haben wunderbare Medikamente, aber wir nutzen sie  nicht rechtzeitig ... und wir warten bei weitem zu lange, bis wir die Therapie  der Patienten intensivieren.“
„Wir sollten die Patienten auf diejenige Therapie  einstellen, die wir bieten können, um den HbA1c von der Diagnose an unter  Kontrolle zu bringen und ihn so lange wie möglich niedrig zu halten. Diese  Therapie, welche auch immer, sollte so sicher wie möglich, verfügbar und für  den Patienten erschwinglich sein.“ Auf diese Weise sei die Wahrscheinlichkeit  größer, für die Patienten langfristig eine bessere Prognose zu erzielen,  erläuterte er.

„Die Wirksamkeit und die anhaltende Stabilisierung der Blutglukosespiegel  sind gut. Mit den Sulfonylharnstoffen der zweiten Generation ist das Risiko von  Hypoglykämien gering. Wir haben in randomisierten kontrollierten Studien einen  Langzeitnutzen festgestellt mit einem reduzierten Risiko von mikro- und bis zu  einem gewissen Grad auch makrovaskulären Komplikationen.“

Und Sulfonylharnstoffe seien für 80% der  Diabetespatienten erschwinglich, die in Ländern mit niedrigem bis mittlerem  Einkommen leben, betonte er nochmals.


Dieser Artikel wurde von  Dr. Angela Speth aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.



REFERENZEN:

1. Scientific Sessions der American Diabetes Association (ADA),  9. bis 13. Juni 2017, San Diego/USA

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....