Rehabilitation Querschnittgelähmter: Wie Roboter-assistierte Feedback-Therapie helfen kann, wieder gehen zu lernen

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

28. Juni 2017

Berlin – Eine  Querschnittlähmung muss nicht zwangsläufig bedeuten, sich nur noch mittels  Rollstuhl fortbewegen zu können. Zunehmend können in der Rehabilitation  eingesetzte Exo-Skelette („Geh-Roboter“) dabei helfen, langsam wieder gehen zu  lernen. Über neue Studienergebnisse und mehrjährige Erfahrungen mit einem  solchen System berichtete der Chirurg Prof.  Dr. Thomas A. Schildhauer, Ärztlicher Direktor des  Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil in Bochum, beim  diesjährigen Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit in Berlin [1].

Verkürzte Gehzeit, verlängerte Wegstrecke

Der in Japan  entwickelte HAL-Roboteranzug (die Abkürzung steht für Hybrid Assistive Limb)  gehört als erster Geh-Roboter mit neuronaler Steuerung zur jüngsten Generation  von Exo-Skeletten. Er kam in Bochum innerhalb von rund 5 Jahren bisher bei mehr  als 100 Patienten zum Einsatz. In einer dort durchgeführten und kürzlich im  Fachjournal Neurosurgical Focus veröffentlichten Studie hatten 55 chronisch querschnittgelähmte Patienten 5-mal wöchentlich über 12 Wochen mit dem System trainiert.

Die Ergebnisse:  Nach dem 3-monatigen Trainingszeitraum hatte sich die für einen  10-Meter-Gehtest benötigte Zeit insgesamt um 47% (im Mittel auf etwa 35 Sekunden) verkürzt, die im 6-Minuten-Gehtest zurückgelegte Strecke hatte sich um  50% verlängert. 24 der 55 Patienten (43,6%) waren am Studienende weniger  abhängig von Gehhilfen.

Passive und aktive Exo-Skelett-Systeme

Prinzipiell  bestehen Exo-Skelette aus einem extern am Körper des Trägers montierten Rahmen  mit beweglichen Segmenten seitlich der großen Gelenke. Ihre Bewegungen werden  über mehrere Antriebsaggregate (Motoren) generiert. „Dabei sind passive und  aktive Exo-Skelett-Systeme zu unterscheiden“, erläuterte Schildhauer.

Bei passiven  Systemen löst der Patient zum Beispiel per Druckknopf oder durch eine  Gewichtsverlagerung den Bewegungsmechanismus des Roboters aus. Damit können  auch komplett Querschnittgelähmte ohne jegliche neuromuskuläre Restfunktion  wieder langsam gehen, brauchen aber immer die Hilfe des Roboters dazu.

Aktive exoskelettale Systeme … werden über einen Feedback-Mechanismus an das Nervensystem des Trägers gekoppelt. Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer

Feedback ermöglicht Nervenregeneration und Muskelaufbau

„Im Unterschied  dazu werden aktive exoskelettale Systeme  wie der HAL-Roboteranzug über  einen Feedback-Mechanismus an das Nervensystem des Trägers gekoppelt“,  erklärte der Chirurg. Bei Bewegungsintentionen des Patienten registriert der  Roboter mittels Elektromyografie-Sensoren an den Beinen dort ankommende  Rest-Nervensignale, greift diese auf und ergänzt mit seinem Motormechanismus  die sonst fehlende Kraft, die für die willentliche Bewegung notwendig ist. Die  Muskelbewegung wiederum wird afferent an das Gehirn zurückgemeldet.

Das Besondere  dabei: „Das neuromuskuläre Feedback führt als geschlossenes System zu einer  Nerven-Regeneration, zu neuronalen Neuvernetzungen, aber auch zu einer  Reorganisation von verschiedenen Arealen im Hirn und im Rückenmark, wie wir aus  verschiedenen anderen Studien wissen. Gleichzeitig wird der Muskelaufbau  stimuliert und es kommt zu Erholungseffekten bei den Patienten“, sagte  Schildhauer.

Voraussetzung sei  jedoch immer, dass bei der Rückenmarkverletzung nicht sämtliche  Nervenverbindungen unterbrochen wurden und noch Nervenimpulse in der Muskulatur  der unteren Extremitäten feststellbar sind. Dies treffe, wie Schildhauer im  Gespräch mit Medscape erläuterte, auf  schätzungsweise jeden 3. bis 4. Querschnittverletzten zu. Die Zahl aller  Querschnittgelähmten wird in Deutschland auf etwa 80.000 geschätzt.

Verbesserungen auch noch Jahre nach der Verletzung

Bisher nahm man  an, dass sich Lähmungssymptome bei Querschnittverletzten im Rahmen einer  Rehabilitation nur innerhalb etwa eines Jahres und vorwiegend bei Patienten  jünger als 50 Jahre bessern. Um eventuelle diesbezügliche Einflüsse des  HAL-Systems zu untersuchen, wurden in die Bochumer Studie auch ältere Patienten  aufgenommen, vor allem aber solche, bei denen die Verletzung mehrere (bis zu 22) Jahre zurücklag. „Dabei zeigte sich, dass bei dieser neuesten Generation der Exo-Skelette das  Lebensalter und der Zeitraum nach der Verletzung kein entscheidendes Kriterium  mehr ist“, so Schildhauer.

Letzteres demonstrierte  der Chirurg auf dem Hauptstadtkongress unter anderem mit Videoaufnahmen eines  Patienten, dessen Querschnittverletzung mehr als 5 Jahre zurücklag: Nach dem 3-monatigen  Training im HAL-Roboteranzug konnte dieser ohne Roboterhilfe mit einem  Gehwagen, nach 5 Monaten mit einem Rollator gehen.

Bei dieser neuesten Generation der Exo-Skelette ist das Lebensalter und der Zeitraum nach der Verletzung kein entscheidendes Kriterium mehr. Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer

Einflüsse auf Blasenfunktion, Sensibilität und  Schmerzempfinden

Bei einzelnen  Patienten wurden weitere positive Effekte des Trainings festgestellt, die  Schildhauer zufolge noch nicht alle im Detail erklärt werden können. So habe  eine Patientin nach 9 Monaten wieder spontan Wasser lassen und auf den  Urinkatheter verzichten können. Bei einem anderen sei nach etwas mehr als einem  halben Jahr die Sensibilität in der Hüftregion zurückgekehrt, was für das  Risiko von Druckstellen durch langes Sitzen relevant ist.

„Offenbar beeinflussen durch das  Training ausgelöste neuroplastische Veränderungen im Gehirn auch das  Schmerzempfinden“, so Schildhauer. So habe bei mehreren Patienten eine  Schmerzmedikation reduziert werden können.

Weitere Studie mit akut Querschnittverletzten

Die Bochumer  Forscher untersuchen derzeit in einer weiteren Studie mit 27 Patienten  ebenfalls, inwieweit das neuromuskuläre Feedback-Training Patienten mit einer  akuten Rückenmarkverletzung helfen kann.

Offenbar beeinflussen durch das Training ausgelöste neuroplastische Veränderungen im Gehirn auch das Schmerzempfinden. Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer

„Auch bei diesen  Patienten sehen wir sehr zügige Veränderungen, die wir so nicht erwartet  hätten“, kommentierte Schildhauer. So konnte ein 35-jähriger Patient mit  inkompletter Paraplegie, der 8 Wochen nach dem Trauma mit dem Training begann,  viereinhalb Monate später bereits wieder mit Krücken und eineinhalb Jahre  später sogar wieder völlig ohne Gehhilfen gehen.

Mögliche Option für andere Erkrankungen

„Das neuromuskuläre Roboter-Training kann damit bei allen  akut oder chronisch Querschnittgelähmten in Frage kommen, bei denen mittels Elektromyografie  noch neuromuskuläre Restsignale in der Peripherie ableitbar sind“, resümierte Schildhauer. Chancen bieten sich dem  Experten zufolge jedoch möglicherweise auch für den Einsatz dieses Systems bei  Patienten mit anderen neurologischen und neuromuskulären Erkrankungen wie  Schlaganfall, Multipler Sklerose oder Muskeldystrophien. Dies sei aber noch  weiter zu erforschen.

Die Therapiekosten  für ein 3-monatiges (bei chronischer Querschnittlähmung ambulant durchgeführtes)  Training mit dem HAL-System liegen dem Bochumer Experten zufolge bei 25.000 Euro: „Dies sollte mit den Kosten verglichen werden, die Prothesen oder längere  Krankenhausaufenthalte bei solchen Patienten verursachen, die noch wesentlich  höher sein können.“ In seiner Klinik erfolge die Kostenerstattung durch die  Berufsgenossenschaften.

Außer in Bochum  werde das System in Deutschland u.a. noch in BG-Kliniken in Frankfurt/Main und  Berlin eingesetzt.

Brain-Computer-Interfaces sollen komplett Gelähmten  helfen können

Intensiv  erforschen Wissenschaftler derzeit auch sogenannte Brain-Computer-Interfaces  (BCIs), die es Querschnittgelähmten ohne jegliche verbliebene neuromuskuläre  Restfunktionen ermöglichen sollen, wieder Gehbewegungen zu erlernen. Darüber  berichtete der Spezialist für Neuro-Engineering Prof. Dr. Gordon Cheng von der TU München auf dem Berliner  Hauptstadtkongress. Bei der BCI-Technologie wird  die Hirnaktivität eines Menschen in Steuerungsbefehle übersetzt, mit denen sich  dann etwa ein Exo-Skelett oder Orthesen aktivieren lassen.

Das neuromuskuläre Roboter-Training kommt damit bei allen … Querschnittgelähmten in Frage, bei denen mittels Elektromyografie noch neuromuskuläre Restsignale in der Peripherie ableitbar sind. Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer

Cheng forscht auch  auf dem Gebiet der Sensorik von Robotern. Er entwickelte eine künstliche mit  Sensoren bestückte Roboterhaut, mit der bei Gelähmten verloren gegangenes  Berührungsempfinden kompensiert werden soll.



REFERENZEN:

1. Hauptstadtkongress Medizin  und Gesundheit, 20. bis 22. Juni 2017, Berlin

Kommentar

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