Berlin – Eine Querschnittlähmung muss nicht zwangsläufig bedeuten, sich nur noch mittels Rollstuhl fortbewegen zu können. Zunehmend können in der Rehabilitation eingesetzte Exo-Skelette („Geh-Roboter“) dabei helfen, langsam wieder gehen zu lernen. Über neue Studienergebnisse und mehrjährige Erfahrungen mit einem solchen System berichtete der Chirurg Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer, Ärztlicher Direktor des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil in Bochum, beim diesjährigen Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit in Berlin [1].
Verkürzte Gehzeit, verlängerte Wegstrecke
Der in Japan entwickelte HAL-Roboteranzug (die Abkürzung steht für Hybrid Assistive Limb) gehört als erster Geh-Roboter mit neuronaler Steuerung zur jüngsten Generation von Exo-Skeletten. Er kam in Bochum innerhalb von rund 5 Jahren bisher bei mehr als 100 Patienten zum Einsatz. In einer dort durchgeführten und kürzlich im Fachjournal Neurosurgical Focus veröffentlichten Studie hatten 55 chronisch querschnittgelähmte Patienten 5-mal wöchentlich über 12 Wochen mit dem System trainiert.
Die Ergebnisse: Nach dem 3-monatigen Trainingszeitraum hatte sich die für einen 10-Meter-Gehtest benötigte Zeit insgesamt um 47% (im Mittel auf etwa 35 Sekunden) verkürzt, die im 6-Minuten-Gehtest zurückgelegte Strecke hatte sich um 50% verlängert. 24 der 55 Patienten (43,6%) waren am Studienende weniger abhängig von Gehhilfen.
Passive und aktive Exo-Skelett-Systeme
Prinzipiell bestehen Exo-Skelette aus einem extern am Körper des Trägers montierten Rahmen mit beweglichen Segmenten seitlich der großen Gelenke. Ihre Bewegungen werden über mehrere Antriebsaggregate (Motoren) generiert. „Dabei sind passive und aktive Exo-Skelett-Systeme zu unterscheiden“, erläuterte Schildhauer.
Bei passiven Systemen löst der Patient zum Beispiel per Druckknopf oder durch eine Gewichtsverlagerung den Bewegungsmechanismus des Roboters aus. Damit können auch komplett Querschnittgelähmte ohne jegliche neuromuskuläre Restfunktion wieder langsam gehen, brauchen aber immer die Hilfe des Roboters dazu.
Feedback ermöglicht Nervenregeneration und Muskelaufbau
„Im Unterschied dazu werden aktive exoskelettale Systeme wie der HAL-Roboteranzug über einen Feedback-Mechanismus an das Nervensystem des Trägers gekoppelt“, erklärte der Chirurg. Bei Bewegungsintentionen des Patienten registriert der Roboter mittels Elektromyografie-Sensoren an den Beinen dort ankommende Rest-Nervensignale, greift diese auf und ergänzt mit seinem Motormechanismus die sonst fehlende Kraft, die für die willentliche Bewegung notwendig ist. Die Muskelbewegung wiederum wird afferent an das Gehirn zurückgemeldet.
Das Besondere dabei: „Das neuromuskuläre Feedback führt als geschlossenes System zu einer Nerven-Regeneration, zu neuronalen Neuvernetzungen, aber auch zu einer Reorganisation von verschiedenen Arealen im Hirn und im Rückenmark, wie wir aus verschiedenen anderen Studien wissen. Gleichzeitig wird der Muskelaufbau stimuliert und es kommt zu Erholungseffekten bei den Patienten“, sagte Schildhauer.
Voraussetzung sei jedoch immer, dass bei der Rückenmarkverletzung nicht sämtliche Nervenverbindungen unterbrochen wurden und noch Nervenimpulse in der Muskulatur der unteren Extremitäten feststellbar sind. Dies treffe, wie Schildhauer im Gespräch mit Medscape erläuterte, auf schätzungsweise jeden 3. bis 4. Querschnittverletzten zu. Die Zahl aller Querschnittgelähmten wird in Deutschland auf etwa 80.000 geschätzt.
Verbesserungen auch noch Jahre nach der Verletzung
Bisher nahm man an, dass sich Lähmungssymptome bei Querschnittverletzten im Rahmen einer Rehabilitation nur innerhalb etwa eines Jahres und vorwiegend bei Patienten jünger als 50 Jahre bessern. Um eventuelle diesbezügliche Einflüsse des HAL-Systems zu untersuchen, wurden in die Bochumer Studie auch ältere Patienten aufgenommen, vor allem aber solche, bei denen die Verletzung mehrere (bis zu 22) Jahre zurücklag. „Dabei zeigte sich, dass bei dieser neuesten Generation der Exo-Skelette das Lebensalter und der Zeitraum nach der Verletzung kein entscheidendes Kriterium mehr ist“, so Schildhauer.
Letzteres demonstrierte der Chirurg auf dem Hauptstadtkongress unter anderem mit Videoaufnahmen eines Patienten, dessen Querschnittverletzung mehr als 5 Jahre zurücklag: Nach dem 3-monatigen Training im HAL-Roboteranzug konnte dieser ohne Roboterhilfe mit einem Gehwagen, nach 5 Monaten mit einem Rollator gehen.
Einflüsse auf Blasenfunktion, Sensibilität und Schmerzempfinden
Bei einzelnen Patienten wurden weitere positive Effekte des Trainings festgestellt, die Schildhauer zufolge noch nicht alle im Detail erklärt werden können. So habe eine Patientin nach 9 Monaten wieder spontan Wasser lassen und auf den Urinkatheter verzichten können. Bei einem anderen sei nach etwas mehr als einem halben Jahr die Sensibilität in der Hüftregion zurückgekehrt, was für das Risiko von Druckstellen durch langes Sitzen relevant ist.
„Offenbar beeinflussen durch das Training ausgelöste neuroplastische Veränderungen im Gehirn auch das Schmerzempfinden“, so Schildhauer. So habe bei mehreren Patienten eine Schmerzmedikation reduziert werden können.
Weitere Studie mit akut Querschnittverletzten
Die Bochumer Forscher untersuchen derzeit in einer weiteren Studie mit 27 Patienten ebenfalls, inwieweit das neuromuskuläre Feedback-Training Patienten mit einer akuten Rückenmarkverletzung helfen kann.
„Auch bei diesen Patienten sehen wir sehr zügige Veränderungen, die wir so nicht erwartet hätten“, kommentierte Schildhauer. So konnte ein 35-jähriger Patient mit inkompletter Paraplegie, der 8 Wochen nach dem Trauma mit dem Training begann, viereinhalb Monate später bereits wieder mit Krücken und eineinhalb Jahre später sogar wieder völlig ohne Gehhilfen gehen.
Mögliche Option für andere Erkrankungen
„Das neuromuskuläre Roboter-Training kann damit bei allen akut oder chronisch Querschnittgelähmten in Frage kommen, bei denen mittels Elektromyografie noch neuromuskuläre Restsignale in der Peripherie ableitbar sind“, resümierte Schildhauer. Chancen bieten sich dem Experten zufolge jedoch möglicherweise auch für den Einsatz dieses Systems bei Patienten mit anderen neurologischen und neuromuskulären Erkrankungen wie Schlaganfall, Multipler Sklerose oder Muskeldystrophien. Dies sei aber noch weiter zu erforschen.
Die Therapiekosten für ein 3-monatiges (bei chronischer Querschnittlähmung ambulant durchgeführtes) Training mit dem HAL-System liegen dem Bochumer Experten zufolge bei 25.000 Euro: „Dies sollte mit den Kosten verglichen werden, die Prothesen oder längere Krankenhausaufenthalte bei solchen Patienten verursachen, die noch wesentlich höher sein können.“ In seiner Klinik erfolge die Kostenerstattung durch die Berufsgenossenschaften.
Außer in Bochum werde das System in Deutschland u.a. noch in BG-Kliniken in Frankfurt/Main und Berlin eingesetzt.
Brain-Computer-Interfaces sollen komplett Gelähmten helfen können
Intensiv erforschen Wissenschaftler derzeit auch sogenannte Brain-Computer-Interfaces (BCIs), die es Querschnittgelähmten ohne jegliche verbliebene neuromuskuläre Restfunktionen ermöglichen sollen, wieder Gehbewegungen zu erlernen. Darüber berichtete der Spezialist für Neuro-Engineering Prof. Dr. Gordon Cheng von der TU München auf dem Berliner Hauptstadtkongress. Bei der BCI-Technologie wird die Hirnaktivität eines Menschen in Steuerungsbefehle übersetzt, mit denen sich dann etwa ein Exo-Skelett oder Orthesen aktivieren lassen.
Cheng forscht auch auf dem Gebiet der Sensorik von Robotern. Er entwickelte eine künstliche mit Sensoren bestückte Roboterhaut, mit der bei Gelähmten verloren gegangenes Berührungsempfinden kompensiert werden soll.
REFERENZEN:
1. Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit, 20. bis 22. Juni 2017, Berlin
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Rehabilitation Querschnittgelähmter: Wie Roboter-assistierte Feedback-Therapie helfen kann, wieder gehen zu lernen - Medscape - 28. Jun 2017.
Kommentar