Berlin – Die Zwischenbilanz zum Stand des bundeseinheitlichen Medikationsplans fiel auf dem Berliner Hauptstadtkongress verheerend aus: Der Plan sei „nicht existent“, sagten die Referenten, er sei ein „Phantom“ und, wenn er doch einmal zur Anwendung komme, für die Patienten oft unverständlich. Kurz: Er „hat den Praxistest nicht bestanden“. Dabei sollte er doch den Patienten ermöglichen, ihre Arzneimittel und Selbstmedikation korrekt anzuwenden.
Seit dem 1. Oktober 2016 haben Patienten das Recht auf den bundeseinheitlichen Medikationsplan – zunächst in Papierform –, wenn sie 3 oder mehr Arzneimittel verschrieben bekommen haben. Seit April 2017 ist die Vorgabe zwingend, und ab Oktober 2017 müssen auch Krankenhäuser den Medikationsplan im Rahmen des Entlass-Managements einsetzen. Ab 2018 soll der Plan auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gespeichert werden, und ab 2019 dort auch abrufbar sein. Soweit der Fahrplan, den das E-Health-Gesetz von 2015 festgelegt hat. Wie ist der Stand der Umsetzung heute?
Ernüchternde Zahlen
„Der Plan muss vollständig, aktuell und nützlich sein“, betonte Dr. Hanna Seidling, klinische Pharmazeutin am Universitätsklinikum Heidelberg, in ihrem Vortrag. Das sei nicht eines Tages schlicht durch eine Software machbar, sondern nur, indem die Patienten gut beraten und begleitet werden. „Einfach einen Plan bei den Patienten abzuliefern, reicht nicht“, sagte Seidling.
Dass der Weg dahin noch weit ist, belegte sie mit ernüchternden Zahlen. Nachdem man 90 Patienten versuchshalber einen Plan mit 6 Arzneimitteln vorgelegt und die Patienten gebeten hatte, den Plan zu übersetzen, zeigte sich:
Nur 43% von ihnen hatten verstanden, was im Plan stand.
57% stolperten über die Angaben zu den Wirkstoffstärken oder Darreichungsformen oder über unverständliche Freitextteile im Plan – und verstanden die Angaben falsch.
„Die Patienten wussten nicht, worum es geht“, so Seidling.
Zahlen aus Westfalen-Lippe zeigten zudem, dass nur 6,5% der Medikationspläne von Patienten mit Polymedikation die tatsächliche Medikation der Patienten abbildeten. „Wir müssen klären, wer die Schreibrechte hat und wer zuständig ist für die Aktualisierung der Pläne“, folgerte Seidling.
Medikationsplan sollte im Rahmen einer elektronischen Patientenakte installiert werden
Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes, erklärte den Plan denn auch zum „Phantom der Oper“. „Es gibt ihn kaum“, so Weigeldt. Die Realität in der Hausarztpraxis hat, glaubt man dem Hausärztechef, die hoch fliegenden Ideen des Plans vom Kopf auf die Füße gestellt. „Entweder die Patienten haben den Plan vergessen oder haben ihn zerknittert oder haben ihn irgendwo abgelegt.“
Man könne die Defizite in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten nicht durch einen Medikationsplan beheben. Wenn der Plan sinnvoll eingesetzt werden solle, dann müsse er vielmehr im Rahmen einer elektronischen Patientenakte installiert werden. „Dann können Ärzte, Apotheker und Klinikärzte auf dasselbe Dokument gucken.“ Das bedeutet für Weigeldt auch: Man braucht den Plan nicht mehr auf der eGK.
Die Patienten beraten
Auch Stefan Fink, Vorsitzender des Thüringer Apothekerverbandes, sah beim Medikationsplan vor allem Praxisferne. Insgesamt kommen nur wenige Patienten mit einem Medikationsplan in die Apotheke. „Im Berufsalltag sehen wir den Plan kaum. Er ist nicht existent“, erklärte Fink. Wenn einmal ein Patient mit einem Plan komme, dann berücksichtige er oft zu selten die Wechselwirkungen der Medikamente.
Fink berichtete von einer 38-jährigen Patientin, die wegen ihrer Selbstmedikation mit Nahrungsergänzungsmitteln eine Überdosierung von Kalzium und Vitamin A hatte. Niemand hatte sie bisher zu den Wechselwirkungen aufgeklärt, bis diese schließlich in einem ausführlichen Gespräch thematisiert wurden. „Andere Patienten tauschen die Medikamente mit ihrem Ehepartner, nach dem Motto: ‚Mir hat es ja auch geholfen‘“, beklagte Fink.
Was Hausarzt Weigeldt so vehement forderte, konnte Fink indessen mit dem Projekt ‚Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen‘ (ARMIN) vorweisen: einen Medikationsplan, der auf einem Server liegend für alle zugänglich ist – für Ärzte, Apotheker und Patienten. Da hier der Hausarzt die Medikamentenliste auf mögliche Wechselwirkungen prüft, dürfte für größere Sicherheit gesorgt sein.
„Auf jeden Fall muss der Plan abgestimmt werden“, forderte Fink. Bei der Fülle selbstgemachter, handschriftlicher Pläne, mit denen die Patienten immer wieder in der Praxis erscheinen würden, „blickt keiner mehr durch. ARMIN ist dafür eine Lösung“, sagte Fink.
Ähnlich Michael Baehr: Der Krankenhausapotheker am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE), sieht in den Händen der Ambulanz-Patienten des Klinikums selten Medikationspläne. Von knapp 500 Patienten hatten mehr als 97% gar keinen Plan dabei, und nur ganze 2% konnten einen bundeseinheitlichen Medikationsplan vorlegen. Das habe eine Überprüfung ergeben. Inzwischen weist man im UKE die Patienten darauf hin, dass ihnen der Hausarzt einen Plan ausstellen soll. „Denn bei aller Kritik: Wir brauchen den Plan“, sagte Baehr.
REFERENZEN:
1. Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit, 20. bis 22. Juni 2017, Berlin
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Diesen Artikel so zitieren: Fehlstart beim bundeseinheitlichen Medikationsplan: Er hat den Praxistest (noch) nicht bestanden - Medscape - 28. Jun 2017.
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