Was bringt die tägliche Selbstkontrolle des Blutzuckers für Typ-2-Diabetiker, die keine Insulintherapie machen? Laut einer aktuellen randomisierten US-Studie mit 450 Patienten nicht viel: Über 1 Jahr besserten sich weder der HbA1c-Wert noch die Lebensqualität dadurch [1].
„Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Glukose-Monitoring bei Patienten mit Typ-2-Diabetes ohne Insulintherapie keine Routine-Maßnahme sein sollte“, lautet das Fazit des Forscherteams um Dr. Laura A. Young, School of Medicine, University of North Carolina, Chapel Hill, USA, im JAMA Internal Medicine.
Experte: Messung ohne Interpretation sinnlos
Anderer Meinung ist Medscape-Diabetes-Blogger Prof. Dr. Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf. Er hält die Interventionsstudie des US-Teams für insgesamt wenig erkenntnisreich: „Ein Problem: In der Studie wird die Blutzucker-Selbstkontrolle wie ein Medikament statt wie ein Diagnostik-Tool behandelt“, erklärt er gegenüber Medscape. Es werde dabei nicht berücksichtigt, dass die Messungen nur ein Werkzeug sind, das die Patienten – nach entsprechender Schulung – eine Anpassung ihres Lebensstils erlaubt. Nicht die Messung selbst, sondern der Erkenntnisgewinn und die daraus folgenden Maßnahmen seien dementsprechend die eigentliche Intervention.
Somit stellt allein diese – in seinen Augen falsche – Methodik das Ergebnis und mögliche Implikationen in Frage. „Eine Blutzucker-Selbstmessung zeigt den Patienten, wie sich der Blutzucker verändert, wenn sie ihren Lebensstil umstellen.” Sinnvoll seien Messungen vor und nach einer Mahlzeit, damit die Patienten lernen, wie sich der Blutzucker durch unterschiedliche Nahrungsmittel verändere. Auf die Ernährung haben sich die Messungen in der US-Studie jedoch in keinster Weise bezogen, kritisiert Martin. „Die Ärzte geben den Patienten eine Blutzucker-Selbstkontrolle, ohne ihnen mitzuteilen, wie sie auf bestimmte Werte reagieren sollen.”
3 von 4 Typ-2-Diabetikern, die keine Insulintherapie erhalten, kontrollieren ihren Blutzucker selbst, schreiben die Studienautoren. Ähnlich dürfte die Rate auch in Deutschland sein, meint Martin. Er moniert allerdings, dass die Patienten in Deutschland die Messgeräte oft kostenfrei in der Apotheke erhalten, ohne Erklärung zur richtigen Nutzung des Tools oder zur Interpretation der Werte. Ob die Messung für diese Patienten einen Nutzen hat und daher routinemäßig empfohlen werden sollte, ist umstritten.
Es gibt auch mehrere Studien, in denen sich eine Blutzuckerkontrolle günstig auf den HbA1c-Wert ausgewirkt hat; in anderen Untersuchungen dagegen zeigte die Selbstmessung keinerlei Effekt. In Interventionen, bei denen Patienten und Ärzte hinsichtlich der Interpretation der Messwerte geschult wurden, habe der HbA1c-Wert um bis zu 0,5%-Punkte abgenommen, im Vergleich zu 0,2%-Punkten mit Blutzuckerselbstkontrolle ohne begleitende Schulung, schreiben die Autoren.
„Das suggeriert, dass die Blutzucker-Selbstkontrolle nur dann zum effektiven Selbstmanagement-Tool wird, wenn sich Patienten und Ärzte intensiv mit der Nutzung, Interpretation und den Konsequenzen der Messwerte beschäftigen“, schreiben sie weiter.
Nur kurzzeitiger Rückgang des HbA1c-Wertes
In der Studie in North Carolina wurden 450 Diabetes-Typ-2-Patieten (Durchschnittsalter 61 Jahre; im Schnitt seit 8 Jahren Diabetiker) ohne Insulin-Gabe (HbA1c zwischen 6,5 und 9,5%), die in 15 US-Praxen behandelt wurden, in 3 Gruppen randomisiert:
Keine Blutzucker-Selbstkontrolle
Blutzucker-Selbstkontrolle einmal täglich
Erweitere Blutzucker-Selbstkontrolle einmal täglich, mit passgenauem Patienten-Feedback über eine Internet-Plattform, in die die Messwerte eingegeben wurden. Die Feedback-Mitteilungen sollten die Patienten „schulen und motivieren“, schreiben die Autoren.
Untersucht wurden die Auswirkungen der täglichen Messungen auf den HbA1c-Wert und die gesundheitsbezogene Lebensqualität ein Jahr nach Studienbeginn. Drei Viertel aller Teilnehmer hatten bereits vor Beginn der Studie Erfahrung mit der Selbstkontrolle. In den ersten 6 Monaten der Studie besserte sich auch in beiden Gruppen mit Blutzucker-Selbstkontrolle zunächst der HbA1c-Wert signifikant – stieg im 2. Halbjahr dann aber wieder Richtung Ausgangsniveau.
Knapp 93% der Teilnehmer (n = 418) nahmen an der abschließenden Untersuchung nach einem Jahr teil, bei der die Mediziner keinen signifikanten Unterschied mehr zwischen den 3 Gruppen feststellen konnten – weder hinsichtlich Blutzuckerkontrolle noch bei der Lebensqualität.
Der Grund könnte sein, dass die Bereitschaft der Teilnehmer, den Selbsttest durchzuführen im Laufe der Studie in beiden Interventionsgruppen immer mehr abnahm, bemerken die Autoren. Nach einem Jahr machte nur noch jeder 2. auch tatsächlich tägliche Blutzuckerkontrollen. Dass die Compliance nachließ, wundert Diabetes-Experte Martin wenig: „Der Messung folgte keine konkrete Empfehlung – daher überrascht es mich nicht, dass einige Teilnehmer keine Lust mehr auf die Kontrolle verspürten.“
„Wir haben keinerlei Evidenz gefunden, dass Blutzuckermessungen zu einer besseren glykämischen Kontrolle führen“, schreiben die Autoren. Auch andere Parameter wie Hypoglykämiehäufigkeit, Inanspruchnahme medizinischer Versorgung oder Beginn einer Insulintherapie unterschieden sich zwischen Nutzern und Nicht-Nutzern des Messgeräts nicht.
Es sei „überraschend“, dass die tägliche Kontrolle des Blutzuckers angesichts des ausgebliebenen Effekts „immer noch als ein Meilenstein des klinischen Managements des Typ-2-Diabetes ohne Insulintherapie gilt“, schreiben Young und Kollegen. Möglicherweise beziehe die Blutzucker-Selbstkontrolle mit dem in ihrer Studie gewählten Feedback den Patienten zu wenig mit ein. Ein interaktiver Ansatz mit Rückmelde-Möglichkeit für den Patienten, der zudem die beidseitige Kommunikation zwischen Arzt und Patient beinhalte, zeige möglicherweise länger andauernde positive Effekte, vermuten sie. Das Studienteam selbst hatte, abgesehen von dem initialen Termin zu Studienbeginn, keinerlei Kontakt zu den Patienten.
Auch Dr. Elaine C. Khoong von der Medizinischen Fakultät der University of California in San Francisco, USA, zeigt sich angesichts der fehlenden Erfolge durch die Selbstmessung in der Studie wenig angetan von routinemäßigen Blutzuckerkontrollen: „Die Resultate deuten an, dass wir Patienten ohne Bedenken sowohl von der weiteren Durchführung als auch vom Neubeginn der Blutzuckerkontrolle abraten können“, schreibt sie gemeinsam mit Dr. Joseph S. Ross von der Yale University School of Medicine, Mitherausgeber des JAMA Internal Medicine, in einer Notiz des Herausgebers [2].
Diese „wichtige Studie“ mit „überraschender Erkenntnis lässt uns die aktuelle, scheinbar auf gesundem Menschenverstand begründete Strategie einer routinemäßigen Glukosekontrolle in Frage stellen“, so ihr Kommentar.
Dagegen betrachten Befürworter der Blutzuckerkontrolle die Methode insbesondere für Patienten mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes als hilfreich. Diese Ansicht teilt Martin, der seinen Patienten am Anfang ihrer „Diabetes-Karriere“ ein Ernährungstagebuch und die regelmäßige Blutzuckerkontrolle empfiehlt: „Die Patienten sehen, wie sich der Blutzucker verändert, wenn sie etwa ein Wurstbrötchen durch ein Joghurt ersetzen. Sie erfahren: Ich kann selbst etwas an meinem Diabetes-Management tun, wenn ich mich gut ernähre“, erklärt er.
Er kritisiert, dass Studien wie die aus North Carolina, in denen die Blutzucker-Selbstkontrolle einen Null-Effekt erziele, „Krankenkassen in die Karten spielen, die sagen: Die Messung bringt nichts und ist zu teuer“. Die Blutzucker-Selbstkontrolle müsse in eine Lebensstiländerung eingebettet sein: „Bei solchen Studien sehen die Patienten das Potenzial der täglichen Messung in Verbindung mit einer Lebensstiländerung – damit haben wir noch nach 1,5 Jahren Langzeiteffekte auf den HbA1c-Wert gesehen, auch bei Patienten, die schon 11 Jahre lang Diabetiker waren.“
Martin bezieht sich auf eine Studie in Bulgarien, die 2014 veröffentlicht worden ist und an der er selbst beteiligt war. „Wenn man die Glukosemessung also sinnvoll in Kombination mit anderen Informationen einsetzt, ist sie für die Patienten sehr nützlich“, betont er.
REFERENZEN:
1. Young LA, et al: JAMA Intern Med (online) 10. Juni 2017
2. Khoong EC, et al: JAMA Intern Med (online) 10. Juni 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Was bringen Selbstkontrollen für Typ-2-Diabetiker ohne Insulin? Laut US-Studie nichts – deutscher Diabetologe übt Kritik - Medscape - 27. Jun 2017.
Kommentar