Aus dem Takt gebracht: Schichtarbeiter haben ein erhöhtes Risiko für Diabetes und kardiometabolische Erkrankungen

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

27. Juni 2017

Hamburg – Wer in seinem Job regelmäßig Nachtschichten einlegen muss, erhöht sein Risiko für eine kardiometabolische Erkrankung. Das betonte PD Dr. Michael Lehrke, Oberarzt an der Klinik für Kardiologie, Pneumologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin der Universitätsklinik RWTH Aachen, bei einem Vortrag zum Thema zirkadiane Rhythmik auf der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Hamburg [1].

PD Dr. Michael Lehrke

Ähnlich gefährdet, an Diabetes oder Bluthochdruck zu erkranken, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden, sind dem Facharzt für Innere Medizin zufolge Menschen, die häufig in andere Zeitzonen reisen oder ihre innere Uhr durch andere Verhaltensweisen aus dem Takt bringen – etwa durch das Einnehmen nächtlicher Mahlzeiten oder das abendliche Lesen auf dem Smartphone oder Tablet.

Schon 4 Jahre Nachtarbeit verfünffachen das Risiko für ein metabolisches Syndrom

Wie Lehrke in seinem Vortrag ausführte, wirkt sich die innere Uhr auf sehr viele Vorgänge im Körper aus. Unter anderem beeinflussen zirkadiane Rhythmen die Anreicherung von Fett im Fettgewebe, die Sekretion von Insulin in der Bauchspeicheldrüse, die Sensitivität für das Hormon in der Leber und in den Muskeln, die Nahrungsverwertung im Darm sowie die Funktion des Immunsystems, des Herzens und der Gefäße. „Günstig ist es, wenn die Uhr im Gehirn mit den Uhren in den peripheren Zellen übereinstimmt“, sagte Lehrke. Komme eine der Uhren aus dem Takt, könne das vielfältige Störungen zur Folge haben.

Da Nachtarbeit die zirkadiane Rhythmik durcheinander bringe, sei es naheliegend, dass sie das Risiko kardiometabolischer Erkrankungen erhöhe, sagte Lehrke. Tatsächlich habe beispielsweise eine im Jahr 2010 veröffentlichte Studie an knapp 800 Krankenschwestern und -pflegern gezeigt, dass das Risiko, ein metabolisches Syndrom zu entwickeln, bereits nach 4 Jahren Nacharbeit um den Faktor 5 erhöht sei. Die Dauer der Schichtarbeit sei bei der Risikoentwicklung ein ganz relevanter Faktor.

Eine Studie aus dem Jahr 2011 mit fast 180.000 Krankenschwestern ergab zudem, dass das Risiko der Frauen für einen Typ-2-Diabetes nach mehr als 20 Jahren Schichtarbeit um 64% erhöht war. Das höhere Risiko war zwar in erster Linie eine Folge des aufgrund der Schichtarbeit häufig entwickelten Übergewichts. Doch selbst wenn die Wissenschaftler den Body-Mass-Index (BMI) der Probandinnen in ihren statistischen Berechnungen berücksichtigten, blieb das Diabetes-Risiko signifikant um 20% erhöht.

 
Es reicht bereits eine kurzfristige Intervention von wenigen Tagen aus, bei der die Tag- und Nachtverhältnisse umgedreht werden, um den Glukose-Haushalt des Menschen durcheinanderzubringen. PD Dr. Michael Lehrke
 

Auch kardiovaskuläre Erkrankungen können die Folge von Schichtarbeit sein

„Wie Experimente gezeigt haben, reicht bereits eine kurzfristige Intervention von wenigen Tagen aus, bei der die Tag- und Nachtverhältnisse umgedreht werden, um den Glukose-Haushalt des Menschen durcheinanderzubringen“, sagte Lehrke. Schon eine durchzechte Nacht könne daher in Grenzfällen die Diagnose Diabetes zur Folge haben.

Eine Metaanalyse von 34 Studien mit insgesamt mehr als 2 Millionen Probanden aus dem Jahr 2012 wies darüber hinaus nach, dass auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen durch Schichtarbeit erhöht wird. Während retrospektive Studien ein um 19% erhöhtes Risiko ermittelten, ergaben prospektive Untersuchungen sogar Werte von 32%.

Abendliches Lesen auf dem Tablet stört die Melatonin-Produktion

Doch nicht nur Schichtdienste bringen die innere Uhr des Körpers durcheinander. „Beim abendlichen oder gar nächtlichen Arbeiten am Computer oder dem Lesen auf dem Tablet gelangen durch das starke monochromatische Licht so hohe Lichtintensitäten auf die Netzhaut, dass das Gehirn gar nicht mehr weiß, ob es nun Tag oder Nacht ist“, sagte Lehrke. Experimente hätten gezeigt, dass abendliches Lesen auf dem eReader die Melatonin-Produktion nach hinten verschiebe. Man brauche dadurch später länger zum Einschlafen und sei am nächsten Morgen müder.

„Auch nächtliches Essen bringt die zirkadiane Rhythmik durcheinander“, sagte Lehrke. Man solle daher die Nahrungsaufnahme möglichst auf den Tag beschränken und entsprechend lange Fastenzeiten bis zum nächsten Morgen einhalten. „Bestimmte Nahrungsbestandteile haben Einfluss auf die Aktivität der Uhren-Gene“, erläuterte Lehrke – und gerade die westliche Ernährung sei geeignet, diese in ihrem Rhythmus zu stören.

Experimente mit Knock-out-Mäusen hätten zudem gezeigt, dass man Diabetes hervorrufen könne, indem man einzelne Uhren-Gene gezielt ausschalte. Darüber hinaus sei man in den Leukozyten von Patienten mit Diabetes vermehrt auf eine gestörte Expression zirkadianer Gene gestoßen.

 
Auch nächtliches Essen bringt die zirkadiane Rhythmik durcheinander. PD Dr. Michael Lehrke
 

Studien sollen zeigen, ob eine Melatonin-Gabe das Diabetes-Risiko senken kann

Welche Rolle dem Schlafhormon Melatonin bei der Entwicklung des Diabetes zukommt, ist Lehrke zufolge noch nicht gänzlich geklärt. Studien hätten gezeigt, dass eine gestörte Melatonin-Sekretion bei Menschen mit Typ-2-Diabetes vermehrt anzutreffen sei, sagte der Mediziner. Auch finde man bei den Patienten häufiger eine bestimmte Variante von Melatonin-Rezeptoren, die mit einer verminderten Funktion des Hormons einhergingen.

Es stelle sich daher die Frage, ob man mit einer einfachen Gabe von Melatonin – oder auch mit einer Lichttherapie – das Diabetesrisiko positiv beeinflussen könne. Eine Antwort darauf versucht das Eurhythdia-Konsortium, zu dem auch Lehrke gehört, derzeit mithilfe entsprechender Interventionsstudien zu finden.

Die innere Uhr des Menschen: Jede Zelle des Körpers besitzt ihre eigene innere Uhr

Dass jedes Organ, jede Zelle des Menschen eine innere Uhr besitzt, die nicht ganz, aber ungefähr im 24-Stunden-Rhythmus tickt, wissen Forscher seit den Siebzigerjahren. Damals ließ Prof. Dr. Jürgen Aschoff, der 1998 verstorbene Pionier der Chronobiologie, am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Andechs bei München, freiwillige Probanden mehrere Wochen lang in einem Bunker leben – isoliert und ohne Tageslicht.

Bei dem Experiment stellte sich heraus, dass die Versuchsteilnehmer ihren natürlichen Biorhythmus aus Wachen und Schlafen im Wesentlichen beibehielten. Der gewohnte Tag-Nacht-Rhythmus kam nicht durcheinander, er verschob sich mit der Zeit lediglich etwas: Aus einem 24-Stunden- wurde ein 25-Stunden-Rhythmus. Die Probanden verfügten offenbar über eine innere Uhr, die auch ohne den Wechsel von Licht und Dunkel funktionierte, schlussfolgerte Aschoff damals.

Sonnenlicht ist der wichtigste Taktgeber der körpereigenen Uhr

Sonnenlicht allerdings wirkt als wichtigster äußerer Taktgeber, der den Rhythmus immer wieder auf 24 Stunden korrigiert. Vor 10 Jahren stießen Forscher in den erst kurz zuvor entdeckten fotosensitiven Ganglienzellen der Netzhaut auf das Sehpigment Melanopsin, das Veränderungen der Lichtintensität registriert und diese Informationen über die Sehnerven an den Suprachiasmatischen Nucleus (SCN) im Hypothalamus weiterleitet.

Chronobiologen gehen heute davon aus, dass der etwa reiskorngroße SCN eine Art Schrittmacher für die innere Uhr darstellt. Tiere, denen man das Areal entfernte, verloren ihren typischen Tag-Nacht-Rhythmus. Kappte man bei ihnen lediglich die Verbindung zu den Sehnerven, entwickelten die Tiere den bereits aus Aschoffs Experiment bekannten verlängerten Rhythmus. „Die von den Sehnerven erhaltenen Informationen über die Lichtverhältnisse leitet der SCN an die ebenfalls im Zwischenhirn gelegene Epiphyse weiter“, erläuterte der Aachener Mediziner Lehrke auf dem Kongress in Hamburg. Die Drüse schütte daraufhin am Abend und in der Nacht das Hormon Melatonin aus. Melatonin beeinflusst nicht nur den Schlaf-Wach-Rhythmus, sondern auch viele andere Vorgänge im Körper.

Rädchen der inneren Uhr finden sich nicht nur im Gehirn, sondern tatsächlich in jeder einzelnen Körperzelle – und zwar in Form von zirkadianen Genen, die im Verlauf von 24 Stunden ihre Aktivität charakteristisch ändern und sich über ihre Genprodukte auch gegenseitig beeinflussen. Die bekanntesten von ihnen heißen BMAL, CLOCK, CRY und PER. Solche Uhren-Gene können Signale aus dem Gehirn empfangen und verwerten, aber auch eigenständig arbeiten. Die Leber als zentrales Stoffwechselorgan beispielsweise entwickelt bei Versuchstieren eine ganz eigene Rhythmik, wenn die Tiere nur zu ungewöhnlichen Zeiten gefüttert werden.



REFERENZEN:

1. 52. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), 24. bis 27. Mai 2017, Hamburg

Kommentar

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