Prag – In glutenfreien Getreideprodukten steckt oft zu viel Fett und – je nach Lebensmittel – zu viel oder zu wenig Protein und insgesamt zu wenig Faser- und Ballaststoffe. Das ist die Bilanz einer vergleichenden Lebensmittel-Analyse, deren Ergebnisse bei der 50. Jahrestagung der European Society for Paediatric Gastroenterology Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) präsentiert worden sind [1].
Das Autorenteam um Dr. Joaquim Calvo Lerma aus der Forschungsgruppe für Zöliakie und Verdauungs-Immunopathologie am Instituto de Investigación Sanitaria La Fe im spanischen Valencia stellte 654 glutenfreie Lebensmittel 655 glutenhaltigen Konkurrenzprodukten gegenüber. Demnach enthalten zum Beispiel glutenfreie Brote signifikant mehr Lipide und gesättigte Fettsäuren, glutenfreie Pasta weniger Zucker und Proteine und glutenfreie Kekse weniger Proteine, dafür signifikant mehr Lipide als vergleichbare Lebensmittel mit Gluten.

Prof. Dr. Martin Raithel
„Diese Studie hat sehr viele Lebensmittel überprüft, ist sorgfältig angelegt durchgeführt worden und zeigt, wie schon andere vor ihr, dass glutenfreie Kost sich von glutenhaltiger Kost im Nährstoffgehalt unterscheidet“, kommentiert der Gastroenterologe, Allergologe und Ernährungsmediziner Prof. Dr. Martin Raithel, Chefarzt der Medizinischen Klinik II am Waldkrankenhaus Erlangen. Somit spreche die Studie einmal mehr dafür, Patienten mit Zöliakie, Weizenallergie oder Glutensensitivität umfassend zu schulen, was eine ausgewogene Ernährung angeht.
Auch Gesunde, die sich oder ihre Kinder glutenfrei ernähren wollen, weil sie diese Diät für vorteilhafter halten, müssten über diesen Sachverhalt aufgeklärt werden, fordert Raithel: „Bei Kindern sollte ohne eine definitive Diagnose, die einen Glutenverzicht verlangt, keine glutenfreie Kost durchgeführt werden.“
Wann welche Diagnostik?
Etwa 1% aller Deutschen haben eine autoimmun-bedingte Zöliakie. Hinzu kommt eine noch nicht näher eingegrenzte Zahl von Patienten, die mit einer immunologisch bedingten Weizen-/Getreideallergie leben oder an einer Sensitivität gegen Gluten bzw. Weizen (sog. Nicht-Zöliakie- Nicht-Allergie-Weizensensitivität) leiden. Bei Symptomen wie Verdauungsbeschwerden, Hautveränderungen und Konzentrationsschwächen empfiehlt Raithel eine entsprechende Diagnostik.
Bei Zöliakie und Weizenallergie finden sich spezifische Antikörper im Blut oder im Darm, die Diagnose Zöliakie erfordert zusätzlich häufig einen positiven Befund der Dünndarmbiopsie. Während die Diagnosekriterien für die Zöliakie und die Weizen- oder Getreideallergie sehr klar definiert und nachweisbar seien, sei die Diagnosestellung bei der Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität wesentlich schwieriger, betont Raithel.
„Gerade in dieser Gruppe finden sich viele Patienten mit Beschwerden des Magen-Darmtraktes, aber auch mit verschiedenen Symptomen ohne zunächst sichtbaren Bezug zum Verdauungstrakt, die bei Weizenverzicht über Änderungen ihres Befindens berichten“, so Raithel. „Sind alle Untersuchungsergebnisse bezüglich Zöliakie oder Weizenallergie negativ, sollte an eine Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität gedacht werden. Diese wird oft zunächst vom Patient oder Arzt als Ausschlussdiagnose in den Raum gestellt.“
Im Hinblick auf die zum Teil ungünstigen Nährstoffanteile bei glutenfreier Kost sollte ein Verdacht unbedingt vom Arzt bestätigt werden, fordert Raithel. Er empfiehlt eine standardisierte Testung unter ärztlicher Dokumentation und Auswertung.
„Erst halten die Patienten eine bis zu 3-wöchige glutenfreie Diät ein, dann folgt eine kontrollierte Exposition mit z.B. täglich 2 bis 3 Scheiben Brot. Verschiedenartige Symptome, Bauchumfang, Stuhlfrequenz und auch andere Krankheitserscheinungen wie Muskelschmerzen und psychische Beschwerden werden in einem Score zusammengefasst, ggf. können weiterführende ergänzende Laborwerte herangezogen werden, um den komplexen Krankheitsprozess nachzuweisen.“
„Bei derartig streng durchgeführten und kontrollierten Expositionstests sind in einigen Studien die Beschwerden nur bei einer Minderheit der Untersuchten reproduzierbar“, berichtet Raithel. Aktuell finden sich ganz unterschiedliche Schätzungen zur Prävalenz der Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität von 0,2 bis 6% in der Bevölkerung. Dazu müsse aber weiter geforscht werden. Menschen mit Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität müssen langfristig eine glutenfreie Diät einhalten, nach 2 bis 3 Jahren, so Raithel, sollte aber ärztlich überprüft werden, ob Gluten nun wieder toleriert werde.
Ein gefährlicher Lifestyle-Trend
Raithel betont, dass die Studie auf mögliche Risiken durch die veränderten Nährwert-Relationen glutenfreier Kost im Vergleich zur glutenhaltigen Kost hinweist. Problematisch sind vor allem der oft niedrigere Gehalt an Faser- und Ballaststoffen und der erhöhte Fettgehalt vieler glutenfreier Lebensmittel. Daraus könnten langfristig gesundheitliche Probleme resultieren, wenn die Ernährung nicht angepasst wird.Wer aber nach der Diagnose eine Ernährungsberatung bei Diätassistenten plus Schulung zur ausgewogenen Ernährung ohne Gluten bekommt, bei dem sieht Raithel wenig Gefahr für Folgeschäden durch eine entsprechende Diät.
„Befunde wie die aus der aktuellen Studie sind schon seit ca. 2010 bekannt, werden aber von Verfechtern der glutenfreien Kost nicht gesehen“, kritisiert Raithel. „Diese Menschen haben ein verzerrtes Bild vom ,bösen Weizen‘. Viele wissen nicht, dass der Weizen mit seinen Faser- und Ballaststoffen für eine günstige Zusammensetzung der Darmflora extrem wichtig ist, dass viele Protein- und Polyaminanteile darin enthalten sind genauso wie Vitamine.“
Natürlich seien beim modernen, hochgezüchteten Weizen auch kritische Punkte wie Resistenzgene, Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs) oder Weizenlektine etc. zu berücksichtigen. Ob diese im Einzelfall tatsächlich bei einer bestimmten Person entsprechende Beschwerden auslösen, könne nur an spezialisierten Zentren überprüft, aber nicht global behauptet werden.
Raithel erklärt: „Wir wissen heute, dass eine möglichst weit gestreute Ernährung inklusive Getreideprodukten bei der Mehrzahl aller Menschen für den Aufbau einer breit gefächerten Darmflora sinnvoll ist. Eine intakte Darmflora ist ein entscheidendes Element einer dauerhaften Gesundheit, da sie mit dazu beiträgt, dass Allergien, Entzündungen und Infektionen vorgebeugt wird.“
Gesunde Kinder, die in den ersten Lebensjahren auf Verdacht glutenfrei ernährt werden, könnten den Rest ihres Lebens unter den Folgen einer suboptimal zusammengesetzten Darmflora leiden, warnt Raithel. Die Studie von Lerma zeige nun ein weiteres Risiko für sie auf, merkt er an: „Hier zeichnet sich ab, dass Menschen, die ohne Diagnose und Diätberatung zu glutenfreien Lebensmitteln wechseln, langfristig zu viel Fett und zu wenig wichtige Nährstoffe zu sich nehmen könnten. Vor allem bei einseitiger Kost bestehen hier Risiken wie koronare Herzerkrankungen, Osteoporose, Diabetes Typ 2 und Adipositas.“
Lebensmittelindustrie in der Pflicht
Lerma betont, dass nun die Lebensmittelindustrie gefordert ist: „Während mehr und mehr Menschen eine glutenfreie Diät einhalten, um ihre Zöliakie effektiv unter Kontrolle zu halten, sollte es eine Pflicht sein, dass die als Ersatz vermarkteten Lebensmittel neu zusammengesetzt werden“, fordert der Autor. „Und dies so, dass gewährleistet ist, dass sie wirklich einen ähnlichen Nährstoffgehalt haben wie die Vorbilder. Das ist vor allem für Kinder wichtig, denn eine ausgewogene Ernährung ist unverzichtbar für ein gesundes Wachstum und eine gesunde Entwicklung.“
Co-Autorin Dr. Sandra Martínez-Barona aus derselben Forschungsgruppe wie Lerma wünscht sich darum Warnhinweise auf Verpackungen von glutenfreien Produkten, deren Eiweiß-, Fett- und Nährstoffgehalt stark von dem der vergleichbaren glutenhaltigen Produkte abweicht.
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Gluten raus, Fett rein – Studie zu glutenfreien Lebensmitteln spricht gegen Ernährungsumstellung auf Verdacht - Medscape - 23. Jun 2017.
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