MEINUNG

Der Arzt als Heils- und Todesbringer – wie mit dem Patientenwunsch nach Beihilfe zur Selbsttötung umgehen?

Arthur L. Caplan, PhD; Maurie Markman, MD

Interessenkonflikte

21. Juni 2017

Was kann und sollte ein Arzt tun, wenn ein Patient um assistierten Suizid bittet? Was sind neben Schmerzen noch Gründe für einen solchen Wunsch? Dr. Arthur L. Caplan, Direktor der Abteilung für Medizinische Ethik, New York University Langone Medical Center, New York, USA, sprach darüber mit Prof. Dr. Maurie Markman, medizinischer und wissenschaftlicher Leiter des Cancer Treatment Centers of America und Professor am Drexel University College of Medicine in Philadelphia, USA.

Dr. Arthur L. Caplan

Dr. Caplan: Lassen Sie uns direkt in dieses schwierige Thema einsteigen. Was sind Ihre wichtigsten Argumente gegen die assistierte Sterbehilfe? Welche Befürchtungen haben Sie?

Prof. Dr. Maurie Markman

Dr. Markman: Mein Problem besteht darin, dass der Grund, weshalb jemand um den Tod bittet – was sein Recht ist – die eigene Verzweiflung ist. Eine solche Verzweiflung kann vorübergehend oder auch dauerhaft sein, aber der Tod selbst ist unumkehrbar. Meine Sorge geht dahin, dass ein Teil der Verzweiflung des einzelnen Patienten umkehrbar ist. Ich würde mir sicher sein wollen, dass es eine solche Umkehrung nicht gibt, bevor ich entscheide, dass ein solcher Schritt für den Patienten einen Sinn ergibt. Noch einmal: Der Patient hat absolut das Recht zu entscheiden, was er tun möchte, doch besteht meine Aufgabe als Arzt darin sicherzustellen, dass es wirklich nichts gibt, was den Patienten möglicherweise noch zu einer Änderung seines Standpunktes bewegen könnte.

Dr. Caplan: Nur um das klarzustellen, es geht Ihnen um die mögliche Reversibilität des psychischen Zustandes des Patienten?

Dr. Markman: Genau. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern. Ein Krebspatient hat vielleicht schon eine Vielzahl von Schmerzmitteln genommen, die alle nicht wirken. Der Patient sagt mir, dass nichts hilft und ich akzeptiere das. Allerdings könnte es eine einzelne anatomische Struktur geben, an die noch nicht gedacht wurde und bei der noch kein Nervenblock gesetzt wurde, oder eine radiologische oder chirurgische Intervention, welche die Schmerzen lindern könnte. Wenn die Schmerzen dann erträglicher wären, könnte das die Sicht des Patienten auf seine Not und seinen Wunsch nach einer Beendigung des Lebens verändern.

Dr. Caplan: Was sagen Sie einem Patienten, der erklärt, verstanden zu haben, dass man dieses und jenes versuchen kann, die Nerven blockieren, ihn sedieren, aber sieht, dass er sterben muss und das alles nicht mehr durchmachen möchte, der lieber die Kontrolle darüber hätte, wie er stirbt?

Dr. Markman: Das ist sein gutes Recht, ganz einfach. Aber noch einmal, meine Rolle als Arzt ist die des Beraters und nicht mehr. Wenn jemand all das zu mir sagt, akzeptiere ich es. Ich würde ihn fragen, ob er dieses und jenes berücksichtigt hat. Ich bin kein Psychologe und kein Psychiater. Ich habe nicht darüber zu urteilen, ob es gut oder schlecht ist. Als Arzt kann ich eine Meinung äußern, ich kann beraten. Ich kann mich auch an einen Familienangehörigen wenden, wenn es einen Punkt gibt, den ich vielleicht nicht umfänglich verstehe.

Und um das noch mal zu sagen, wenn Sie mir ein Beispiel für einen Patienten geben, der die Kontrolle behalten möchte – z.B. jemand mit einem potenziell heilbaren Krebs –, dann kann es ein Problem sein, dass wir nicht zu diesem Patienten durchdringen. Meine Aufgabe besteht in einem solchen Fall nicht darin, dem Patienten zu sagen, dass er Unrecht hat, sondern mich zu fragen, ob es eine andere Möglichkeit gibt, den Patienten zum Zuhören zu bringen. Wenn seine Antwort lautet, dass es seine Entscheidung ist, dann ist es eben seine Entscheidung.

Dr. Caplan: Glauben Sie, dass manche dieser stark in der Öffentlichkeit stehenden Beispiele für assistierte Sterbehilfe Patienten beeinflussen? Ich denke an den Fall Brittany Maynard in Kalifornien. Über ihre Geschichte wurde in den Medien sehr ausführlich berichtet, da sie nach Oregon ging, um dort ihr Leben zu beenden, weil es für sie in Kalifornien keine Möglichkeit zur assistierten Sterbehilfe gegeben hat.

Dr. Markman: Das ist ein sehr wichtiges Beispiel, da es direkt zu dem passt, was ich gerade sagte. Ich kannte weder Brittany Maynard noch ihre Ärzte. Ich habe einiges, was sie geschrieben hat, gelesen. Ich sorgte mich zunächst, dass es bei ihr um Verzweiflung ging und sie vielleicht später ihre Meinung hätte ändern können. Sie war aber sicherlich nicht verzweifelt. Sie machte sehr deutlich, dass es sich um eine bewusste Entscheidung handelte, die sie gründlich durchdacht hatte.

Sie hat sehr offen über die Therapie gesprochen, die man für sie vorgesehen hatte. Sie hatte alle Standardbehandlungen durchgemacht. Da gab es die Operation wegen eines malignen Hirntumors und die Bestrahlungen. An einem Punkt traf sie dann die Entscheidung zum Suizid.

Dr. Caplan: Ist sie ein gutes Beispiel dafür, wie diese Fragen zu durchdenken sind?

Dr. Markman: Ja. Nach meiner Auffassung hat sie beispielhaft gezeigt, wie man das durchdenken sollte. Sie und ihre Familie haben, wie sie beschreibt, unglaubliche Diskussionen hinter sich gebracht, bis sie die Entscheidung getroffen hat. Ich vermute, das ist die Voraussetzung, um solche Entscheidungen zu treffen.

Dr. Caplan: Ich erinnere mich noch, wie Jack Kevorkian Menschen nach Michigan schaffte, um ihnen dort auf dem Rücksitz eines VWs assistierte Sterbehilfe zu leisten. Mein Problem bei der Sache war, dass er die Menschen nicht kannte.

Dr. Markman: Das stimmt.

Dr. Caplan: Man kam zu ihm und 24 Stunden später konnte man schon im Jenseits sein. Manche der Patienten befanden sich im letzten Stadium einer tödlichen Erkrankung, aber manche tatsächlich nicht. In Anbetracht der zeitlichen Grenzen, die einem Arzt bei der Vielzahl von Dingen, um die er sich kümmern muss, wie z.B. den Papierkram, gesetzt sind, kann er da einen Patienten überhaupt gut genug kennen, um mit ihm eine ernsthafte Diskussion über seinen Todeswunsch führen zu können?

Dr. Markman: Eine gute Frage. Den Ärzten fehlt für viele Dinge die Zeit. Die Art von Gesprächen, über die wir hier reden, erfordert viel Zeit und Kraft. Ich gehe davon aus, dass die Ärzte gerne in der Lage wären, diese Zeit für ihre Patienten aufzubringen, aber das heißt noch lange nicht, dass dies auch möglich ist. Der Patient gelangt an einen Punkt, wo er darüber nachdenkt, sich das Leben zu nehmen und der Arzt hat einen vollen Terminkalender. Der Arzt würde sich jetzt gerne die Zeit nehmen, vielleicht auch die Familie miteinbeziehen, aber das ist unter den bestehenden zeitlichen Zwängen schwierig.

Dr. Caplan: Sie haben lange in der Onkologie gearbeitet. Haben Patienten Sie um die Beendigung ihres Lebens gebeten?

Dr. Markman: Das ist manches Mal vorgekommen. In der Onkologie verhält es sich vielleicht noch etwas anderes, als auf anderen klinischen Gebieten, wo es auch zu diesen Fragen kommen kann, wie etwa bei der schweren Demenz. Häufig sind bei onkologischen Patienten die Schmerzen das vorrangige Problem, sodass sie meist bereits viele Medikamente genommen haben. Sie haben dadurch Zugang zu Schmerzmitteln und entschieden oftmals selbst über die Einnahme. Ich behaupte nicht, dass das oft passiert, aber diese Menschen leiden häufig unter starken Schmerzen und könnten entscheiden, mehr Medikamente zu nehmen und dadurch ihrem Leben selbst ein Ende bereiten. Sie müssen dafür ihren Arzt nicht direkt einbeziehen. In anderen Bereichen der Medizin, wo die Schmerzmedikation keine so große Rolle spielt, haben die Patienten zu solchen Medikamenten keinen so leichten Zugang. Sie müssen um die Mittel bitten und können den letzten Schritt nicht ganz allein tun.

Wenn ein Patient mich bittet, antworte ich ihm, dass es meine Pflicht ist, seine Symptome zu behandeln, welcher Art auch immer sie sind. Ich sage ihnen nicht, was sie tun oder lassen sollen. Wenn sie mehr Schmerzmittel wollen, gebe ich ihnen, was immer sie benötigen. Dabei würde ich es belassen.

Dr. Caplan: Sie räumen dem Schmerzmanagement den Vorrang ein?

Dr. Markman: Was immer nötig ist.

Dr. Caplan: Selbst auf die Gefahr eines frühzeitigen Ablebens hin?

Dr. Markman: Richtig. Lassen Sie mich eines noch einmal klarstellen: Der Patient entscheidet selbst. Meine Verantwortung gilt dem Patienten und der Linderung seines Leidens. Wenn ich etwas für falsch halte, was der Patient nachfragt, da es aus medizinischer Sicht keinen Sinn ergibt, werde ich alles in meiner Macht stehende dafür tun, ihm zu einer anderen Sicht zu verhelfen oder zu einem Gespräch mit Angehörigen anzuhalten. Ich habe solche Erfahrungen bereits gemacht, wenn ich den Eindruck hatte, dass bei dem Patienten nicht alles angekommen war, was ich gesagt hatte.

Wenn ich z.B. sage, dass wir eigentlich über eine effektive Therapie verfügen, die aber eine schwere Übelkeit verursacht, akzeptiere ich es, wenn der Patient diese Behandlung ablehnt. Wenn ich aber den Eindruck habe, nicht zum Patienten durchgedrungen zu sein, würde ich mich an einen Angehörigen wenden. Aber ich treffe nicht die Entscheidungen. Ich hätte kein Problem damit, dem Patienten zu geben, was er braucht. Meine Intention dabei ist die Linderung des Leids und nicht zu sagen, dass sie dies zur Beendigung ihres Lebens einnehmen sollen.

Dr. Caplan: Lassen Sie uns noch einen anderen Gedanken aufgreifen, eine weitere Quelle für verzweifelte Patienten: Jemand kann sich keine 100.000 US-Dollar für Biologika oder eine Immuntherapie leisten oder er möchte nicht einfach immer so weitermachen und das Schulgeld seines Enkels durchbringen und so weiter. Das, was wir inzwischen als „finanzielle Nebenwirkungen“ bezeichnen, bedeutet mehr therapeutische Instrumente, aber auch mehr Kosten. Wie passt die assistierte Sterbehilfe in dieses immer mehr in den Vordergrund drängende Thema der finanziellen Lasten?

Dr. Markman: Nach meiner Auffassung ist das ein großes Thema, dem wir uns als Gesellschaft stellen müssen. Ich würde dringend empfehlen, dass sich die Verantwortlichen in Washington dieses Themas annehmen und überlegen, wie sich die gesamte Struktur des Gesundheitswesens mit neuen Medikamenten, Therapien usw. verändern lässt. Es geht nicht nur darum, den Pharmaunternehmen zu sagen, dass sie die Preise senken müssen. Wir reden hier über die Veränderung der gesamten Strukturen, Patente, die Entwicklungskosten von Medikamenten und so weiter.

Die Gefahr eines Bankrotts ist unter Krebspatienten ein großes Thema. Wir wissen, dass während der Großen Depression viele Menschen pleite gingen und sich das Leben nahmen. Warum sollte das heute nicht wieder passieren, wenn wir von Therapien sprechen, die jährlich Hunderttausende verschlingen und Patienten zu Zuzahlungen von 20% verpflichtet sind? Die „financial toxicity", die finanziellen Nebenwirkungen, sind eine Tatsache.

Dr. Caplan: Vielen Dank, dass Sie Ihre Ansichten mit uns geteilt haben.


Dieses Interview wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....