Chicago – Manchmal ist weniger mehr – selbst das gibt es in der Onkologie. Auch die herkömmliche Chemotherapie kann personalisiert werden, etwa bei Patienten mit einem Niedrig-Risiko-Kolonkarzinom im Stadium 3. Bei ihnen kann die Dauer der Oxaliplatin-basierten adjuvanten Chemotherapie um die Hälfte verkürzt werden – von 6 auf 3 Monate, wie die bislang größte prospektive Analyse zu diesem Thema ergeben hat.

Prof. Dr. Nancy Baxter
Vorgestellt wurde die unabhängige Studie, die im Rahmen der internationalen akademischen Kollaboration IDEA (International Duration Evaluation of Adjuvant therapy) entstanden ist, bei der diesjährigen Tagung der ASCO (American Society of Clinical Onkology) in Chicago [1].
„Wir können nun vielen Patienten mit Kolonkarzinom die unnötigen Nebenwirkungen von weiteren 3 Monaten Chemotherapie ersparen – ohne das Therapieergebnis zu gefährden“, kommentierte ASCO-Expertin Prof. Dr. Nancy Baxter, St. Michaels Hospital, Toronto, Kanada, auf einer Pressekonferenz, während der die Ergebnisse präsentiert wurden. „Diese Studie ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie vorhandene Behandlungsansätze angepasst werden können, so dass die Patienten davon noch mehr profitieren.“
Insgesamt umfasst die Auswertung 6 prospektive Studien aus 12 Ländern in Nordamerika, Europa und Asien mit über 12.800 Patienten. Diese hatten nach der Operation eines Lymphknoten-positiven Kolonkarzinoms (Stadium 3) eine Chemotherapie nach internationalem Standard mit Oxaliplatin und i.v. 5-Fluorouracil (FOLFOX) oder oralem Capecitabin (CAPOX) erhalten – dies entweder für 3 oder für 6 Monate.
Eine Abwägung von (dauerhaften) Nebenwirkungen versus Rezidivrisiko
Basis der Untersuchung war es, wie Seniorautor Dr. Axel Grothey, Mayo Clinic Cancer Center, Rochester, Minnesota, erläuterte, die bei einer kürzeren Chemotherapie-Dauer geringere Toxizität gegen das eventuell dann erhöhte Rezidivrisiko abzuwägen. „Viele Nebenwirkungen der Chemotherapie wie der Haarausfall sind nur vorübergehend, aber andere wie Nervenschädigungen können von Dauer sein – und die Patienten leiden den Rest ihres Lebens darunter“, sagte er. Gerade von Oxaliplatin sei bekannt, dass es zu bleibenden Nervenschäden beitragen könne, die sich in Taubheits- und Prickelgefühlen in den Händen und Füßen äußerten. Und dass die Wahrscheinlichkeit solcher Neuropathien mit der Therapiedauer zunehme.

Dr. Axel Grothey
Es handelte sich bei der Untersuchung, die vor 10 Jahren begann, um eine prospektive vorgeplante Analyse der gepoolten Daten von 6 gleichzeitigen Phase-3-Studien. Die Studie wurde rein öffentlich finanziert. „Wir benötigten die großen Patientenzahlen, um die Studienfrage zweifelsfrei zu beantworten. Aber damals, 2007 als wir begannen, war es nicht möglich, eine Einzelstudie dieser Größenordnung irgendwo auf der Welt durchzuführen“, sagte Grothey. „Mit 12.834 Patienten ist es die derzeit größte derartige Kollaboration in der Onkologie.“
Im Median wurden die Patienten 39 Monate nachbeobachtet. Der primäre Endpunkt der Studie war das Überleben frei von einem Kolon-Karzinom nach 3 Jahren. Diesen Endpunkt erreichten nach der 3-monatigen Chemotherapie 74,6% der Patienten, nach 6 Monaten Dauer 75,5%. Mit einem Unterschied von absolut 0,9% wurde damit das zuvor definierte „Nicht-Unterlegenheits-Kriterium“ erfüllt, berichtete Grothey. Dies galt, wenn man alle Patienten auswertete. Nach Therapieregimen unterteilt lauteten die entsprechenden Zahlen 75,9 vs 74,8% für CAPOX und 73,6 vs 76,0% für FOLFOX.
Die Untersucher unternahmen aber auch eine Analyse der Patienten, bei denen das Rezidivrisiko schon ausgangs als relativ niedrig eingestuft wurde (T1-3, N1). Sie machten rund 60% der Gesamtpopulation aus. In dieser Niedrigrisiko-Gruppe fand sich gar kein Unterschied: Nach 3 Jahren waren in der 3-Monats-Chemotherapie-Gruppe 83,1% und nach 6 Monaten Chemo 83,3% der Patienten ohne Rezidiv.
2 Drittel weniger Neuropathien
Betrachtete man aber die Nebenwirkungen – Neuropathien Grad 2 oder schwerer – machte die Chemotherapie-Dauer einen ganz erheblichen Unterschied. Die entsprechenden Raten waren bei nur 3-monatiger Therapiedauer um rund 2 Drittel niedriger: 45 vs 15% mit FOLFOX und 48 vs 17% mit CAPOX. „Außer den Nervenschädigungen bedeutet eine längere Chemotherapie-Dauer auch mehr Diarrhoen, mehr Fatigue, mehr Arztbesuche, Blutentnahmen und Auszeit von Beruf und sozialen Aktivitäten“, sagte Grothey. Er zeigte sich überzeugt: „Diese enorm große öffentlich finanzierte Studie hat sofortige Wirkung für die Patientenversorgung. Dies wird meine klinische Praxis verändern!“
Die Ergebnisse der Studie beträfen rund 400.000 Kolonkarzinom-Patienten weltweit jedes Jahr, betonte der US-Onkologe. Die IDEA-Untersucher haben aufgrund ihrer Ergebnisse ein Konsensus-Statement erarbeitet. Darin empfehlen sie eine „risiko-adaptierte“ Dauer der Chemotherapie: Diejenigen 60% der Patienten, die „Low-Risk“-Tumore haben, sollten Oxaliplatin-basierte Chemotherapien nur für 3 Monate erhalten. Bei Patienten mit T4- und/oder N2-Tumoren solle individuell entschieden werden, ob eine 3- oder 6-monatige Chemo gegeben wird.
Auch Nancy Baxter zeigte sich bei der Pressekonferenz begeistert von den Ergebnissen: „Weniger ist mehr! Dies wird die Praxis verändern!“, sagte sie. „Denn das bedeutet: Zwei Drittel meiner Patienten können die Chemotherapie nach drei Monaten beenden – vielen kann ich damit neuropathische Komplikationen ersparen.“ Sie verwies aber auch darauf: „Solche Studien sind nur öffentlich und privat gefördert möglich – denn von Seiten der Industrie besteht kein Interesse daran zu erforschen, ob die Therapie verkürzt werden kann.“
REFERENZEN:
1. ASCO Annual Meeting 2017, 2. bis 6. Juni 2017, Chicago/USA
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Weniger ist mehr: 6 von 10 Kolonkarzinom-Patienten können 3 Monate Chemo sowie Nervenschäden erspart werden - Medscape - 20. Jun 2017.
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