Erhöhte Retinopathie-Raten unter Semaglutid: GLP-1-Agonist ist unschuldig – aktuelle SUSTAIN-6-Analyse liefert Erklärung

Dr. Ingrid Horn

Interessenkonflikte

16. Juni 2017

San Diego – In der  kardiovaskulären Endpunktstudie  SUSTAIN 6 mit Semaglutid war es ein überraschender Befund, dass es unter  dem lang wirkenden GLP-1-Agonisten der Firma Novo Nordisk bei den damit  behandelten Typ-2-Diabetikern gehäuft zu Retinopathien kam. Nun liefert eine  aktuelle Analyse eine plausible Erklärung dafür.

Wie Dr. Tina  Vilsbøll, Klinische Direktorin am Steno Diabetes Center in Kopenhagen, bei  den Wissenschaftlichen  Sitzungen der Amerikanischen Diabetes Gesellschaft (ADA) berichtet hat, ist  der Effekt wahrscheinlich nicht auf den Wirkstoff selbst zurückzuführen. Das  Problem sei eher die zu raschee Senkung des Blutzuckerspiegels bei Patienten  mit retinalen Vorschädigungen.

SUSTAIN-6 war die 2. Studie mit kardiovaskulären Endpunkten,  die zeigte, dass Patienten mit Typ-2-Diabetes und einem hohen Risiko für eine  kardiovaskuläre Erkrankung von der Therapie mit einem lang wirkenden GLP-1-Agonisten  profitieren: Diejenigen, die Semaglutid (1 x wöchentlich injiziert) erhielten, hatten  im Verlauf von 2 Jahren ein um 26% geringeres Risiko für einen kardiovaskulären  Tod, Schlaganfall oder Infarkt im Vergleich zur Placebo-Gruppe. Die  Risikosenkung unter Semaglutid war signifikant.

Netzhaut-Komplikationen  auffällig häufig

Auffällig war jedoch die hohe Rate von  Netzhaut-Komplikationen in der Semaglutid-Gruppe: Glaskörperblutung, Erblindung  oder Zustände, die eine Therapie mit einem intravitreal verabreichten Mittel  oder eine Photokoagulation erforderten, waren signifikant häufiger. 3% der  Patienten im Semaglutid-Arm waren davon betroffen im Vergleich zu 1,8% in der  Placebo-Gruppe. Das entspricht einer Zunahme von 76% (p = 0,02).

 
Ich bin eigentlich überzeugt davon, dass es sich nicht um eine schädliche Wirkung von Semaglutid handelt (…) Dr. Silvio E. Inzucchi
 

In San Diego stellte Vilsbøll nun eine weitere SUSTAIN 6-Analyse  vor, die diesen Befund geprüft hat. Sie führte 3 mögliche Gründe für dieses  Missverhältnis an: Die Patienten mit den Netzhaut-Komplikationen hatten demnach  zu Beginn der Studie eine schlechtere Diabetes-Kontrolle und häufiger eine  bereits existierende Retinopathie im Vergleich zu Gesamt-Studienpopulation.  Außerdem traten Netzhaut-Komplikationen häufiger bei Patienten auf, deren HbA1c-Wert  im Verlauf der Studie schneller gesunken war – unabhängig vom Behandlungsarm. Dabei  handelt es sich um ein Phänomen, das auch von der Insulin-Behandlung bekannt  ist.

„Keine schädliche  Wirkung von Semaglutid“

Auf Nachfrage von Medscape kommentierte der Sitzungsleiter Dr. Silvio E. Inzucchi, Medizinischer Direktor des Yale Diabetes Center in New  Haven, Connecticut, die Präsentation mit folgenden Worten: „Ich bin eigentlich überzeugt  davon, dass es sich nicht um eine schädliche Wirkung von Semaglutid handelt,  sondern einer starken HbA1c-Reduktion geschuldet ist. Dieser Effekt wurde vor  allem bei Patienten mit einer bereits existierenden Retinopathie und einem  schlecht kontrollierten Diabetes beobachtet.“

Er wies darauf hin, dass eine nicht signifikant erhöhte Retinopathie-Rate  (Hazard Ratio 1,15; p = 0,33)  auch beim GLP-1-Agonisten Liraglutid (Victoza®,  Novo Nordisk) im Rahmen der LEADER-Studie vorgekommen  ist.

„Der feine Unterschied besteht darin, dass Semaglutid  einen stärkeren HbA1c-Effekt hat als Liraglutid. Es senkt den HbA1c vermutlich  deutlicher, als es bei Liraglutid in der LEADER-Studie zu beobachten war.“

Die Befunde mahnten zur Vorsicht,  wenn ein hoch wirksames, Glukose senkendes Medikament bei ähnlich  vorgeschädigten Patienten angewendet werden soll, meinte Inzucchi weiter.

„Wir sollten mit einer niedrigeren Dosis beginnen,  besonders bei Patienten mit einer bereits existierenden Retinopathie und  vor allem dann, wenn die Netzhaut-Komplikation eine intravitreale Therapie oder  Photokoagulation per Laser erfordert.“

„Wenn wir bei solchen Patienten diese  Medikamente einsetzen wollen, müssen wir sehr behutsam vorgehen, anstatt die  Dosis wie üblich rasch zu steigern (…). Die Daten waren insofern recht  überzeugend, als Patienten mit dem stärkeren Behandlungseffekt hinsichtlich der  HbA1c-Senkung auch am gefährdetsten waren.“

 
Wir sollten mit einer niedrigeren Dosis beginnen, besonders bei Patienten mit einer bereits existierenden Retinopathie. Dr. Silvio E. Inzucchi
 

Negativ-Effekt auf Patienten mit entsprechender  Vorerkrankung beschränkt

Nachdem Vilsbøll die 79 Patienten  mit bestätigter Retinopathie zu Studienbeginn aus der Gesamt-Population von 3.297 Patienten entnommen hatte, war die Retinopathie-Rate im Semaglutid-Arm gering  und mit der in der Placebo-Gruppe vergleichbar.

Die 79 Patienten mit  Netzhaut-Komplikationen litten im Schnitt seit 17,5 Jahren an Diabetes, verglichen  mit 13,9 Jahren in der Gesamt-Population. Ihr mittlerer HbA1c betrug 9,4% gegenüber 8,7% für alle Studienteilnehmer. Außerdem waren sie häufiger mit Insulin  behandelt worden (75,9% vs 58,0%).

83,5% der 79 Patienten mit  Netzhaut-Komplikationen waren zudem bereits wegen einer diabetischen  Retinopathie behandelt worden, verglichen mit einer Quote von 29,4% bei allen  Studienteilnehmern. Sie entwickelten häufiger eine proliferierende Retinopathie  (29,1% vs 6,1%) und waren öfter mit Laser oder intravitreal verabreichten  Mitteln behandelt worden (17,7% vs 3,4%).

„Diese Gruppe von Patienten  unterschied sich folglich von Beginn an vom übrigen Patientenkollektiv",  stellte sie fest.

 
Es hat den Anschein, dass Patienten mit einer sehr ausgeprägten Reduktion solche Komplikationen erleiden. Dr. Tina Vilsbøll
 

Und als in Woche 16 das Ausmaß  der HbA1c -Reduktion überprüft wurde, zeigte sich folgender Sachverhalt: Die  Netzhaut-Komplikationen traten signifikant und umso häufiger auf, je stärker  die Senkung war. Die höchsten Raten fanden sich bei Patienten mit einer  Reduktion von mehr als 1,5% und die niedrigsten bei Reduktionen von weniger als  0,5%, sowohl in der Semaglutid- als auch in der Placebo-Gruppe.

Warnhinweis für gefährdete Patienten

„Es hat also den Anschein, dass Patienten mit einer sehr  ausgeprägten Reduktion solche Komplikationen erleiden“, sagte Vilsbøll.

Auf den Zusammenhang zwischen  einer schnellen Reduktion des Glukose-Spiegels und einer Verschlechterung der  Retinopathie werde bei Insulin-Präparaten schon seit Jahrzehnten im Rahmen der  Zulassung aufmerksam gemacht, bemerkte sie.

Ihre Empfehlung lautet: „Wenn mit  einer hoch effektiven Behandlung wie der mit Semaglutid begonnen werden soll,  sollte für gefährdete Patienten ein entsprechender Hinweis vorhanden sein.“


Dieser Artikel wurde von Dr. Ingrid Horn  aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

Kommentar

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