San Diego – In der kardiovaskulären Endpunktstudie SUSTAIN 6 mit Semaglutid war es ein überraschender Befund, dass es unter dem lang wirkenden GLP-1-Agonisten der Firma Novo Nordisk bei den damit behandelten Typ-2-Diabetikern gehäuft zu Retinopathien kam. Nun liefert eine aktuelle Analyse eine plausible Erklärung dafür.
Wie Dr. Tina Vilsbøll, Klinische Direktorin am Steno Diabetes Center in Kopenhagen, bei den Wissenschaftlichen Sitzungen der Amerikanischen Diabetes Gesellschaft (ADA) berichtet hat, ist der Effekt wahrscheinlich nicht auf den Wirkstoff selbst zurückzuführen. Das Problem sei eher die zu raschee Senkung des Blutzuckerspiegels bei Patienten mit retinalen Vorschädigungen.
SUSTAIN-6 war die 2. Studie mit kardiovaskulären Endpunkten, die zeigte, dass Patienten mit Typ-2-Diabetes und einem hohen Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung von der Therapie mit einem lang wirkenden GLP-1-Agonisten profitieren: Diejenigen, die Semaglutid (1 x wöchentlich injiziert) erhielten, hatten im Verlauf von 2 Jahren ein um 26% geringeres Risiko für einen kardiovaskulären Tod, Schlaganfall oder Infarkt im Vergleich zur Placebo-Gruppe. Die Risikosenkung unter Semaglutid war signifikant.
Netzhaut-Komplikationen auffällig häufig
Auffällig war jedoch die hohe Rate von Netzhaut-Komplikationen in der Semaglutid-Gruppe: Glaskörperblutung, Erblindung oder Zustände, die eine Therapie mit einem intravitreal verabreichten Mittel oder eine Photokoagulation erforderten, waren signifikant häufiger. 3% der Patienten im Semaglutid-Arm waren davon betroffen im Vergleich zu 1,8% in der Placebo-Gruppe. Das entspricht einer Zunahme von 76% (p = 0,02).
In San Diego stellte Vilsbøll nun eine weitere SUSTAIN 6-Analyse vor, die diesen Befund geprüft hat. Sie führte 3 mögliche Gründe für dieses Missverhältnis an: Die Patienten mit den Netzhaut-Komplikationen hatten demnach zu Beginn der Studie eine schlechtere Diabetes-Kontrolle und häufiger eine bereits existierende Retinopathie im Vergleich zu Gesamt-Studienpopulation. Außerdem traten Netzhaut-Komplikationen häufiger bei Patienten auf, deren HbA1c-Wert im Verlauf der Studie schneller gesunken war – unabhängig vom Behandlungsarm. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das auch von der Insulin-Behandlung bekannt ist.
„Keine schädliche Wirkung von Semaglutid“
Auf Nachfrage von Medscape kommentierte der Sitzungsleiter Dr. Silvio E. Inzucchi, Medizinischer Direktor des Yale Diabetes Center in New Haven, Connecticut, die Präsentation mit folgenden Worten: „Ich bin eigentlich überzeugt davon, dass es sich nicht um eine schädliche Wirkung von Semaglutid handelt, sondern einer starken HbA1c-Reduktion geschuldet ist. Dieser Effekt wurde vor allem bei Patienten mit einer bereits existierenden Retinopathie und einem schlecht kontrollierten Diabetes beobachtet.“
Er wies darauf hin, dass eine nicht signifikant erhöhte Retinopathie-Rate (Hazard Ratio 1,15; p = 0,33) auch beim GLP-1-Agonisten Liraglutid (Victoza®, Novo Nordisk) im Rahmen der LEADER-Studie vorgekommen ist.
„Der feine Unterschied besteht darin, dass Semaglutid einen stärkeren HbA1c-Effekt hat als Liraglutid. Es senkt den HbA1c vermutlich deutlicher, als es bei Liraglutid in der LEADER-Studie zu beobachten war.“
Die Befunde mahnten zur Vorsicht, wenn ein hoch wirksames, Glukose senkendes Medikament bei ähnlich vorgeschädigten Patienten angewendet werden soll, meinte Inzucchi weiter.
„Wir sollten mit einer niedrigeren Dosis beginnen, besonders bei Patienten mit einer bereits existierenden Retinopathie und vor allem dann, wenn die Netzhaut-Komplikation eine intravitreale Therapie oder Photokoagulation per Laser erfordert.“
„Wenn wir bei solchen Patienten diese Medikamente einsetzen wollen, müssen wir sehr behutsam vorgehen, anstatt die Dosis wie üblich rasch zu steigern (…). Die Daten waren insofern recht überzeugend, als Patienten mit dem stärkeren Behandlungseffekt hinsichtlich der HbA1c-Senkung auch am gefährdetsten waren.“
Negativ-Effekt auf Patienten mit entsprechender Vorerkrankung beschränkt
Nachdem Vilsbøll die 79 Patienten mit bestätigter Retinopathie zu Studienbeginn aus der Gesamt-Population von 3.297 Patienten entnommen hatte, war die Retinopathie-Rate im Semaglutid-Arm gering und mit der in der Placebo-Gruppe vergleichbar.
Die 79 Patienten mit Netzhaut-Komplikationen litten im Schnitt seit 17,5 Jahren an Diabetes, verglichen mit 13,9 Jahren in der Gesamt-Population. Ihr mittlerer HbA1c betrug 9,4% gegenüber 8,7% für alle Studienteilnehmer. Außerdem waren sie häufiger mit Insulin behandelt worden (75,9% vs 58,0%).
83,5% der 79 Patienten mit Netzhaut-Komplikationen waren zudem bereits wegen einer diabetischen Retinopathie behandelt worden, verglichen mit einer Quote von 29,4% bei allen Studienteilnehmern. Sie entwickelten häufiger eine proliferierende Retinopathie (29,1% vs 6,1%) und waren öfter mit Laser oder intravitreal verabreichten Mitteln behandelt worden (17,7% vs 3,4%).
„Diese Gruppe von Patienten unterschied sich folglich von Beginn an vom übrigen Patientenkollektiv", stellte sie fest.
Und als in Woche 16 das Ausmaß der HbA1c -Reduktion überprüft wurde, zeigte sich folgender Sachverhalt: Die Netzhaut-Komplikationen traten signifikant und umso häufiger auf, je stärker die Senkung war. Die höchsten Raten fanden sich bei Patienten mit einer Reduktion von mehr als 1,5% und die niedrigsten bei Reduktionen von weniger als 0,5%, sowohl in der Semaglutid- als auch in der Placebo-Gruppe.
Warnhinweis für gefährdete Patienten
„Es hat also den Anschein, dass Patienten mit einer sehr ausgeprägten Reduktion solche Komplikationen erleiden“, sagte Vilsbøll.
Auf den Zusammenhang zwischen einer schnellen Reduktion des Glukose-Spiegels und einer Verschlechterung der Retinopathie werde bei Insulin-Präparaten schon seit Jahrzehnten im Rahmen der Zulassung aufmerksam gemacht, bemerkte sie.
Ihre Empfehlung lautet: „Wenn mit einer hoch effektiven Behandlung wie der mit Semaglutid begonnen werden soll, sollte für gefährdete Patienten ein entsprechender Hinweis vorhanden sein.“
Dieser Artikel wurde von Dr. Ingrid Horn aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Erhöhte Retinopathie-Raten unter Semaglutid: GLP-1-Agonist ist unschuldig – aktuelle SUSTAIN-6-Analyse liefert Erklärung - Medscape - 16. Jun 2017.
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