Das Betäubungsmittel Propofol spielt „für letal verlaufende Abhängigkeitserkrankungen und Suizide bei Anästhesisten und in diesem Arbeitsbereich Tätigen“ eine zentrale Rolle, heißt es in einer Studie des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil in Bochum, der Charité Berlin und des Forensisch-Toxikologischen Centrums München[1]. Und zwar in 33 von 39 untersuchten Todesfällen bei Ärzten und medizinischen Personals und damit bei 85% der untersuchten Todesfälle.
In 85 Prozent der Fälle war Propofol im Spiel
Bisher wusste man nur aufgrund von Befragungen Dritter oder aus der Betrachtung einzelner Fälle vom tödlichen Ausgang des Propofolkonsums durch Ärzte oder medizinisches Personal. Die Forscher um Prof. Dr. Christioph Maier vom Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum wollten es nun genauer wissen und fragten in 48 rechtsmedizinischen deutschsprachigen Instituten in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach: Wie oft wurden verstorbene Chirurgen und Anästhesisten oder medizinisch Tätige, vor allem Krankenschwestern und Pfleger, in den 10 Jahren von 2002 bis 2012 obduziert, um dem Verdacht des Propofolkonsums der Toten nachzugehen?
„In 16 der antwortenden 32 Abteilungen (Rücklaufquote 67%) waren 39 Todesfälle bekannt (27 Männer), alle mit vorherigem Kontakt zu Anästhesie, Intensiv- oder Rettungsmedizin (22 Ärzte, 13 Pflegende, 2 sonstige, 2 unbekannt)“, heiß es in der Zusammenfassung der Studie. „Haupttodesursache war in einem Fall eine Monoopioid-Intoxikation, in 33 Fällen (85%) Propofol, das auch von 11 der 14 Obduzierten mit bestätigtem chronischen Abusus verwendet wurde. 8 Fälle (7 unter Propofol) wurden als nichtintendierter Unfalltod, 29 als Suizid (Propofol: 24) bewertet.
Hilfsprogramm für suchtkranke Ärzte
Dass suchtkranke Ärzte, die zu Betäubungsmitteln Zugang haben, häufiger zu Propofol greifen, ist auch in der Ärztekammer Baden-Württemberg bekannt. Sie war eine der ersten Kammern, die sich des Problems „Arzt und Sucht“ angenommen hat. „Unser Interventionsprogramm für suchtkranke Ärzte steht unter dem Motto ‚Hilfe vor Strafe‘“, sagt Pressesprecher Dr. Oliver Erens. Es gehe um Fingerspitzengefühl und Sensibilität. Das Programm setzt erstens auf Beratung, zweitens auf Entzug plus Therapie und Kontrollen, „und wenn nichts fruchtet, auch auf disziplinarische Maßnahmen bis hin zum Entzug der Approbation“, so Erens.
„Die Prävalenz von Suchterkrankungen in der Bevölkerung liegt bei 2 bis 4%“, sagt Dr. Paula Hezler-Rusch, Vorsitzende des Ausschusses für Suchtmedizin der Landesärztekammer zu Medscape. Man könne davon ausgehen, dass dies im gleichen Maß bei Ärzten zutreffe, so Erens. Demnach wären etwa 1.800 Ärztinnen und Ärzte allein in Baden-Württemberg manifest suchtkrank. „Das Therapie-Angebot ist dringend nötig“, resümiert Erens.
Suchterkrankungen kommen in allen medizinischen Berufsgruppen vor, bei Weiterbildungsassistenten ebenso wie bei Klinikärzten, bei Anästhesisten ebenso wie bei Hausärzten und bei Männern wie Frauen, Jungen wie Alten. Die meisten sind alkoholkrank. Aber es fiel auf, dass Ärzte – wahrscheinlich wegen der leichteren Verfügbarkeit des Mittels – häufig zu Propofol greifen „auch in Kombination mit anderen Medikamenten“, sagt Erens.
Nur wenige Ärzte lassen sich behandeln
Seit Gründung des Interventionsprogramms vor 10 Jahren haben sich in allen 4 Bezirkskammern der Ärztekammer Baden-Württemberg je Kammer allerdings gerade mal zwischen 10 und 22 Ärzte beraten lassen, berichtet Erens. Angesichts der hohen Inzidenz ein verschwindend geringer Anteil. Einer der Gründe für die geringe Teilnahme dürfte sein, dass Ärzte um den Entzug der Approbation fürchten.
Auch wenn inzwischen viele andere Ärztekammern nachgezogen sind und eigene Beratungsangebote etabliert haben, ist der Handlungsdruck nach wie vor groß. „Eine duale Präventionsstrategie mit niedrigschwelligen Angeboten für Gefährdete und Strategien zur Frühentdeckung wie z. B. Abgabekontrollen ist dringend erforderlich“, meinen denn auch die Autoren der Studie. „ebenso eine Verbesserung der rechtsmedizinischen Dokumentation und der Einsatz toxikologischer Untersuchungen in jedem Verdachtsfall“.
In der Oberbergklinik im niedersächsischen Extertal hat man sich unterdessen auf die Versorgung von suchtkranken Ärzten spezialisiert. Hier werden Patienten mit Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit therapiert. „Immer wieder behandeln wir auch Patienten mit Propofol-Abhängigkeit oder Abhängigkeit von anderen Anästhetika“, berichtet Chefarzt Dr. Ahmad Bransi. Er erklärt, warum es Ärzten mit Suchterkrankungen so schwer fällt, sich in Behandlung zu begeben: „Es gibt immer noch den ‚Mythos Arzt‘, den Arzt, der Helfer ist, und der nicht krank werden darf“, sagt Bransi zu Medscape.
Doch die Praxis zeigt: Behandlung hilft. Zusammen mit der Ärztekammer Hamburg habe man in der Oberbergklinik einen Therapieablauf entworfen, der auf lange Sicht erfolgreich sein soll: 3 Wochen Entzug, 6 bis 7 Wochen Entwöhnung und ein anschließendes 1-jähriges Curriculum, in dessen Rahmen die Patienten Therapien in Anspruch nehmen und kontrolliert werden. Nach eigenen Angaben liegt die Erfolgsquote des Konzepts bei Alkoholentzug an den 3 Standorten der Oberbergkliniken 1 Jahr nach der planmäßig beendeten Entwöhnung bei 74%.
REFERENZEN:
1. Maier C, et al: Der Anaesthesist 2017;66(2):109-114
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Propofol vor Alkohol: Bei Medizinern ist das Anästhetikum das Sucht- und Suizidmittel der Wahl - Medscape - 14. Jun 2017.
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