Man nennt sie auch die „Big Four“ in der Behandlung von Patienten nach Herzinfarkt: ASS, Statin, ACE-Hemmer und Betablocker. Werden von den „großen 4“ bald nur noch 3 Wirkstoffe übrig bleiben – zumindest für manche Postinfarkt-Patienten?
Neue Argumente dafür liefern aktuelle Analysen eines großen britischen Herzinfarkt-Registers: Wer einen Myokardinfarkt überstanden hat und danach weder herzinsuffizient ist, noch eine linksventrikuläre Dysfunktion hat, der braucht wahrscheinlich auch keinen Betablocker. Denn dieser ändert nichts an der Überlebenschance. Das geht zumindest aus diesen Analysen hervor [1]. Kündigt sich damit das Ende einer unter Kardiologen seit langem ausgetragenen Kontroverse an?
Es sei „Zeit für einen System-Neustart“, so der Kommentar von 3 spanischen Kardiologen im Editorial des „Journal of the American College of Cardiology“ (JACC) [2]. Betablocker könnten damit aus der Standardtherapie nach akutem Myokardinfarkt herausfallen, meinen sie.
Der bekannte New Yorker Kardiologe Prof. Dr. Valentin Fuster, Herausgeber des JACC, warnt jedoch in einem Audio-Kommentar zur Publikation: „Die Resultate sollten mit Vorsicht interpretiert werden.“ Er verweist, wie im übrigen die Studienautoren selbst, auf die Registerstudien innewohnenden Limitationen. Aus den Ergebnissen ließen sich allenfalls Hypothesen ableiten. Noch sei es nicht an der Zeit, die klinische Praxis zu ändern, meint Fuster.
Mehr als 80% der überlebenden Myokardinfarkt-Patienten, schätzt er, erhalten derzeit Betablocker. Die Indikation geht auf Studien von Ende der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre zurück – sie wiesen den Nutzen damals nach. Für Herzinfarkt-Patienten mit Herzinsuffizienz gilt dieser auch als eindeutig bewiesen, im Wesentlichen weil ventrikuläre Arrhythmien und Reinfarkte verhindert werden. Dies gilt jedoch nicht für Patienten ohne Herzinsuffizienz und ohne linksventrikuläre systolische Dysfunktion (LVSD). Eine weitere Einschränkung: Viele der Erkenntnisse stammen aus Zeiten als die interventionelle Revaskularisierung (PCI) noch nicht anerkannter und breit praktizierter Goldstandard beim akutem Myokardinfarkt (AMI) war.
Sind manche Myokardinfarkt-Patienten übertherapiert?
Aus Beobachtungsstudien ist bereits seit längerem bekannt, dass offensichtlich keine signifikante Assoziation zwischen der Behandlung mit Betablockern und der Prognose bei AMI-Patienten ohne Herzinsuffizienz und ohne eingeschränkte linksventrikuläre Funktion besteht. Daten aus randomisierten prospektiven Studien dazu gibt es allerdings nicht.
Therapie-Leitlinien, etwa aus den USA und aus Europa, differieren deshalb in diesem Punkt. Die Frage ist: Werden viele AMI-Patienten weltweit übertherapiert und müssen womöglich unnötigerweise mit Nebenwirkungen der Betablocker-Therapie leben?
Es sind Daten von fast 180.000 AMI-Patienten aus England und Wales, die Dr. Tatendashe Dondo aus Leeds und ein internationales Autorenteam nun ausgewertet haben und die aus dem Myocardial Ischaemia National Audit Project (MINAP) stammen.
Die Patienten hatten in den Jahren 2007 bis 2013 einen Herzinfarkt überlebt, jeweils die Hälfte einen ST-Hebungsinfarkt (STEMI) oder einen Nicht-ST-Hebungs-Infarkt (NSTEMI).
In beiden Gruppen hatten etwa 95% der Patienten Betablocker erhalten. Als herzinsuffizient wurden jene Patienten betrachtet, bei denen dies entweder schon bekannt war, die während ihrer Hospitalisierung Schleifendiuretika erhalten hatten, oder die eine linksventrikuläre Ejektionsfraktion von unter 30% aufwiesen. Ausgewertet werden konnten knapp 9.400 Todesfälle, entsprechend 5% der Gesamtkohorte.
Nach Adjustierung: Keine Unterschiede zwischen den Mortalitätsraten
Die nichtadjustierte Auswertung bestätigte zunächst die Betablocker-Befürworter: Von den Patienten ohne Betablocker waren innerhalb eines Jahres 11,2% gestorben, von den Patienten mit Betablocker nur 4,9% – ein deutlicher Unterschied. Da jedoch nichtrandomisierte Analysen wie diese bekanntlich ein erhebliches Vezerrungsrisiko aufweisen, wendeten die Autoren 2 Propensity-Score-Analysen sowie die Statistik-Methode der Instrumentenvariablen an.
Egal welche Berechnung sie verwendeten: Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede in den Überlebenszeiten bei AMI-Patienten ohne Herzinsuffizienz oder LVSD, egal ob sie Betablocker erhalten hatten oder nicht. Zudem unterschieden sich auch die Sterberaten zu keinem einzigen Zeitpunkt innerhalb eines Jahres nach dem Infarkt. Und: Dies traf sowohl auf Patienten mit STEMI als auch auf Patienten mit NSTEMI zu.
Ähnliche Ergebnisse wie die aktuelle Studie ergaben schon Propensity-Score-Analysen aus dem REACH (Reduction of Atherothrombosis for Continued Health)-Register, publiziert vor wenigen Jahren, hier waren KHK-Patienten mit oder ohne durchgemachten Myokardinfarkt ausgewertet worden. Auch hier war die Verordnung von Betablockern nicht mit einen erniedrigten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert.
Donde und Kollegen verweisen darauf, dass „in der Ära der koronaren Revaskularisierung nach einem Infarkt die Wahrscheinlichkeit gestiegen ist, dass lebensfähiges und damit vermindert arrhythmogenes Myokard erhalten bleibt“. Schon dadurch habe sich im Vergleich zu früher das Risiko für Arrhythmien – und damit auch der potenzielle Benefit der Betablocker – verringert. Dies sei ein mögliches Argument, warum Infarkt-Patienten ohne Herzinsuffizienz und ohne LVSD vom Betablocker heutzutage kaum noch profitierten.
Als weiteres Argument weisen die Autoren der aktuellen Analyse darauf hin, dass mit zunehmender Zahl an Medikamenten, die eingenommen werden, bekanntlich die Therapieadhärenz sinke. Auch dies könne ein Grund sein, bei manchen Postinfarkt-Patienten auf Betablocker zu verzichten.
Limitationen schränken Aussagekraft der Studie ein
Fuster weist in seinem Kommentar allerdings darauf hin, dass über die in die Studie eingeschlossenen Patienten einiges unbekannt ist: Es sei unklar, wie viele Patienten im Jahr nach dem Myokardinfarkt dann doch eine Herzinsuffizienz entwickelt hätten. Und es gibt keine Informationen darüber, wie viele der Teilnehmer in dieser Zeit dann Betablocker neu verordnet bekommen bzw. wie viele sie abgesetzt hätten. Zudem unterschieden sich die Basischarakteristika der beiden Gruppen mit und ohne Betablocker in vielen Punkten deutlich.
So waren die Patienten mit Betablockern signifikant jünger und häufiger handelte es sich um Männer, wohingegen in der Gruppe ohne Betablocker häufiger Komorbiditäten sowie vergleichsweise höhere ischämische Risiken bestanden – kurz, die Patienten ohne Betablocker waren deutlich kränker als die der Vergleichsgruppe. Trotz der erwähnten statistischen Analysen, um solche Faktoren auszugleichen, verbleibe daher ein Verzerrungsrisiko, räumen auch Dondo und Kollegen ein.
Dennoch: „Dies ist eine der besten Studien, die zum Thema Post-Myokardinfarkt und Anwendung von Betablockern publiziert worden ist“, lobt Fuster. „Dieses Ergebnis trägt zur wachsenden Evidenz bei, wonach die Routine-Verordnung von Betablockern womöglich nicht indiziert ist, wenn Patienten nach akutem Myokardinfarkt eine normale Ejektionsfraktion aufweisen und nicht herzinsuffizient sind“, schreiben die Studienautoren. Doch einige Unsicherheit bleibt – und die Diskussion geht weiter.
REFERENZEN:
1. Dondo TB, et al: J Am Coll Cardiol 2017;69(22):2710-2720
2. Ibáñez B, et al: Journal of the American College of Cardiology, 2017;69(22):2721–2724
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Diesen Artikel so zitieren: Gehören Betablocker bald nicht mehr zu den „Big Four“ nach Infarkt? Registerstudie stellt Nutzen in Frage - Medscape - 14. Jun 2017.
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