MEINUNG

Deutscher Arzt, der in USA praktiziert, kritisiert Obamacare: Medicaid macht Patienten für Ärzte unattraktiv

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

14. Juni 2017

Dr. Peter Niemann

Obwohl es nicht sicher ist, ob Trumpcare sich als Alternative zu Obamacare jemals durchsetzen wird, hat der republikanische Alternativvorschlag das Lager gespalten. Wie beurteilen die Ärzte in den USA die Gesundheitsreform, die seit Jahren im Gange ist? Dr. Peter Niemann (37) stammt aus Deutschland und arbeitet seit 2009 als Arzt in den USA. Er ist Internist und Geriater. Nachdem er bis vor kurzem in der Klinik der Vanderbilt University Medical Center und im Veteranensystem in Nashville/Tennessee tätig war, wechselt er nun in das Mayo-Klinik-System. Niemann bloggt auch seit einigen Jahren über sein Arztdasein in USA.

Medscape: Sie sind als Arzt in den USA seit Jahren von der Gesundheitsreform betroffen. Ärzteverbände wie die American Medical Association (AMA) setzten sich öffentlich für Obamacare ein. Wie sehen Sie die Bedingungen für Ärzte in den USA, seit die Gesundheitsreform begonnen hat?

Dr. Niemann: Ich bin zwar auch Mitglied der AMA, wie die meisten Ärzte. Aber viele meiner Kollegen und ich sind anderer Ansicht als die AMA-Spitze. Seit Obamacare 2009 eingeführt worden ist, haben wir Ärzte eher das Problem, dass wir noch mehr Patienten bekommen, die wir nicht versorgen können. Außerdem sind über Medicaid versicherte Patienten für uns finanziell nicht attraktiv. Man hat dann zwar nachgebessert, so dass wir nun für einige Jahre höhere Sätze erhalten. Aber das haben wir Ärzte eher als Versuch gesehen, uns dazu zu bewegen, Medicaid-Patienten anzunehmen, für die wir dann eines Tages nur noch 40 oder 50 Prozent der aktuellen Vergütung bekommen.

Medscape: Also ein klares Verlustgeschäft?

Dr. Niemann: Ja, das ist ein bisschen so, als würde man ehrenamtlich Patienten behandeln. Viele von uns haben früher ehrenamtlich gearbeitet, aber das Einzige, was wir dabei investiert haben, war die eigene Zeit. Ich bin da einfach von 8 Uhr bis 14 Uhr hingegangen und wusste, das ist mein ehrenamtliches Engagement, dafür musste man nicht eigens einen Praxisapparat aufbauen. Aber es ist anders, wenn man eine eigene Praxis mit 10, 12, 15 Angestellten hat. Man bekommt das Gefühl, dass man die Patienten nicht nur durch die überhöhten Steuersätze, die man an den Staat zahlt, bezuschusst, sondern noch zusätzlich über die eigene ärztliche Tätigkeit. Das rentiert sich dann nicht mehr.

Medscape: Was tun die Ärzte dagegen?

Dr. Niemann: Man darf in den USA als Praxisarzt jeden Patienten ablehnen, außer in Notfällen. Aber sobald man einen Patienten angenommen hat, dann ist das wie im deutschen Mietverhältnis: Sobald man vermietet hat, ist es schwierig auszusteigen. Viele Ärzte sagen von sich aus, ich nehme den Medicaid-Patienten erst gar nicht an, bevor er mich höchstwahrscheinlich in die Verlustzone bringt und ich ja sowieso überlastet bin. Deshalb gibt es auch immer mehr Pflegekräfte und Pflegeassistenten, die dann zum Teil wie Ärzte arbeiten, aber den Patienten günstiger behandeln können. Ich nenne sie auch „Schwester plus“.

Medscape: Ein wiederkehrendes Argument für Obamacare ist, dass der Andrang in den Emergency Rooms der US-Kliniken riesig gewesen sein muss, da hier auch Nichtversicherte behandelt wurden. Hat sich das jetzt verändert?

Dr. Niemann: Es gibt Untersuchungen, wonach die Menschen, die vorher nicht versichert waren, fast noch genauso oft die Notaufnahme besuchen und dann zusätzlich die Praxen. Wir können keine Entlastung der Ambulanzen oder der Notaufnahmen feststellen, aber zusätzlich eine Zunahme der Patientenzahlen im ambulanten Bereich. Warum dies so ist, darüber wird spekuliert. Einerseits vermutet man, dass Praxisärzte Patienten abweisen und sagen: „Sie sind mir zu krank. Gehen Sie bitte zur Notaufnahme.“

Andererseits wird auch vermutet, dass die nun versicherten Menschen ihre Denkweise nicht grundlegend verändert haben und trotzdem in die Notaufnahmen gehen. Insgesamt hat sich das System aus meiner Sicht massiv verändert durch Obamacare. Ohne Frage, es ist positiv, dass es nun mehr Patienten gibt, die versichert sind. Das ist das, was eigentlich alle Ärzte wollen. Aber es hat sich leider auf der persönlichen Ebene für die meisten von uns negativ entwickelt. Wir Ärzte haben vor allem in den letzten 5 Jahren eine Ausweitung des Verwaltungsdrucks erlebt, der unseren Beruf aktuell unattraktiver macht. Es ist zwar nichts im Verhältnis zu Deutschland mit seinen Bergen an Dokumenten und seiner chronischen Unterbesetzung. Aber auch in den USA ist es schlechter geworden.

Medscape: Mehr öffentliche Gelder im Gesundheitssystem der USA bedeuten also auch mehr Bürokratie und Verpflichtungen für die Ärzte?

Dr. Niemann: Ja genau. Es gibt zum Beispiel eine Strafe, wenn man bestimmte Qualitätsindikatoren nicht erfüllt. Dann bekommt man 1, 2, 3 Prozent weniger Gehalt. Das betrifft zwar zunächst die Krankenhäuser, das wird aber unter Umständen auch sehr bald uns niedergelassene Ärzte betreffen. Außerdem mussten die Ärzte auch eine bestimmte EDV einführen. Ich habe zwar schon immer EDV benutzt, aber gerade für Ärzte, die Papier gewohnt sind, sind das Zusatzkosten und Zusatzaufwand. Für sie ist es umständlicher, etwas in den Computer zu tippen oder zu klicken, als es auf Papier einzutragen.

Ich habe mal versucht, den Mehraufwand zu quantifizieren: Selbst in meinem eigenen Alltag bin ich mindestens um 10 Prozent langsamer geworden als noch vor 6 Jahren. Und wenn ich das noch mit Geschwistern und Freunden vergleiche, die auch ärztlich tätig sind, gibt es welche, die haben vielleicht sogar 20 oder 25 Prozent mehr Aufwand.

Medscape: Zumindest scheint sich die Situation für viele vorher Nichtversicherte verbessert zu haben. Die AMA zum Beispiel stellte auch das Risiko dar, dass Millionen von Menschen, die jetzt in den USA versichert sind, ihren Versicherungsschutz wieder verlieren könnten, wenn die republikanische Gesetzesinitiative Erfolg hätte. Wie beurteilen Sie dies als Arzt?

Dr. Niemann: Durch die Medienberichterstattung in den USA bekommt man den Eindruck, dass es das einzig moralisch Richtige ist, mit Obamacare weiterzumachen. Und ich habe das Gefühl, dass die Spitzen in den medizinischen Fachverbänden das auch so sehen. Es wird dargestellt, als ob Amerika ein Hinterwäldlerland sei hinsichtlich der Nicht-Versicherten und benachteiligten Gruppen. In den Medien gibt es eine deutliche Tendenz zu sagen, wir müssen alle versichern, wir müssen moderner werden. Ich habe schon das Gefühl, es wird Meinung aus diesem moralischen Druck gemacht. Und ich glaube, es gehört ziemlich viel Mut dazu, sich dieser Meinung öffentlich zu widersetzen.

Medscape: Viele scheinen dennoch in den USA solidarisch finanzierte Systeme, wie wir es auch in Deutschland haben, eher kritisch zu betrachten?

Dr. Niemann: Die Freiheit des Individuums wird hier in den USA stärker betont. Zwar ist man der Ansicht, dass Schwangere und Behinderte unterstützt werden müssen und die Allgemeinheit hier einspringen muss. Aber jeder, der arbeiten kann, hat die Pflicht, für sich selber vorzusorgen. Jeder ist also selbst verantwortlich für seinen Lebensweg. Das ist die amerikanische Denkweise.

Ich bin im deutschen Gesundheits- und Solidarsystem sozialisiert worden, aber habe hier inzwischen eine modifizierte Sichtweise: Meiner Meinung nach hat jeder das Recht auf eine Behandlung im Krankheitsfall. Ich glaube trotzdem, dass eine Gesellschaft und ein Staat festlegen sollten, welche Grundkrankheiten man behandelt und welche Basismedikamente jemandem zustehen. Aber dann sollte man auch eine Grenze einführen, dass hier etwa nur 500 Medikamente für die Grundversorgung zugelassen werden. Diese Menschen können dann nicht in jedes sondern nur in bestimmte Krankenhäuser gehen. Wer aber mehr als die Grundversorgung möchte, der muss extra bezahlen bzw. sich extra versichern.

Medscape: Was erhoffen Sie sich von einer Gesundheitsreform?

Dr. Niemann: Ich erhoffe mir wieder mehr Freiheit für das Individuum und dass sich jeder aussuchen kann, ob er versichert sein möchte. Ich war ja selber fast ein Jahr als Arzt in den USA nicht versichert, weil ich mir das Geld sparen wollte. Und ich wünsche mir, dass künftig mehr steuerliche Abzüge ermöglicht werden, also wenn die Leute krank werden, sie dies auch steuerlich geltend machen können. Außerdem fände ich es besser, dass man versucht, statt auf Medicaid für alle zu setzen, Individuallösungen zu finden. Kurz gesagt, ich wünsche mir weniger Regulierungen, mehr Freiheit und bessere Alternativen anstatt Medicaid weiter auszudehnen.

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