Neue Antidiabetika und Lipidsenker im Praxistest: Halten die neuen Wirkstoffe, was sie versprechen?

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

1. Juni 2017

Mannheim – Neue Antidiabetika für immer bessere Glukosekontrolle und aggressive Cholesterinsenker wecken bei Patienten und Ärzten die Hoffnung, Volkskrankheiten wie Diabetes und koronare Herzkrankheit demnächst besser in den Griff zu bekommen. Ob diese Wirkstoffe im klinischen Alltag aber tatsächlich das halten, was der Hype um sie verspricht, haben Experten der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) kritisch unter die Lupe genommen [1].

„Die Ärzte werden zwar die neuen Medikamente verordnen, mikroangiopathische Folgeerkrankungen werden sich für Typ-2-Diabetiker allerdings dadurch nicht verringern“ – lautet die wenig optimistische Voraussage von AkdÄ-Mitglied Prof. Dr. Ulrich Müller vom Universitätsklinikum Jena. Mit neuen Medikamenten meint er speziell Di-Peptidyl-Peptidase (DDP)-4-Hemmer (Sitagliptin, Saxagliptin), SGLT2-Inhibitoren (Dapagliflozin, Empagliflozin) und lang wirkende GLP-1-Analoga (Liraglutid, Semaglutid).

Risikoreduktionen richtig deuten

Nach seiner Ansicht wird der Nutzen einer intensivierten Blutzuckersenkung mit neuen Medikamenten im Vergleich zur konservativen Therapie oft überschätzt, vor allem, da „sowohl in medizinischen Lehrbüchern als auch in den Leitlinien fast ausschließlich die relative Risikoreduktion dargestellt wird“, die oft einen wesentlich größeren Benefit einer Therapie suggeriere, wie diese – gemessen an der absoluten Risikoreduktion – dann tatsächlich habe.

„Seit Jahren kämpfe ich dafür, absolute statt relative Risikoreduktionen zu benutzen – leider fast immer vergeblich“, betont Müller im Gespräch mit Medscape. Sein Rat an die Ärzte: Bei der Interpretation von Studiendaten, etwa zur Risikominderung durch intensive Glukosekontrolle, stets darauf zu achten, ob es sich um eine absolute oder eine relative Risikominderung handelt. „Eine relative Risikoreduktion von 50% bedeutet Komplikationen bei einem statt bei zwei Patienten – jedoch muss man vor der Interpretation dieses Werts die untersuchte Patientenzahl kennen“, erklärt er. Sei etwa bei einem Kollektiv von 10 Patienten einer statt zwei Patienten von Komplikationen betroffen, betrage die absolute Risikoreduktion (ARR) 10%. Treten die Komplikationen unter 100 Patienten bei einem statt bei 2 Patienten auf, belaufe sich die ARR nur noch auf 1%. In einem Patientenkollektiv von 10.000 seien es lediglich 0,01%.

 
Die absolute Risikoreduktion hilft bei der Beurteilung der Bedeutung eines Effekts. Falsch hohe Risikoreduktionen führen zur Übertherapie. Prof. Dr. Ulrich Müller
 

„Die absolute Risikoreduktion hilft bei der Beurteilung der Bedeutung eines Effekts“, so Müllers Empfehlung. „Durch die Darstellung der relativen Risikoreduktion werden dagegen häufig falsch hohe Erwartungen geweckt, was zur Übertherapie führen könnte“, so seine Botschaft an die Teilnehmer des DGIM-Kongresses.

Obwohl im letzten Jahr gleich 3 neue Antidiabetika, Empagliflozin (EMPA-REG-OUTCOME), Liraglutid (LEADER) und Semaglutid (SUSTAIN-6), in kardiovaskulären Endpunktstudien mit signifikanten Risikoreduktionen gut abgeschnitten haben, drosselte das Mitglied der AkdÄ die Euphorie: Dadurch, dass die kardiovaskulären Sicherheitsstudien zur intensiven Glukosekontrolle seit 2013 mit kränkeren Patientenkollektiven mit längerer Diabetesdauer und geringerer HbA1c-Senkung durchgeführt wurden, seien die „Aussagen zur Reduzierung kardiovaskulärer Folgeerkrankungen limitiert“ und nicht zwangsläufig auf alle Diabetes-Patienten, von denen die meisten noch keine kardiovaskulären Folgeerkrankungen haben, übertragbar, meint Müller. In der 2016 veröffentlichten SUSTAIN-6-Sudie etwa hatten 83% der Patienten manifeste kardiovaskuläre Erkrankungen.

Zudem, erklärt er gegenüber Medscape, sei die Studiendauer, die meist 1 bis 2 Jahre betrage, zu kurz, um Aussagen über mikrovasuläre Folgeerkrankungen wie Retinopathien oder Nephropathien machen zu können, die meist erst viele Jahre später auftreten. „Soll ein Medikament ein Ereignis verhindern, das oft erst nach 10 Jahren auftritt, müssten die Studien viel länger dauern“, erklärt er.   

Bestmögliche Therapie individuell planen

Statt den neuen Präparaten „blind“ zu vertrauen, um den HbA1c-Wert um jeden Preis so nah wie möglich an den Wert eines Gesunden zu bringen, rät Müller den Medizinern, gemeinsam mit dem Patienten das persönliche Risiko einzuschätzen und daraufhin eine informierte Entscheidung zur Therapie zu treffen. Bei einer zu starken Blutzuckersenkung drohen Hypoglykämien, warnte er. Laut Erhebungen der AOK stieg die Zahl der Hypoglykämien von deutschlandweit 6,6 Millionen in 2006 auf 7,9 Millionen in 2011 an, auch aufgrund einer immer intensiveren Glukosekontrolle. Hypoglykämien, erklärte Müller, würden weniger durch ein bestimmtes Medikament als vielmehr „durch zu straffe Glukosesenkung verursacht“.

Betrachtet man die seit 2013 veröffentlichten Studien, könnten die neuen Antidiabetika eventuell für bestimmte Patientengruppen Vorteile bringen, ergänzt der Experte. „Möglicherweise haben herzkranke Diabetes-Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS) einen tatsächlichen Nutzen von den neuen Medikamenten gegenüber den älteren Präparaten“, so seine Einschätzung. Um den Nutzen der neuen versus älteren Präparaten in der Praxis für alle Patienten besser einschätzen zu können, „müssen wir Ärzte Daten aus der Patientenversorgung zusammentragen“, sagte er den DGIM-Teilnehmern.

Auch angesichts der hohen Kosten der neuen Präparate sollten Ärzte deren Performance genau evaluieren, bevor sie diese ihren Patienten verschreiben, so Müller weiter. „Die Frage stellt sich, was ist unter den neuen Medikamenten besser, die so viel mehr kosten als Metformin?“  Da die neuen Präparate bei Ärzten und somit auch bei den Patienten immer populärer werden, „wird aber ein weiterer Kostenanstieg in der Diabetestherapie nicht zu verhindern sein“, sagt er voraus.

Prof. Dr. Bernd Mühlbauer

PCSK9-Hemmer: LDL-Senkung ja, Risikominderung?

Ebenfalls kostenintensiv sind neue Medikamente in der Lipidsenkung – die Proprotein-Convertase-Subtilisin/Kexin-Typ 9 (PCSK-9)-Inhibitoren. Eine Therapie mit Evolocumab beispielsweise kostet in Deutschland rund 7.500 Euro pro Jahr. PCSK9-Inhibitoren erreichen beträchtliche LDL-Cholesterinsenkungen von teilweise mehr als 50%, erinnerte Prof. Dr. Bernd Mühlbauer, Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen Mitte und Vorstandmitglied der Arzneimittelkommission, auf dem DGIM-Kongress.

Die PCSK9-Inhibitoren wirken laut Mühlbauer nach einem pharmakologisch „phantastischen Prinzip“, da sie die Bindung von PCSK9 an den LDL-Rezeptor verhindern. Dadurch könne mehr LDL an diesen Rezeptor binden und in der Leber abgebaut werden.

 
Der therapeutische Stellenwert der zusätzlichen LDL-Senkung ist weiterhin unklar. Prof. Dr. Bernd Mühlbauer
 

Allerdings habe der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Evolocumab keinen Zusatznutzen zugebilligt, trotz „dramatischer Effekte auf die LDL-Werte“. Erst kürzlich hat allerdings die auf dem ACC-Kongress 2017 publizierte FOURIER-Studie gezeigt, dass der PCSK9-Inhibitor die kardiovaskuläre Ereignisrate senken kann. Innerhalb von 2 Jahren nahmen die kardiovaskulären Endpunkte um 2% ab. Trotz dieser positiven Outcomes zieht aber die AkdÄ ein ähnlich kritisches Fazit wie der GBA hinsichtlich der klinischen Implikationen. „Der therapeutische Stellenwert der zusätzlichen LDL-Senkung ist weiterhin unklar”, erklärte Mühlbauer auf dem DGIM-Kongress.



REFERENZEN:

1. 123. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 29. April bis 2. Mai 2017, Mannheim

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....