Bauchgurte, Bettgitter, Psychopharmaka: Experten sehen Personalmangel als Ursache für Zwang in der Pflege

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

31. Mai 2017

Wie viel Zwang gibt es in der Pflege und Behindertenhilfe in Deutschland? Welche Maßnahmen werden dabei häufig angewandt? Und was wären Alternativen? Ein schwieriges Thema, zu dem der Deutsche Ethikrat Experten mit verschiedenen Perspektiven in einer Anhörung befragte. Es war bereits die 3. derartige Anhörung – in der 1. ging es um Zwang in der Psychiatrie (wie Medscape berichtete) und in der 2. um Zwang in der Kinder- und Jugendhilfe.

Einig sind sich Allgemeinmediziner, Rehabilitationspädagogen, Vertreter von Pflegeeinrichtungen sowie von Angehörigen und Betroffenenverbänden, dass vor allem strukturelle Faktoren zum Zwang führen, etwa Zeitmangel und fehlende personelle und finanzielle Ressourcen.

Wie wird Zwang in den Altenheimen angewendet?

Die Maßnahmen sind dabei recht unterschiedlich: Zwang beginnt schon mit der Unterbringung in einem Pflegeheim gegen den Willen des Patienten. In Deutschland werden etwa 900.000 Pflegebedürftige vollstationär in 13.500 Pflegeheimen versorgt. „Zahlen dazu, wie viele Personen in einem Pflegeheim zwangsweise untergebracht sind, liegen nicht vor“, so Prof. Dr. Andreas Sönnichsen, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Familienmedizin an der Universität Witten-Herdecke in seiner schriftlichen Stellungnahme. „Aber dies dürfte beim größten Teil der Pflegebedürftigen der Fall sein.“

Unter dem „Deckmantel“ des Schutzes vor Selbstschädigung würden mitunter Zwangsmaßnahmen angewendet, „die man Menschen, die nicht auf Schutz und Pflege angewiesen sind, nie zumuten würde“, kritisiert Sönnichsen.

Innerhalb der Institutionen wird vielen Pflegebedürftigen die Freiheit entzogen – sie werden z.B. eingeschlossen, damit sie sich nicht aus der Einrichtung entfernen. Bauchgurte und Bettgitter kommen zum Einsatz oder andere Fixierungen –eben mit der Begründung, dies diene ihrem Schutz.

Forscher von der Universität Hamburg kamen in einer prospektiven Kohortenstudie aus dem Jahr 2009 in 39 Heimen mit 2.367 Pflegebedürftigen zum Ergebnis, dass die Häufigkeit von physischen Zwang und der Einsatz von psychoaktiven Medikamenten in Pflegeheimen beträchtlich sind. Die Punktprävalenz von Heimbewohnern mit mindesten einer physischen Zwangsmaßnahme betrug 26,2% und die Jahresprävalenz 39,5%.

 
Tatsache ist, dass sowohl Tranquilantien als auch Neuroleptika häufig ohne rechtfertigende Indikation und vor allem zu lange verordnet werden. Prof. Dr. Andreas Sönnichsen
 

Dabei schwankte der Einsatz von Zwang von Heim zu Heim enorm – zwischen 4,4 und 58,2%. Am häufigsten wurden Bettgitter und Bauchgurte verwendet. Doch für den häufig vorgebrachten Grund, ein Bettgitter schütze vor Stürzen aus dem Bett, gebe es keinen belastbaren Nutzennachweis, so der Allgemeinmediziner. Er verwies auf zwangfreie Alternativen wie das Niedrigbett.

Medikamente heimlich unters Essen gemischt

Noch häufiger als physische Mittel kommen laut Sönnichsen psychotrope Medikamente wie Neuroleptika oder andere Sedativa zum Einsatz. 51,8% aller Altenheimbewohner in Deutschland erhalten mindestens ein psychotropes Medikament, in Österreich sind es gar über 70%. „Häufig werden psychotrope Medikamente verordnet, ohne den Patienten über die Indikation des Medikaments aufzuklären“, schildert der Arzt. „Schlimmstenfalls werden Medikamente heimlich ins Essen gemischt oder über eine Sonde gegeben. Tatsache ist, dass sowohl Tranquilantien als auch Neuroleptika häufig ohne rechtfertigende Indikation und vor allem zu lange verordnet werden“, so Sönnichsen.

Auch die anderen vom Ethikrat befragten Experten waren sich einig, dass es einen Graubereich und hohe Dunkelziffern bei der Anwendung von Zwang in Heimen gebe. „Jede medikamentöse antipsychotische Dauertherapie sollte ebenso wie jede längerfristige freiheitseinschränkende physische Maßnahme richterlich geprüft werden“, forderte Sönnichsen. Insgesamt sei Zwang nur das letzte Mittel. Gerechtfertigt hält er freiheitsbeschränkende Maßnahmen nur kurzfristig etwa bei psychotischen Schüben oder hirnorganischem Syndrom mit Selbst- und Fremdgefährdung.

Gerade bei Menschen mit starken geistigen Behinderungen könnte gefährdendes Verhalten ein Zeichen von Kommunikation sein, wenn sie sich nicht verbal äußern könnten, erläuterten Vertreter der „leben lernen gGmbH“ am Evangelischen Diakoniewerk Königin Elisabeth in Berlin. Die Geschäftsführerin Jeannette Pella und der Pädagoge Dr. Benjamin Bell erklärten, dass herausforderndes Verhalten viele Ursachen haben könne, beispielsweise ausdrücken könne: „Mein Gegenüber hat mich nicht verstanden“ oder „Das ist mir zu viel.“

Weitere Formen von Zwang veranschaulichte Brigitte Bührlen, Vorsitzende von „Wir! Vereinigung pflegender Angehöriger in Deutschland“: So würden Bewohner etwa in Heimen erst spät aus dem Bett geholt, „aufsässige Bewohner“ separiert und über Gemeinschaftsaktivitäten nicht informiert. Zudem würden TV-Geräte mit Zeitschaltuhren versehen, Angehörige nicht über gesundheitliche Zwischenfälle informiert oder Ärzte gedrängt, wegen Personalmangels Beruhigungsmedikamente zu verordnen.

Sabine Jansen von der Alzheimer-Gesellschaft berichtete, dass Menschen mit Demenz von sozialen Aktivitäten ausgeschlossen werden, z.B. vom gemeinsamen Essen im Speisesaal oder von der Teilnahme an Aktivitäten, weil andere Bewohnern ihnen aggressiv begegneten.

 
Jede medikamentöse antipsychotische Dauertherapie sollte ebenso wie jede längerfristige freiheitseinschränkende physische Maßnahme richterlich geprüft werden. Prof. Dr. Andreas Sönnichsen
 

Aber auch pflegende Verwandte im häuslichen Bereich sind immer wieder überfordert: Pflegebedürftige werden eingesperrt, festgebunden oder allein gelassen. Türklingeln werden abgestellt, der Herd abgeschaltet. „Auch verbale und tätliche Entgleisungen kommen vor“, so Bührlen.

Auswirkungen von Zwang

Zwang entsteht oft aus strukturellen Gründen wie Zeitmangel und Personalmangel, waren sich die Experten einig. Die Auswirkungen von Zwang auf die Pflegebedürftigen bewerteten sie unterschiedlich. Vom Misstrauen gegen das Personal oder gegen den Arzt bis hin zu Traumatisierungen, aber auch von positiven Effekten wurde berichtet.

So erläuterte Günter Braun, Vorstand der Bruderhaus Diakonie in Reutlingen, dass Zwangssituationen nicht immer negativ erfahren werden – unter Umständen sogar positiv und bedeutsam sein können, wenn der Zwang kurzfristig angewendet werde, damit der gefährdete Pflegebedürftige später wieder unabhängig agieren könne.

Pella und Bell erinnerten an das Risiko, dass eine genehmigte Zwangsmaßnahme zum Selbstläufer und Automatismus werde. „Der Bewohner gewöhnt sich an den Zwang und reagiert entsprechend, wenn dieser fehlt. Die Kollegen verinnerlichen die einstige Ausnahme als „pädagogisch notwendig“. Angehörige und gesetzlich Betreuende speichern das Bild unbewusst ab, als gehöre die Maßnahme zu einer sonst „guten“ Betreuung.“

Mehr ambulante Hilfen als Lösungsansatz?

Während Allgemeinmediziner Sönnichsen vor allem die Schulung und Aufstockung von Pflegepersonal als Mittel sieht, um Zwang zu minimieren, forderte Prof. Dr. Eckhard Rohrmann vom Fachbereich Sozial- und Rehabilitationspädagogik an der Philipps-Universität Marburg, das Prinzip „ambulant vor stationär“ in der Praxis konsequenter umzusetzen.

Ein Fortschritt wäre, wenn die Zahl der Heimunterbringungen gesenkt und der Ausbau von ambulanten Diensten und individueller, selbstgewählter Wohnformen gefördert würden, so Rohrmann. „Doch statt neue ambulante Dienste und behindertengerechte Wohnungen zu schaffen, werden immer mehr Heime gebaut mit der Konsequenz, dass, die Anzahl der Heimunterbringungen nicht sinkt, sondern kontinuierlich steigt“, kritisierte er.

Ein weiteres Mittel, um Zwang zu reduzieren oder ganz zu vermeiden, könnten Leitlinien sein, betonten die Experten. In der Leitlinie „FEM: Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen in der beruflichen Altenpflege“ wird die Literatur über Interventionen zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen aufgearbeitet. Allerdings gebe es für die Schulungsprogramme des Personals nur mäßige Studienevidenz. „Hier besteht ein erheblicher Forschungsbedarf“, so Sönnichsen.

Pella und Bell berichteten über ihr Projekt „leben lernen“, in dem Wohngruppen und Tagesförderbereiche für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung angeboten werden. Dabei werde auf physischen Zwang verzichtet. Es sei möglich, von einem hohen Maß an Zwang und Fremdbestimmung wegzukommen, indem man, neue Herangehensweisen ausprobiere, sich immer dem Menschen im „Bewohner“ zuwende – so irritierend, verstörend, verletzend und unergründlich sein Verhalten zunächst auch erscheinen mag.

 
Doch statt neue ambulante Dienste und behindertengerechte Wohnungen zu schaffen, werden immer mehr Heime gebaut. Prof. Dr. Eckhard Rohrmann
 

Man arbeite etwa vor allem auch mit positiven Verstärkungen. Zwang solle immer hinterfragt werden – dies aber nicht um jeden Preis. Halt geben könne ein überschaubarer Tagesablauf und auch das Setzen von klaren Grenzen.

Feste Kriterien und Regeln für Zwangsmaßnahmen

Grauzonen für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen müssten unbedingt vermieden werden, forderten Pella und Bell. „Hiermit meinen wir nicht die heil- und förderpädagogisch orientierten Maßnehmen, sondern das Fixieren, Einschließen und medikamentöse Ruhigstellen.“ Die Zwangsmaßnahme müsse im Rahmen des geltenden Rechts erfolgen und richterlich genehmigt sein. Sie müsse zudem zeitlich begrenzt sein und nur in konkreten, exakt beschriebenen Situationen mit erheblichem selbst- bzw. fremdgefährdendem Charakter angewendet werden.

„Akute Selbstgefährdung beschränkt sich auf eine unmittelbar drohende Gefahr, beinhaltet aber nicht die Prävention von längerfristigen Risiken“, so Sönnichsen. Insgesamt sollten alternative Maßnahmen zum Zwang gesucht werden – mit aller Kraft, waren sich die Experten einig. Für ältere Menschen mit Pflegebedürftigkeit und kognitiven Einschränkungen müssen die gleichen ethischen Maßstäbe wie für jeden Menschen gelten, hob Sönnichsen hervor.



REFERENZEN:

1. Deutscher Ethikrat: Anhörung, 19. Mai 2017

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