Ärztetag diskutiert Digitalisierung: Bleibt für den Arzt nur noch die nachgeordnete Rolle?

Christian Beneker

Interessenkonflikte

30. Mai 2017

Freiburg – Nano-Roboter im Hirn, die eine direkte Verbindung zum Internet knüpfen. Oder eine Zahnbürste, die Daten des Putzens an die Krankenkasse schickt, die ihrerseits Patienten mit schlechter Zahnpflege aus der Zahnzusatzversicherung wirft. Sascha Lobo, Netzaktivist und Journalist, beschrieb auf dem 120. Deutschen Ärztetag in Freiburg die Dimension der Digitalisierung im Gesundheitswesen bis an die Grenze des „Gruseligen“, wie er selbst sagte [1]. Die zitierten Anwendungen der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind allerdings noch Zukunftsmusik.

Sascha Lobo

Aber nicht zuletzt wegen solcher Möglichkeiten rief Lobo die Ärzteschaft auf, den Stier bei den Hörnern zu packen und mehr Digitalkompetenz zu erwerben, sich einzumischen und den digitalen Wandel mitzugestalten. Denn: „Nicht die Technik verändert die Welt, sondern ihre Nutzung.“ Ziehen aber die Ärzte nicht mit, dann würde die Welt um sie herum sich weiterentwickeln, ihre Arbeit aber nicht – dann könnten Sie den Präge-Anschluss verlieren.“

Höhere Verantwortung für die Ärzte

Nach Lobos Beobachtungen wächst gerade im Gesundheitswesen die Zahl der Daten-Fans. „Im Gesundheitswesen gibt es keine natürliche Grenze mehr für die Datenbegeisterung.“ So klebt manches Elternpaar ein E-Pflaster auf ihren Säugling, um permanent seine Temperatur zu messen und sie sich über das Smartphone anzeigen zu lassen. Die Nutzer werden mehr und mehr bereit, ihre intimsten Daten zu teilen, so Lobo.

Zur Datenbegeisterung kommt die schiere Datenmasse, die exponentiell wächst. Das 1. Smartphone wurde gerade mal vor 10 Jahren vorgestellt. Heute arbeitet Google an einer App, die aus dem Foto einer Mahlzeit dessen Kalorienzahl bestimmt. Und solche Apps haben Zukunft: Im vergangenen Jahr hat die Zahl der Netzaufrufe durch mobile Endgeräte erstmals die Netzabrufe durch PCs übertroffen. Lobo sprach denn auch von der „mobilen Revolution“. Und weiter: „Wir haben einen Datenstrom in der Tasche, den wir nicht mehr kennen.“

 
Nicht die Technik verändert die Welt, sondern ihre Nutzung. Sascha Lobo
 

Kanalisieren oder gar kontrollieren lassen sich diese Datenberge nicht, aber interpretieren. Hier sieht Lobo die zukünftige Aufgabe der Ärzteschaft. Mit ihr wachse den Medizinern eine größere gesellschaftliche Verantwortung zu.

„Die Grenze zwischen Medizin und Lifestyle löst sich auf"

Das hörten die Delegierten gern. Allerdings müsse der Arzt sich zugleich daran gewöhnen, eine „nachgeordnete Rolle“ hinter den digitalisierten Gesundheitsangeboten zu übernehmen, sagte Prof. Dr. Christiane Woopen, Medizinethikerin und Direktorin der Universität zu Köln. Längst verändern die Online-Gewohnheiten der Patienten das der Ärzteschaft vertraute Feld der medizinischen Versorgung. „Die Grenze zwischen Medizin und Lifestyle löst sich auf", sagte Woopen. „An App an day keeps the doctor away.“

Prof. Dr. Christiane Woopen

Die Patienten-User denken in Lebensperspektiven und nicht in Krankheitsorientierungen, sie verstehen sich mehr als Kunde denn als Patient und kennen keinen Sektorengrenzen. Kurz: „Die Digitalisierung fördert die Selbstbestimmung der Patienten“, sagte Woopen.

Auch wenn es um die Gesundheitskompetenz hierzulande nicht besonders gut stehe, greifen immer mehr Menschen zum Smartphone, um sich über medizinische Fragen zu informieren. Also müssten sich die Ärzte nun nach der Decke strecken. Denn noch finden die Hälfte von ihnen informierte Patienten belastend und haben Angst von unangemessenen Erwartungen. „Das patriarchalische Verständnis im Arzt-Patienten-Verhältnis ist noch nicht überwunden“, sagte Woopen.

 
Wir haben einen Datenstrom in der Tasche, den wir nicht mehr kennen. Sascha Lobo
 

Die Überwindung funktioniere aber nur dann, wenn die Ärzte einsehen, dass sie ein Problem bekommen, wenn einmal eine App einfühlsamer sein wird als ein Arzt. Denn genau das verlangen die Patienten: Blickkontakt, Gespräche mit dem Arzt, Händeschütteln, etc. Paradoxerweise könnte also die Digitalisierung dazu führen, dass Ärzte und ihre Patienten nicht immer öfter per Kamera und Mikrofon kommunizieren, sondern dass sie durch professionellere Kommunikation ihr Verhältnis verbessern. „Es geht um die Rückbesinnung auf die heilende Kraft der Begegnung“, sagte Woopen: „An App a day and the doctor will stay."

 
An App a day keeps the doctor away. Prof. Dr. Christiane Woopen
 

Delegierten stimmten für Aufweichung des Fernbehandlungsverbots

Die Delegierten beschlossen denn auch eine Fülle von Forderungen, um der Digitalisierung ihrer Arbeit mehr Schwung und die rechten Grenzen zu geben. Von dem Schutz vor Cyberangriffen über ein Gütesiegel für Gesundheits-Apps bis hin zur Erlaubnis durch die „Musterberufsordnung Ärzte“, das sogenannte Fernbehandlungsverbot aufzuweichen. Die Ärztekammer soll in besonderen Einzelfällen Ausnahmen der Fernbehandlung für definierte Projekte mit wissenschaftlicher Evaluation zulassen, wenn sichergestellt ist, dass berufsrechtliche Belange nicht beeinträchtigt werden, so der Antrag. Die Delegierten nahmen ihn mit großer Mehrheit an.

 
An App a day and the doctor will stay. Prof. Dr. Christiane Woopen
 

„Die Ärzte“, sagte Woopen in ihrem Schlusswort, „sollten in einer Zukunftswerkstatt ihre Ziele in Hinblick auf die Digitalisierung in der Medizin festlegen. Wo wollen sie in 20 Jahren stehen? Damit würde ein anderer Spin in die in Deutschland festgefahrene Debatte kommen.“



REFERENZEN:

1. 120. Deutscher Ärztetag, 23. bis 26. Mai 2017, Freiburg

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....