Hamburg – War jahrzehntelang die Studienlage zur antidiabetischen Therapie, etwa im Vergleich zur Kardiologie, eher dürftig, hat sich dies in den letzten 2 Jahren komplett verändert. Es sind so viele große Endpunktstudien mit neuen Antidiabetika dazugekommen, dass die Lage eher unübersichtlich wird: Welche Konsequenzen für die Praxis haben die neuen Daten?
Ordnung in die Evidenzlage brachte Prof. Dr. Juris Meier, St. Josef Hospital des Universitätsklinikums Bochum, bei seinem Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Hamburg [1]. „Wir müssen uns nicht mehr verstecken, wir haben endlich Evidenz in der Diabetologie“, betonte Meier und arbeitete diese Evidenz chronologisch auf. Seine Schlussfolgerungen und Empfehlungen waren dabei für einige der Zuhörer durchaus überraschend.
Sulfonylharnstoffe: Der Beweis für eine kardiovaskuläre Gefahr steht aus
Er begann im Jahr 1970 als sich in der UGDP-Studie die Sulfonylharnstoffe der 1. Generation (Tolbutamid) als kardiovaskulär ungünstig erwiesen. Diesen Makel ist die antidiabetische Wirkstoff-Gruppe niemals wieder losgeworden. Dies jedoch unberechtigt, wie Meier meinte.
In der großen UKPD-Studie fand sich kein Hinweis mehr auf ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. „Und das gilt auch heute noch. Es gibt keine randomisierte kontrollierte Studie, die ein solches Risiko bestätigt. Alle Daten dazu sind retrospektiv oder stammen aus Registerstudien.“ Aus kardiovaskulärer Sicht spreche daher nichts gegen den Einsatz von Sulfonylharnstoffen der modernen Generation, bekräftigte er.
Metformin: „Keine so solide Evidenz wie oft angenommen“
Seit UKPDS gilt auch Metformin weltweit als das Antidiabetikum der ersten Wahl. „Doch wir müssen und klar machen, dies basiert auf den Daten von gerade einmal 342 übergewichtigen Teilnehmern der UKPD-Studie. Die Evidenz zum Metformin ist nicht so solide, wie wir oft annehmen“, gab er zu bedenken. „Doch ich will daran nicht rütteln.“
Darüber hinaus habe UKPDS den Nachweis erbracht, dass eine frühzeitige intensive Blutzuckersenkung beim Typ-2-Diabetes mikro- und makrovaskuläre Folgeerkrankungen verhindern könne. Und außerdem sei durch die Studie – und vor allem deren Follow-up-Periode – die Bedeutung des „Metabolischen Gedächtnisses“ deutlich geworden.
Pioglitazon: Kardiovaskulär unterschätzt?
Die nächste Studie in der Chronologie war für viele überraschend. PROACTIVE mit Pioglitazon aus dem Jahr 2005 wird nach Ansicht von Meier von vielen in ihrem Ergebnis unterschätzt. Auch in dieser Studie ging es darum, das kardiovaskuläre Risiko von Typ-2-Diabetikern zu senken, was nach Ansicht des Experten auch gelang: Der (allerdings in PROACTIVE nur sekundäre) harte Endpunkt aus Gesamtmortalität, Herzinfarkt und Schlaganfall wurde durch Pioglitazon (Actos®) signifikant um 16% gesenkt.
Diese Risikoreduktion entspreche im Ausmaß durchaus derjenigen, die in den aktuellen Endpunktstudien mit den modernen Antidiabetika erreicht werde, so Meier. Trotzdem lasse sich daraus keine generelle Empfehlung für Pioglitazon bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und hohem kardiovaskulärem Risiko ableiten. Denn zum einen war PROACTIVE im primären Endpunkt, der auch Revaskularisierungen und Amputationen bei PAVK beinhaltete, negativ ausgegangen (keine signifikante Risikoreduktion). Zum anderen seien inzwischen auch zu viele unerwünschte Effekte dieser Substanzgruppe bekannt geworden, meinte der Experte.
Trotzdem verwies er aber noch auf die im vergangenen Jahr im NEJM publizierte IRIS-Studie, in der insulinresistente Schlaganfall-Patienten ohne Diabetes Pioglitazon erhalten hatten. Auch hier reduzierte der Insulinsensitizer das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Herzinfarkt oder erneuter Schlaganfall) signifikant um 24%. Meier: „Es ist zumindest interessant, dass man auch mit dieser Substanzklasse das kardiovaskuläre Risiko reduzieren kann.“
Frühes Insulin: Bringt kardiovaskulär nichts, hat nur Nachteile
Den nächsten Kommentar widmete er der ORIGIN-Studie aus dem Jahr 2012. Sie prüfte bekanntlich, ob sich eine frühe Therapie – zum Teil sogar noch im Prädiabetes-Stadium – mit dem langwirkenden Insulinanalogon Glargin (Lantus®) günstig auf die kardiovaskuläre Prognose (primärer Endpunkt: kardiovaskuläre Mortalität, Herzinfarkt, Schlaganfall) auswirkt. Dies war jedoch nicht der Fall.
Die frühe Insulingabe hatte keine Vorteile, sondern nur Nachteile: Schwere Hypoglykämien waren häufiger (359 vs 113 Ereignisse) und die Insulinbehandelten nahmen stärker an Gewicht zu (+2,1 kg). Meiers Fazit aus ORIGIN: „Die frühe Insulintherapie bringt nichts.“
DPP-4-Hemmer: Kardiovaskulär neutral – unter Saxagliptin mehr Herzinsuffizienz
Und schließlich die Endpunktstudien mit den neuen Antidiabetika. Mit den DPP-4-Inhibitoren gibt es inzwischen 3 Studien: TECOS (mit Sitagliptin), EXAMINE (mit Alogliptin) und SAVOR (mit Saxagliptin). Alle 3 DPP-4-Hemmer erwiesen sich in den Studien als „neutral“ – das kardiovaskuläre Risiko der damit Behandelten unterschied sich nicht von dem der Placebo-Kontrollgruppe, die ebenfalls antidiabetisch behandelt wurde und ähnliche HbA1c-Werte hatte.
Einzig in SAVOR war unter Saxagliptin (Onglyza®) die Zahl der Klinikbehandlungen wegen Herzinsuffizienz signifikant erhöht. Meier: „Wir haben den Mechanismus nicht verstanden. Aber die Empfehlung lautet eindeutig: Patienten mit Typ-2-Diabetes und Herzinsuffizienz sollte man kein Saxagliptin geben!“
SGLT-2-Hemmung: Erstmals das kardiovaskuläre Risiko gesenkt – aber wie?
Der „große Moment in der Diabetologie“ war laut Meier gekommen, als im Jahr 2015 mit EMPA-REG die erste Endpunktstudie – in diesem Fall mit dem SGLT-2-Hemmer Empagliflozin (Jardiance®) – vorgestellt wurde, in der die antidiabetische Therapie das kardiovaskuläre Risiko gesenkt hatte. Auch hier war der HbA1c-Wert in den beiden Vergleichsgruppen ähnlich, so dass die Risikoreduktion nicht der Blutzuckersenkung, sondern tatsächlich einem substanzspezifischen Effekt des SGLT-2-Inhibitors zu verdanken ist, betonte Meier. „Bei EMPA-REG würde niemand sagen, das hat was mit der Blutzuckersenkung zu tun.“
Worum es sich bei diesem Effekt handelt, darüber rätseln die Experten noch. Eine Posthoc-Analyse der Studie kommt zu dem Schluss, dass primär (zu mehr als 50%) ein Volumeneffekt, der Anstieg des Hämatokrits, dafür verantwortlich sein könnte. Wie Dr. Ludwig Merker, Nephrologe und Diabetologe aus Dormagen, in der Diskussion anmerkte, ist laut dieser Analyse aber auch der Harnsäure-senkende Effekt von Empagliflozin zu 25% an den positiven Studienergebnissen beteiligt.
Wobei für Meier die kardiovaskuläre Risikominderung gar nicht das „spannendste Ergebnis“ von EMPA-REG darstellt. Das sieht er viel eher im Studienendpunkt „Verschlechterung der Nierenfunktion“ (Zunahme der Proteinurie bis hin zur Dialyse). Denn auch dieser Endpunkt nahm unter Empagliflozin signifikant um 39% ab – „und in diesem Bereich haben wir bislang eigentlich nichts“.
GLP-1-Analoga – alles eine Frage der Wirkdauer?
Bleiben die GLP-1-Analoga, mit denen es ebenfalls bislang 3 publizierte Studien gibt. „Neutral“ ging ELIXA, die erste Studie mit Lixisenatid aus. Die kardiovaskuläre Sicherheit des eher kurz (6 Stunden) wirkenden GLP-1-Analogons könne damit als belegt gelten, so Meier.
Inzwischen haben aber 2 länger wirkende Wirkstoffe dieser Gruppe (Liraglutid und Semaglutid, das sogar nur 1 Mal wöchentlich injiziert wird) gezeigt, dass sie mehr können und in der LEADER- und der SUSTAIN-6-Studie den primären Endpunkt, der in allen diesen Studien gleich war (kardiovaskuläre Mortalität, Herzinfarkt und Schlaganfall) jeweils signifikant reduziert – in LEADER mit Liraglutid (Victoza®) um 13%, in SUSTAIN-6 sogar um 26%.
Allerdings waren die Effekte auf die Einzelkomponenten in beiden Studien unterschiedlich, wie Meier anmerkte: Während in LEADER die kardiovaskuläre Mortalität um 22% abnahm, der Effekt auf das das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko aber nicht signifikant war, führte SUSTAIN-6 zu genau entgegengesetzten Ergebnissen: Bei den kardiovaskulären Todesfällen zeigte sich nichts, doch war die Zahl der Schlaganfälle um 39% und die der Myokardinfarkte um 26% unter dem einmal wöchentlichen GLP-1-Analogon verringert.
Unter dem neuen Semaglutid vermehrt Retinopathien
„Überraschend“ war laut Meier auch, dass obwohl in beiden Studien mit den lang wirkenden GLP-1-Analoga ebenfalls die renalen Endpunkte reduziert wurden, in SUSTAIN-6 unter Semaglutid signifikant vermehrt Retinopathien aufgetreten waren (50 vs 29 Ereignisse, darunter laut Meier sogar Erblindungen). „Bislang wissen wir nicht, um es sich um eine direkte proliferative Wirkung der Substanz oder um die Folge der schnellen Blutzuckersenkung handelt.“ Semaglutid ist ebenfalls (wie Liraglutid) eine Entwicklung von Novo Nordisk und bislang auf dem Markt nicht erhältlich.
Klar ist, dass bei den neuen kardiovaskulären Endpunktstudien mit Antidiabetika wohl substanzspezifische Effekte viel stärker zum Tragen kommen und es schwierig oder kaum möglich ist, die Studienergebnisse innerhalb der Wirkstoffgruppen zu generalisieren.
Prof. Dr. Jochen Seuffert, Universitätsklinikum Freiburg, spekulierte in seinem Vortrag bei der DDG-Tagung darüber, dass es bei den GLP-1-Analoga eventuell auf die lange Halbwertszeit ankommt, um die günstigen kardiovaskulären Wirkungen zu vermitteln. Und er verwies auch darauf, dass sich diese Substanzen zusätzlich günstig auf Körpergewicht und Blutdruck auswirken.
Kardiovaskuläre Endpunktstudien bei Diabetes: Weitere kommen
Ob die Dauer der Wirkung tatsächlich einen wichtigen Einfluss hat, wird vielleicht schon in wenigen Monaten klarer sein. Dann soll EXSCEL, die kardiovaskuläre Sicherheitsstudie mit dem kürzer wirkenden Exenatid (Byetta ®), beim europäischen Diabeteskongress in Lissabon vorgestellt werden. Vor wenigen Tagen hat das Unternehmen AstraZeneca bereits mitgeteilt, dass die Studie „ihren primären Sicherheits-Endpunkt erreicht“ habe und dass die kardiovaskuläre Ereignisrate unter dem GLP-1-Analogon zwar zahlenmäßig – aber nicht signifikant – niedriger gewesen sei als in der Kontrollgruppe.
Und bereits Anfang Juni soll beim Kongress der American Diabetes Association (ADA) in San Diego die CANVAS-Studie mit dem SGLT-2-Hemmer Canagliflozin (Invokana®) Hinweise liefern, ob zumindest bei diesen Antidiabetika der kardiovaskuläre Benefit ein Gruppeneffekt ist. CANVAS hatte Aufsehen erregt, weil eine erhöhte Rate an Zehenamputationen unter Canagliflozin in dieser Studie die EMA veranlasst hatte, eine Sicherheitsprüfung in Gang zu setzen und das Unternehmen Janssen Cilag zu Warnhinweisen in den Produktinformationen zu verpflichten. Allerdings ist Canagliflozin in Deutschland nicht auf dem Markt.
REFERENZEN:
1. Tagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), 24. bis 27. Mai 2017, Hamburg
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Endlich Evidenz durch große Endpunktstudien in der Diabetologie – aber was heißt das für die Praxis? - Medscape - 29. Mai 2017.
Kommentar