Endlich Evidenz durch große Endpunktstudien in der Diabetologie – aber was heißt das für die Praxis?

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

29. Mai 2017

Hamburg – War jahrzehntelang die Studienlage zur antidiabetischen  Therapie, etwa im Vergleich zur Kardiologie, eher dürftig, hat sich dies in den  letzten 2 Jahren komplett verändert. Es sind so viele große Endpunktstudien mit  neuen Antidiabetika dazugekommen, dass die Lage eher unübersichtlich wird:  Welche Konsequenzen für die Praxis haben die neuen Daten?

Ordnung in die Evidenzlage brachte Prof. Dr. Juris Meier, St. Josef Hospital des Universitätsklinikums  Bochum, bei seinem Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Diabetes  Gesellschaft (DDG) in Hamburg [1]. „Wir müssen uns nicht mehr verstecken, wir haben endlich Evidenz in der  Diabetologie“, betonte Meier und arbeitete diese Evidenz chronologisch  auf. Seine Schlussfolgerungen und Empfehlungen waren dabei für einige der  Zuhörer durchaus überraschend.

Sulfonylharnstoffe:  Der Beweis für eine kardiovaskuläre Gefahr steht aus

Er begann im Jahr 1970 als sich in der UGDP-Studie die Sulfonylharnstoffe der 1. Generation (Tolbutamid) als kardiovaskulär  ungünstig erwiesen. Diesen Makel ist die antidiabetische Wirkstoff-Gruppe  niemals wieder losgeworden. Dies jedoch unberechtigt, wie Meier meinte.

 
Wir müssen uns nicht mehr verstecken, wir haben endlich Evidenz in der Diabetologie. Prof. Dr. Juris Meier
 

In der großen UKPD-Studie fand sich kein Hinweis mehr auf  ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. „Und das gilt auch heute noch. Es gibt  keine randomisierte kontrollierte Studie, die ein solches Risiko bestätigt.  Alle Daten dazu sind retrospektiv oder stammen aus Registerstudien.“ Aus  kardiovaskulärer Sicht spreche daher nichts gegen den Einsatz von  Sulfonylharnstoffen der modernen Generation, bekräftigte er.

Metformin: „Keine  so solide Evidenz wie oft angenommen“

Seit UKPDS gilt auch Metformin weltweit als das  Antidiabetikum der ersten Wahl. „Doch wir müssen und klar machen, dies basiert  auf den Daten von gerade einmal 342 übergewichtigen Teilnehmern der  UKPD-Studie. Die Evidenz  zum Metformin ist nicht so solide, wie wir oft annehmen“, gab er zu  bedenken. „Doch ich will daran nicht rütteln.“

Darüber hinaus habe UKPDS den Nachweis erbracht, dass  eine frühzeitige intensive Blutzuckersenkung beim Typ-2-Diabetes mikro- und  makrovaskuläre Folgeerkrankungen verhindern könne. Und außerdem sei durch die  Studie – und vor allem deren Follow-up-Periode – die Bedeutung des  „Metabolischen Gedächtnisses“ deutlich geworden.

Pioglitazon:  Kardiovaskulär unterschätzt?

Die nächste Studie in der Chronologie war für viele  überraschend. PROACTIVE mit Pioglitazon aus dem Jahr 2005  wird nach Ansicht von Meier von vielen in ihrem Ergebnis unterschätzt. Auch in  dieser Studie ging es darum, das kardiovaskuläre Risiko von Typ-2-Diabetikern  zu senken, was nach Ansicht des Experten auch gelang: Der (allerdings in  PROACTIVE nur sekundäre) harte Endpunkt aus Gesamtmortalität, Herzinfarkt und  Schlaganfall wurde durch Pioglitazon (Actos®) signifikant um 16% gesenkt.

 
Die Evidenz zum Metformin ist nicht so solide, wie wir oft annehmen. Prof. Dr. Juris Meier
 

Diese Risikoreduktion entspreche im Ausmaß durchaus  derjenigen, die in den aktuellen Endpunktstudien mit den modernen Antidiabetika  erreicht werde, so Meier. Trotzdem lasse sich daraus keine generelle Empfehlung  für Pioglitazon bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und hohem kardiovaskulärem  Risiko ableiten. Denn zum einen war PROACTIVE im primären Endpunkt, der auch  Revaskularisierungen und Amputationen bei PAVK beinhaltete, negativ ausgegangen  (keine signifikante Risikoreduktion). Zum anderen seien inzwischen auch zu  viele unerwünschte Effekte dieser Substanzgruppe bekannt geworden, meinte der Experte.

Trotzdem verwies er aber noch auf die im vergangenen Jahr  im NEJM publizierte IRIS-Studie, in der  insulinresistente Schlaganfall-Patienten ohne Diabetes Pioglitazon erhalten  hatten. Auch hier reduzierte der Insulinsensitizer das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Herzinfarkt oder erneuter Schlaganfall)  signifikant um 24%. Meier: „Es  ist zumindest interessant, dass man auch mit dieser Substanzklasse das  kardiovaskuläre Risiko reduzieren kann.“

Frühes Insulin:  Bringt kardiovaskulär nichts, hat nur Nachteile

Den nächsten Kommentar widmete er der ORIGIN-Studie aus dem Jahr 2012. Sie prüfte  bekanntlich, ob sich eine frühe Therapie – zum Teil sogar noch im  Prädiabetes-Stadium – mit dem langwirkenden Insulinanalogon Glargin (Lantus®)  günstig auf die kardiovaskuläre Prognose (primärer Endpunkt: kardiovaskuläre  Mortalität, Herzinfarkt, Schlaganfall) auswirkt. Dies war jedoch nicht der  Fall.

Die frühe Insulingabe hatte keine Vorteile, sondern nur  Nachteile: Schwere Hypoglykämien waren häufiger (359 vs 113 Ereignisse) und die  Insulinbehandelten nahmen stärker an Gewicht zu (+2,1 kg). Meiers Fazit aus  ORIGIN: „Die frühe Insulintherapie bringt nichts.“ 

DPP-4-Hemmer:  Kardiovaskulär neutral – unter Saxagliptin mehr Herzinsuffizienz

Und schließlich die Endpunktstudien mit den neuen  Antidiabetika. Mit den DPP-4-Inhibitoren gibt es inzwischen 3 Studien: TECOS (mit Sitagliptin), EXAMINE (mit Alogliptin) und SAVOR (mit Saxagliptin). Alle 3 DPP-4-Hemmer  erwiesen sich in den Studien als „neutral“ – das kardiovaskuläre Risiko der  damit Behandelten unterschied sich nicht von dem der Placebo-Kontrollgruppe,  die ebenfalls antidiabetisch behandelt wurde und ähnliche HbA1c-Werte hatte.

Einzig in SAVOR war unter Saxagliptin (Onglyza®) die Zahl  der Klinikbehandlungen wegen Herzinsuffizienz signifikant erhöht. Meier: „Wir  haben den Mechanismus nicht verstanden. Aber die Empfehlung lautet eindeutig:  Patienten mit Typ-2-Diabetes und Herzinsuffizienz sollte man kein Saxagliptin  geben!“

 
Es ist zumindest interessant, dass man auch mit dieser Substanzklasse (die Glitazone) das kardiovaskuläre Risiko reduzieren kann. Prof. Dr. Juris Meier
 

SGLT-2-Hemmung:  Erstmals das kardiovaskuläre Risiko gesenkt – aber wie?

Der „große Moment in der Diabetologie“ war laut Meier  gekommen, als im Jahr 2015 mit EMPA-REG die erste Endpunktstudie – in diesem  Fall mit dem SGLT-2-Hemmer Empagliflozin (Jardiance®) – vorgestellt wurde, in  der die antidiabetische Therapie das kardiovaskuläre Risiko gesenkt hatte. Auch  hier war der HbA1c-Wert in den beiden Vergleichsgruppen ähnlich, so dass die  Risikoreduktion nicht der Blutzuckersenkung, sondern tatsächlich einem  substanzspezifischen Effekt des SGLT-2-Inhibitors zu verdanken ist, betonte  Meier. „Bei EMPA-REG würde  niemand sagen, das hat was mit der Blutzuckersenkung zu tun.“

Worum es sich bei diesem Effekt handelt, darüber rätseln  die Experten noch. Eine Posthoc-Analyse der Studie kommt zu dem Schluss, dass primär  (zu mehr als 50%) ein Volumeneffekt, der Anstieg des Hämatokrits, dafür  verantwortlich sein könnte. Wie Dr. Ludwig Merker, Nephrologe und Diabetologe aus Dormagen, in der Diskussion  anmerkte, ist laut dieser Analyse aber auch der Harnsäure-senkende Effekt von  Empagliflozin zu 25% an den positiven Studienergebnissen beteiligt.

Wobei für Meier die kardiovaskuläre Risikominderung gar  nicht das „spannendste Ergebnis“ von EMPA-REG darstellt. Das sieht er viel eher  im Studienendpunkt „Verschlechterung der Nierenfunktion“ (Zunahme der  Proteinurie bis hin zur Dialyse). Denn auch dieser Endpunkt nahm unter Empagliflozin signifikant um 39% ab – „und in diesem Bereich haben wir bislang eigentlich  nichts“.

GLP-1-Analoga –  alles eine Frage der Wirkdauer?

Bleiben die GLP-1-Analoga, mit denen es ebenfalls bislang  3 publizierte Studien gibt. „Neutral“ ging ELIXA, die erste Studie mit Lixisenatid aus.  Die kardiovaskuläre Sicherheit des eher kurz (6 Stunden) wirkenden  GLP-1-Analogons könne damit als belegt gelten, so Meier.

Inzwischen haben aber 2 länger wirkende Wirkstoffe dieser  Gruppe (Liraglutid und Semaglutid, das sogar nur 1 Mal wöchentlich injiziert  wird) gezeigt, dass sie mehr können und in der LEADER- und der SUSTAIN-6-Studie den primären Endpunkt, der in  allen diesen Studien gleich war (kardiovaskuläre Mortalität, Herzinfarkt und  Schlaganfall) jeweils signifikant reduziert – in LEADER mit Liraglutid (Victoza®) um 13%, in SUSTAIN-6 sogar um 26%.

 
Bei EMPA-REG würde niemand sagen, das hat was mit der Blutzuckersenkung zu tun. Prof. Dr. Juris Meier
 

Allerdings waren die Effekte auf die Einzelkomponenten in  beiden Studien unterschiedlich, wie Meier anmerkte: Während in LEADER die  kardiovaskuläre Mortalität um 22% abnahm, der Effekt auf das das Herzinfarkt-  und Schlaganfallrisiko aber nicht signifikant war, führte SUSTAIN-6 zu genau  entgegengesetzten Ergebnissen: Bei den kardiovaskulären Todesfällen zeigte sich  nichts, doch war die Zahl der Schlaganfälle um 39% und die der Myokardinfarkte  um 26% unter dem einmal wöchentlichen GLP-1-Analogon verringert.

Unter dem neuen  Semaglutid vermehrt Retinopathien

„Überraschend“ war laut Meier auch, dass obwohl in beiden  Studien mit den lang wirkenden GLP-1-Analoga ebenfalls die renalen Endpunkte  reduziert wurden, in SUSTAIN-6 unter Semaglutid signifikant vermehrt  Retinopathien aufgetreten waren (50 vs 29 Ereignisse, darunter laut Meier sogar  Erblindungen). „Bislang wissen wir nicht, um es sich um eine direkte  proliferative Wirkung der Substanz oder um die Folge der schnellen  Blutzuckersenkung handelt.“ Semaglutid ist ebenfalls (wie Liraglutid) eine  Entwicklung von Novo Nordisk und bislang auf dem Markt nicht erhältlich.

Klar ist, dass bei den neuen kardiovaskulären  Endpunktstudien mit Antidiabetika wohl substanzspezifische Effekte viel stärker  zum Tragen kommen und es schwierig oder kaum möglich ist, die Studienergebnisse  innerhalb der Wirkstoffgruppen zu generalisieren.

Prof. Dr. Jochen  Seuffert, Universitätsklinikum Freiburg,  spekulierte in seinem Vortrag bei der DDG-Tagung darüber, dass es bei den  GLP-1-Analoga eventuell auf die lange Halbwertszeit ankommt, um die günstigen  kardiovaskulären Wirkungen zu vermitteln. Und er verwies auch darauf, dass sich  diese Substanzen zusätzlich günstig auf Körpergewicht und Blutdruck auswirken.

Kardiovaskuläre  Endpunktstudien bei Diabetes: Weitere kommen

Ob die Dauer der Wirkung tatsächlich einen wichtigen  Einfluss hat, wird vielleicht schon in wenigen Monaten klarer sein. Dann soll EXSCEL,  die kardiovaskuläre Sicherheitsstudie mit dem kürzer wirkenden Exenatid (Byetta  ®), beim europäischen  Diabeteskongress in Lissabon vorgestellt werden. Vor wenigen Tagen hat das  Unternehmen AstraZeneca bereits mitgeteilt, dass die  Studie „ihren primären Sicherheits-Endpunkt erreicht“ habe und dass die  kardiovaskuläre Ereignisrate unter dem GLP-1-Analogon zwar zahlenmäßig – aber  nicht signifikant – niedriger gewesen sei als in der Kontrollgruppe. 

Und bereits Anfang Juni soll beim Kongress der American  Diabetes Association (ADA) in San Diego die CANVAS-Studie mit dem SGLT-2-Hemmer Canagliflozin (Invokana®) Hinweise liefern, ob zumindest  bei diesen Antidiabetika der kardiovaskuläre Benefit ein Gruppeneffekt ist.  CANVAS hatte Aufsehen erregt, weil eine erhöhte Rate an Zehenamputationen unter  Canagliflozin in dieser Studie die EMA veranlasst hatte, eine Sicherheitsprüfung in Gang zu setzen und das  Unternehmen Janssen Cilag zu Warnhinweisen in den Produktinformationen zu  verpflichten. Allerdings ist Canagliflozin in Deutschland nicht auf dem Markt.



REFERENZEN:

1. Tagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), 24. bis 27. Mai 2017, Hamburg

Kommentar

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