Hamburg – Was sind die Konsequenzen aus den kardiovaskulären Endpunktstudien der letzten Jahre? Benötigen wir für Patienten mit Typ-2-Diabetes neue Zielwerte – in der Blutzuckereinstellung, aber auch beim Blutdruck und den Blutlipiden? Gilt in allen 3 Bereichen „the lower the better“? Dies war die Frage, mit der sich eine Expertenrunde bei einer vielbesuchten Veranstaltung auf der Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), die derzeit in Hamburg stattfindet, beschäftigte [1].
Und die Antwort? Klar ist, es ist durch die neuen Studiendaten viel an Evidenz hinzugekommen – und dies hat auch Auswirkungen auf die Praxis. Empfehlungen und Leitlinien wurden bereits angepasst – oder werden es wohl noch werden. Doch es sind auch neue Fragen aufgetaucht.
Immer noch sind kardiovaskuläre Ereignisse die Morbiditäts- und Mortalitätsursache Nummer 1 bei Patienten mit Typ-2-Diabetes. Einig waren sich die Experten, über den Stellenwert der einzelnen Risikofaktoren und die Evidenz, was die Intervention an den einzelnen Faktoren für die Prognose bringt.
Das Experten-Ranking: Statine, Antihypertensiva und erst dann Antidiabetika
Ihr Ranking: Die Statine und die Lipidsenkung stehen nach wie vor an 1. Stelle, für sie gibt es die höchste Evidenz und sie bringen (auch beim Typ-2-Diabetiker) prognostisch am meisten. An 2. Position kommt die antihypertensive Therapie und prognostisch den geringsten Einfluss hat die Blutzuckersenkung mit Antidiabetika. Daran hat sich auch durch den positiven Ausgang einiger kardiovaskulärer Endpunktstudie mit neuen Antidiabetika wie dem GLP-1-Analogon Liraglutid oder dem SGLT-2-Inhibitor Empagliflozin nichts geändert, machte Prof. Dr. Monika Kellerer, Ärztliche Direktorin am Zentrum für Innere Medizin I am Marienhospital, Stuttgart, deutlich.
Jedoch: In der Praxis beim Patienten sieht diese Reihenfolge oft gerade umgekehrt aus. „Die Patienten würden in der Regel zuerst das Statin weg lassen, dann den Blutdrucksenker und als letztes das Antidiabetikum“, so Prof. Dr. Stephan Jacob, Internist und Diabetologe aus Villingen-Schwenningen, der einer der Vorsitzenden der Veranstaltung war. „Wir müssen den Patienten klar machen, wo die Evidenz ist – und wo wir tatsächlich die Prognose verbessern können.“
Der HbA1c-Wert – am „Zielkorridor“ ändert sich nichts
In den derzeit gültigen Empfehlungen und Leitlinien zur antidiabetischen Therapie wird sowieso kein fixer HbA1c-Grenzwert mehr empfohlen, erinnerte Kellerer in ihrem Vortrag. Vielmehr hat man sich auf einen „Zielkorridor“ geeinigt, der zwar individuell angepasst werden soll, aber, so die Diabetologin, „bei einem HbA1c-Bereich zwischen 6,5 und 7,5 Prozent für die meisten Patienten mit Typ-2-Diabetes sinnvoll und passend ist“.
Noch immer berufe man sich dabei auf die inzwischen 20 Jahre alten Daten der UKPD-Studie, in der die Reduktion des HbA1c-Wertes von im median 7,9 auf 7,0% einen – so Kellerer – „zwar nicht übermäßigen“, aber immerhin signifikanten Einfluss auf das Risiko diabetischer Folgeerkrankungen hatte. Eine Senkung des HbA1c auf noch niedrigere Werte wird bei Typ-2-Diabetes normalerweise nicht mehr angepeilt. Dies als Konsequenz des neutralen oder sogar negativen Ausgangs der 3 Studien ACCORD, ADVANCE/Glukosesenkung und VADT, in denen eine intensive Glukosesenkung mit einem HbA1c-Ziel von 6,5% oder niedriger angestrebt worden war.
Kellerer verwies jedoch auch darauf, dass in diesen Studien die strikte und rasche HbA1c-Senkung zu einem signifikant erhöhten Risiko für schwere Hypoglykämien, aber auch zu deutlichen Gewichtszunahmen beigetragen hatte. „Beides hat sich eventuell negativ auf das kardiovaskuläre Risiko ausgewirkt.“
Zum Wert der HbA1c-Senkung sagen neue Studien nichts
Beides – Hypoglykämie-Risiko und Gewichtszunahme – hat man mit den neuen Antidiabetika wie Gliptinen, GLP-1-Analoga und SGLT2-Hemmern nicht mehr. Und in den großen kardiovaskulären Endpunktstudien wie EMPA-REG (mit Empagliflozin), LEADER (mit Liraglutid) und SUSTAIN-6 (mit Semaglutid) konnten tatsächlich ein SGLT-2-Hemmer und 2 lang wirkende GLP-1-Analoga das kardiovaskuläre Risiko der Typ-2-Diabetiker senken. Doch es gibt bei diesen Studien einen „gewichtigen Unterschied“, betonte Kellerer: „Diese Studien können nicht im Konzept der HbA1c-Senkung interpretiert werden!“
Denn es handelte sich um kardiovaskuläre Sicherheitsstudien – deren Ziel es war, substanzspezifische (negative) kardiovaskuläre Wirkungen dieser Antidiabetika zu prüfen. Eigentlich sollten in diesen Studien in Verum- und Placebo-Gruppe die HbA1c-Werte gleich sein – tatsächlich waren sie dann doch meist unter dem zusätzlichen Antidiabetikum etwas niedriger (um 0,3 bis 0,4%punkte).
Aber auch wenn Studien wie EMPA-REG, LEADER und SUSTAIN-6 nicht auf HbA1c-Senkung ausgelegt waren, zeigen sie doch substanzspezifische günstige kardiovaskuläre Effekte, sie erhöhten nicht das Hypoglykämie-Risiko und wirkten sich sogar günstig auf Körpergewicht und Blutdruck aus. Für Empagliflozin gibt es sogar eine Zusatz-Auswertung die positive Wirkungen auf renale Endpunkte wie Proteinurie und Dialyse-Risiko zeigt.
Trotzdem, so Kellerer, „gibt es auch bei den neuen Substanzen einen Wermutstropfen“. Und der sei, dass es bislang nicht gelungen sei nachzuweisen, dass sie auch mikroangiopathische Endpunkte am Auge günstig beeinflussen – ganz im Gegenteil gab es in der SUSTAIN-6-Studie mit Semaglutid sogar Hinweise auf ein erhöhtes Retinopathie-Risiko.
Und die Konsequenz? Kellerer sieht zwar keinen Anlass, an den HbA1c-Zielwerten zu schrauben, aber vielleicht doch Anzeichen für einen „Paradigmenwechsel“ in der antidiabetischen Therapie: Weg von der Fokussierung auf die HbA1c-Senkung, hin zu einer Ausnutzung substanzspezifischer Effekte einiger Antidiabetika, um das kardiovaskuläre Risiko der Patienten zu senken.
Die Blutdruckziele für Typ-2-Diabtiker wurden sogar höher gesetzt
Auch beim Blutdruck gibt es die „the-lower-the-better“-Diskussion – unter anderem wieder angeheizt durch die Ergebnisse der SPRINT-Studie. Doch egal wie man diese Studie interpretiert – primär hieß die Schlussfolgerung ja „120 ist das neue 140“ bezüglich der systolischen Blutdruckziele, was inzwischen aber von vielen Experten wieder relativiert wird – für Diabetiker hat diese Studie sowieso keine Aussagekraft. Denn Patienten mit Typ-2-Diabetes waren explizit ausgeschlossen, machte Prof. Dr. Peter Trenkwalder, Starnberg, Vorstandsmitglied der Deutschen Hochdruckliga (DHL), deutlich.
Ganz im Gegenteil sieht man bei den Blutdruckzielen für Typ-2-Diabetiker eher eine gegenteilige Bewegung: Galt im Jahr 2007 noch ein Ziel von unter 130/80 mmHg, hat man dies in den europäischen Leitlinien (ESH/ESC) inzwischen auf unter 140/85 mmHg hochgesetzt. In der deutschen nationalen Versorgungs-Leitlinie (NVL) wird ein Wert unter 140/80 mmHg empfohlen.
Trenkwalder fokussierte in seinem Vortrag auf 2 aktuelle Metaanalysen und eine große Registerauswertung – und, so wurde deutlich, will den niedrigeren Zielwerten (zumindest für einige Patientengruppen) noch nicht vollkommen abschwören. Die Metaanalysen und die gelockerten Blutdruck-Zielwerte für Diabetiker werden stark beeinflusst vom Ausgang der ACCORD-Blutdrucksenkungs-Studie. In ihr hatte bekanntlich die „noch intensivere Blutdrucksenkung“ (ein Zielwert unter 140 im Vergleich zu unter 120 mmHg systolisch) keinen signifikanten Benefit bezüglich des kombinierten primären Endpunkts der Studie (Herzinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulärer Tod) gebracht, aber mehr Nebenwirkungen verursacht. Aber, so betonte Trenkwalder, beim Einzel-Endpunkt Schlaganfall ergab sich durchaus ein hochsignifikanter Vorteil zugunsten der intensiven Blutdrucksenkung.
Für „gesunde“ Typ-2-Patienten sind vielleicht striktere Blutdruckziele geeigneter
In einer schwedischen landesweiten Registerauswertung haben die Autoren diejenigen Patienten mit Typ-2-Diabetes selektiv ausgewertet, die keine weiteren Morbiditäten hatten. Tatsächlich ergab sich für diese relativ gesunde Diabetikerpopulation ohne Begleiterkrankungen, dass sie auch von niedrigeren Blutdruckzielen profitieren, berichtete Trenkwalder.
Gerade unter dem Aspekt der Schlaganfallprävention lohne es daher vielleicht doch, meinte der Hochdruck-Experte, bei solchen eher gesunden und jungen Diabetespatienten ohne bestehende Endorganschäden niedrigere Ziel-Blutdruckwerte anzustreben. Jacob pflichtete ihm bei und plädierte dafür, gerade bei der Blutdrucksenkung das „Konzept des vulnerablen Patienten“ zu beachten. Trenkwalder: „Beim 85-jährigen Pflegeheim-Bewohner mit Diabetes und z.B. einer 3.Gefäßerkrankung ist das Hypotonie-Risiko, etwa nachts, nicht zu unterschätzen!“
Was die zu bevorzugenden Antihypertensiva angeht, plädiert Trenkhofer bei Typ-2-Diabetikern für die RAS-Hemmer in Kombination mit einem Diuretikum oder Kalziumantagonisten – da hier die Studienlage die beste Evidenz für einen positiven Effekt auf die Prognose liefere.
Lipide – der Trend zum „the lower the better“ ist ungebrochen
Keinen Zweifel am „The-lower-the better“-Konzept gibt es zumindest bei der Senkung der Blutfette – und dies gilt auch beim Patienten mit Typ-2-Diabetes. Was sich hier geändert hat: „Früher dachten wir, dies gilt vielleicht nur für die Statine. Heute wissen wir, es gilt auch für andere Wirkstoffe“, betonte Prof. Dr. Klaus Parhofer, München. Er verwies auf die IMPROVE-IT-Studie mit Ezetimib, die das „The lower-the-better“-Konzept bestätigt habe, und auf die kürzlich publizierte FOURIER-Studie, in der der PCSK-9-Hemmer Evolocumab die kardiovaskuläre Ereignisrate (zusätzlich zum Statin) weiter reduzierte – wobei bislang utopische LDL-Zielwerte erreicht worden waren (im Median 30 mg/dl).
Eine seiner Hauptbotschaften: Was sich mit der LDL-Senkung prognostisch erreichen lässt, ist vor allem vom Ausgangsrisiko des Patienten abhängig. Allerdings: Bei der Bestimmung dieses Ausgangsrisikos gebe es noch Optimierungsbedarf, meinte Parhofer. „Wir brauchen bessere Algorithmen, um die mit erhöhtem Risiko frühzeitig herauszufiltern.“
Doch bei solchen Hochrisiko-Kandidaten lohne dann durchaus eine sehr aggressive LDL-Senkung. In den ganz neuen US-Leitlinien der AACE (American Association of Clinical Endocinologists/American College of Endocrinology) ist eine neue Kategorie von Patienten mit „extremem Risiko“ definiert worden, für die nun ein LDL-Ziel von unter 55 mg/dl gilt. Dazu gehören Patienten mit progredienter arteriosklerotischer Erkrankung trotz LDL unter 70 mg/dl sowie solche mit Diabetes, fortgeschrittener Niereninsuffizienz (CKD ¾) oder familiärer Hypercholesterinämie (HeFH) sowie Jüngere (Männer unter 55, Frauen untere 65) jeweils plus nachgewiesener kardiovaskulärer Erkrankung.
Auch für die hiesigen Leitlinien, meinte Parhofer, sei nicht auszuschließen, dass „mit noch mehr Daten ein Umdenken einsetzt, dass es Zielgruppen gibt, die von noch niedrigeren Zielwerten profitieren“.
Derzeit empfehlen die ESC/EAS Leitlinien bei sehr hohem Risiko (KHK plus Diabetes mit Endorganschäden oder plus Risikofaktoren, bei einer GFR unter 30 ml/min oder einem 10-Jahresrisiko laut Score von 10% oder höher) ein LDL-Ziel unter 70 mg/dl oder – wenn der Ausgangswert bereits zwischen 70 und 135 mg/dl liegt – eine Absenkung des Ausgangswertes um mindestens 50%.
Ein weiteres Anliegen von Parhofer: Gerade bei Patienten mit Diabetes sollte auch das Non-HDL-Cholesterin berücksichtigt werden. Die Zielwerte beim Non-HDL-Cholesterin, das beim typischen diabetischen Lipidprofil mit hohen Triglyzeriden auch durch einen hohen Anteil an Remnants hoch getrieben wird, betragen laut ESC/EAS unter 100 (sehr hohes Risiko) und unter 130 mg/dl (hohes Risiko).
Wobei er auf die Frage aus dem Publikum, wie denn auch die Remnants gesenkt werden können, nur auf die Fibrate verweisen konnte, „für die natürlich die Evidenzlage aus Endpunkt-Studien nicht so gut ist“. Aber so betonte er auf eine weitere Nachfrage: „Selbst bei einem Diabetespatienten mit sehr hohen Triglyzeriden und entsprechendem Risiko sollte das Statin stets der erste Schritt sein.“
REFERENZEN:
1. Tagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), 24. bis 27. Mai 2017, Hamburg
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „The lower, the better“ – stützen neue Studiendaten dies auch für Blutzucker, Blutdruck und Cholesterin beim Diabetiker? - Medscape - 26. Mai 2017.
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