„The lower, the better“ – stützen neue Studiendaten dies auch für Blutzucker, Blutdruck und Cholesterin beim Diabetiker?

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

26. Mai 2017

Hamburg – Was sind die Konsequenzen aus den kardiovaskulären  Endpunktstudien der letzten Jahre? Benötigen wir für Patienten mit  Typ-2-Diabetes neue Zielwerte – in der Blutzuckereinstellung, aber auch beim  Blutdruck und den Blutlipiden? Gilt in allen 3 Bereichen „the lower the  better“? Dies war die Frage, mit der sich eine Expertenrunde bei einer  vielbesuchten Veranstaltung auf der Jahrestagung der Deutschen Diabetes  Gesellschaft (DDG), die derzeit in Hamburg stattfindet, beschäftigte [1].

Und die Antwort? Klar  ist, es ist durch die neuen Studiendaten viel an Evidenz hinzugekommen – und  dies hat auch Auswirkungen auf die Praxis. Empfehlungen und Leitlinien wurden bereits  angepasst – oder werden es wohl noch werden. Doch es sind auch neue Fragen  aufgetaucht.

Immer noch sind  kardiovaskuläre Ereignisse die Morbiditäts- und Mortalitätsursache Nummer 1 bei  Patienten mit Typ-2-Diabetes. Einig waren sich die Experten, über den  Stellenwert der einzelnen Risikofaktoren und die Evidenz, was die Intervention  an den einzelnen Faktoren für die Prognose bringt.

Das Experten-Ranking: Statine, Antihypertensiva und erst dann Antidiabetika

Ihr Ranking: Die Statine  und die Lipidsenkung stehen nach wie vor an 1. Stelle, für sie gibt es die  höchste Evidenz und sie bringen (auch beim Typ-2-Diabetiker) prognostisch am  meisten. An 2. Position kommt die antihypertensive Therapie und prognostisch  den geringsten Einfluss hat die Blutzuckersenkung mit Antidiabetika. Daran hat  sich auch durch den positiven Ausgang einiger kardiovaskulärer Endpunktstudie  mit neuen Antidiabetika wie dem GLP-1-Analogon Liraglutid oder dem  SGLT-2-Inhibitor Empagliflozin nichts geändert, machte Prof. Dr. Monika Kellerer, Ärztliche Direktorin am Zentrum für  Innere Medizin I am Marienhospital, Stuttgart, deutlich.

Jedoch: In der Praxis  beim Patienten sieht diese Reihenfolge oft gerade umgekehrt aus. „Die Patienten  würden in der Regel zuerst das Statin weg lassen, dann den Blutdrucksenker und  als letztes das Antidiabetikum“, so Prof.  Dr. Stephan Jacob, Internist und Diabetologe aus Villingen-Schwenningen,  der einer der Vorsitzenden der Veranstaltung war. „Wir müssen den Patienten  klar machen, wo die Evidenz ist – und wo wir tatsächlich die Prognose  verbessern können.“

Der HbA1c-Wert – am „Zielkorridor“ ändert sich nichts

In den derzeit gültigen  Empfehlungen und Leitlinien zur antidiabetischen Therapie wird sowieso kein  fixer HbA1c-Grenzwert mehr empfohlen, erinnerte Kellerer in ihrem Vortrag.  Vielmehr hat man sich auf einen „Zielkorridor“ geeinigt, der zwar individuell  angepasst werden soll, aber, so die Diabetologin, „bei einem HbA1c-Bereich  zwischen 6,5 und 7,5 Prozent für die meisten Patienten mit Typ-2-Diabetes sinnvoll  und passend ist“. 

Noch immer berufe man  sich dabei auf die inzwischen 20 Jahre alten Daten der UKPD-Studie, in der die  Reduktion des HbA1c-Wertes von im median 7,9 auf 7,0% einen – so Kellerer –  „zwar nicht übermäßigen“, aber immerhin signifikanten Einfluss auf das Risiko  diabetischer Folgeerkrankungen hatte. Eine Senkung des HbA1c auf noch  niedrigere Werte wird bei Typ-2-Diabetes normalerweise nicht mehr angepeilt.  Dies als Konsequenz des neutralen oder sogar negativen Ausgangs der 3 Studien ACCORD, ADVANCE/Glukosesenkung  und VADT, in  denen eine intensive Glukosesenkung mit einem HbA1c-Ziel von 6,5% oder  niedriger angestrebt worden war.

Kellerer verwies jedoch  auch darauf, dass in diesen Studien die strikte und rasche HbA1c-Senkung zu  einem signifikant erhöhten Risiko für schwere Hypoglykämien, aber auch zu  deutlichen Gewichtszunahmen beigetragen hatte. „Beides hat sich eventuell  negativ auf das kardiovaskuläre Risiko ausgewirkt.“

Zum Wert der HbA1c-Senkung sagen neue Studien nichts

Beides –  Hypoglykämie-Risiko und Gewichtszunahme – hat man mit den neuen Antidiabetika  wie Gliptinen, GLP-1-Analoga und SGLT2-Hemmern nicht mehr. Und in den großen  kardiovaskulären Endpunktstudien wie EMPA-REG (mit Empagliflozin), LEADER (mit  Liraglutid) und SUSTAIN-6 (mit Semaglutid) konnten tatsächlich ein  SGLT-2-Hemmer und 2 lang wirkende GLP-1-Analoga das kardiovaskuläre Risiko der  Typ-2-Diabetiker senken. Doch es gibt bei diesen Studien einen „gewichtigen  Unterschied“, betonte Kellerer: „Diese Studien können nicht im Konzept der  HbA1c-Senkung interpretiert werden!“

 
Die Patienten würden in der Regel zuerst das Statin weg lassen, dann den Blutdrucksenker und als letztes das Antidiabetikum. Prof. Dr. Stephan Jacob
 

Denn es handelte sich um  kardiovaskuläre Sicherheitsstudien – deren Ziel es war, substanzspezifische  (negative) kardiovaskuläre Wirkungen dieser Antidiabetika zu prüfen. Eigentlich  sollten in diesen Studien in Verum- und Placebo-Gruppe die HbA1c-Werte gleich  sein – tatsächlich waren sie dann doch meist unter dem zusätzlichen  Antidiabetikum etwas niedriger (um 0,3 bis 0,4%punkte).

Aber auch wenn Studien  wie EMPA-REG, LEADER und SUSTAIN-6 nicht  auf HbA1c-Senkung ausgelegt waren, zeigen sie doch substanzspezifische günstige  kardiovaskuläre Effekte, sie erhöhten nicht das Hypoglykämie-Risiko und wirkten  sich sogar günstig auf Körpergewicht und Blutdruck aus. Für Empagliflozin gibt  es sogar eine Zusatz-Auswertung die positive Wirkungen auf renale Endpunkte wie  Proteinurie und Dialyse-Risiko zeigt.

Trotzdem, so Kellerer,  „gibt es auch bei den neuen Substanzen einen Wermutstropfen“. Und der sei, dass  es bislang nicht gelungen sei nachzuweisen, dass sie auch mikroangiopathische  Endpunkte am Auge günstig beeinflussen – ganz im Gegenteil gab es in der  SUSTAIN-6-Studie mit Semaglutid sogar Hinweise auf ein erhöhtes  Retinopathie-Risiko.

Und  die Konsequenz? Kellerer sieht zwar keinen Anlass, an den HbA1c-Zielwerten zu  schrauben, aber vielleicht doch Anzeichen für einen „Paradigmenwechsel“ in der  antidiabetischen Therapie: Weg von der Fokussierung auf die HbA1c-Senkung, hin  zu einer Ausnutzung substanzspezifischer Effekte einiger Antidiabetika, um das  kardiovaskuläre Risiko der Patienten zu senken.

Die Blutdruckziele für Typ-2-Diabtiker wurden sogar höher gesetzt

Auch beim Blutdruck gibt  es die „the-lower-the-better“-Diskussion – unter anderem wieder angeheizt durch  die Ergebnisse der SPRINT-Studie.  Doch egal wie man diese Studie interpretiert – primär hieß die Schlussfolgerung  ja „120 ist das neue 140“ bezüglich der systolischen Blutdruckziele, was  inzwischen aber von vielen Experten wieder relativiert wird – für Diabetiker  hat diese Studie sowieso keine Aussagekraft. Denn Patienten mit Typ-2-Diabetes  waren explizit ausgeschlossen, machte Prof.  Dr. Peter Trenkwalder, Starnberg, Vorstandsmitglied der Deutschen  Hochdruckliga (DHL), deutlich.

Ganz im Gegenteil sieht  man bei den Blutdruckzielen für Typ-2-Diabetiker eher eine gegenteilige  Bewegung: Galt im Jahr 2007 noch ein Ziel von unter 130/80 mmHg, hat man dies  in den europäischen Leitlinien (ESH/ESC) inzwischen auf unter 140/85 mmHg  hochgesetzt. In der deutschen nationalen Versorgungs-Leitlinie (NVL) wird ein  Wert unter 140/80 mmHg empfohlen.

Trenkwalder fokussierte  in seinem Vortrag auf 2 aktuelle Metaanalysen und eine große Registerauswertung  – und, so wurde deutlich, will den niedrigeren Zielwerten (zumindest für einige  Patientengruppen) noch nicht vollkommen abschwören. Die Metaanalysen und die  gelockerten Blutdruck-Zielwerte für Diabetiker werden stark beeinflusst vom  Ausgang der ACCORD-Blutdrucksenkungs-Studie. In ihr hatte  bekanntlich die „noch intensivere Blutdrucksenkung“ (ein Zielwert unter 140 im  Vergleich zu unter 120 mmHg systolisch) keinen signifikanten Benefit bezüglich  des kombinierten primären Endpunkts der Studie (Herzinfarkt, Schlaganfall,  kardiovaskulärer Tod) gebracht, aber mehr Nebenwirkungen verursacht. Aber, so  betonte Trenkwalder, beim Einzel-Endpunkt Schlaganfall ergab sich durchaus ein  hochsignifikanter Vorteil zugunsten der intensiven Blutdrucksenkung.

Für „gesunde“ Typ-2-Patienten sind vielleicht striktere Blutdruckziele geeigneter

In einer schwedischen  landesweiten Registerauswertung haben die Autoren  diejenigen Patienten mit Typ-2-Diabetes selektiv ausgewertet, die keine  weiteren Morbiditäten hatten. Tatsächlich ergab sich für diese relativ gesunde  Diabetikerpopulation ohne Begleiterkrankungen, dass sie auch von niedrigeren  Blutdruckzielen profitieren, berichtete Trenkwalder.

Gerade unter dem Aspekt  der Schlaganfallprävention lohne es daher vielleicht doch, meinte der  Hochdruck-Experte, bei solchen eher gesunden und jungen Diabetespatienten ohne  bestehende Endorganschäden niedrigere Ziel-Blutdruckwerte anzustreben. Jacob  pflichtete ihm bei und plädierte dafür, gerade bei der Blutdrucksenkung das  „Konzept des vulnerablen Patienten“ zu beachten. Trenkwalder: „Beim 85-jährigen  Pflegeheim-Bewohner mit Diabetes und z.B. einer 3.Gefäßerkrankung ist das  Hypotonie-Risiko, etwa nachts, nicht zu unterschätzen!“

 
Selbst bei einem Diabetespatienten mit sehr hohen Triglyzeriden und entsprechendem Risiko sollte das Statin stets der erste Schritt sein. Prof. Dr. Klaus Parhofer
 

Was die zu bevorzugenden  Antihypertensiva angeht, plädiert Trenkhofer bei Typ-2-Diabetikern für die  RAS-Hemmer in Kombination mit einem Diuretikum oder Kalziumantagonisten – da  hier die Studienlage die beste Evidenz für einen positiven Effekt auf die  Prognose liefere.

Lipide – der Trend zum „the lower the better“ ist ungebrochen

Keinen Zweifel am  „The-lower-the better“-Konzept gibt es zumindest bei der Senkung der Blutfette  – und dies gilt auch beim Patienten mit Typ-2-Diabetes. Was sich hier geändert  hat: „Früher dachten wir, dies gilt vielleicht nur für die Statine. Heute  wissen wir, es gilt auch für andere Wirkstoffe“, betonte Prof. Dr. Klaus Parhofer, München. Er verwies auf die IMPROVE-IT-Studie mit Ezetimib, die das „The  lower-the-better“-Konzept bestätigt habe, und auf die kürzlich publizierte FOURIER-Studie, in der der PCSK-9-Hemmer  Evolocumab die kardiovaskuläre Ereignisrate (zusätzlich zum Statin) weiter  reduzierte – wobei bislang utopische LDL-Zielwerte erreicht worden waren (im  Median 30 mg/dl).

Eine seiner  Hauptbotschaften: Was sich mit der LDL-Senkung prognostisch erreichen lässt,  ist vor allem vom Ausgangsrisiko des Patienten abhängig. Allerdings: Bei der  Bestimmung dieses Ausgangsrisikos gebe es noch Optimierungsbedarf, meinte  Parhofer. „Wir brauchen bessere Algorithmen, um die mit erhöhtem Risiko  frühzeitig herauszufiltern.“

Doch bei solchen  Hochrisiko-Kandidaten lohne dann durchaus eine sehr aggressive LDL-Senkung. In  den ganz neuen US-Leitlinien der AACE (American Association of Clinical  Endocinologists/American College of Endocrinology) ist eine neue Kategorie von  Patienten mit „extremem Risiko“ definiert worden, für die nun ein LDL-Ziel von  unter 55 mg/dl gilt. Dazu gehören Patienten mit progredienter  arteriosklerotischer Erkrankung trotz LDL unter 70 mg/dl sowie solche mit  Diabetes, fortgeschrittener Niereninsuffizienz (CKD ¾) oder familiärer  Hypercholesterinämie (HeFH) sowie Jüngere (Männer unter 55, Frauen untere 65)  jeweils plus nachgewiesener kardiovaskulärer Erkrankung.

Auch für die hiesigen  Leitlinien, meinte Parhofer, sei nicht auszuschließen, dass „mit noch mehr  Daten ein Umdenken einsetzt, dass es Zielgruppen gibt, die von noch niedrigeren  Zielwerten profitieren“.

Derzeit empfehlen die  ESC/EAS Leitlinien bei sehr hohem Risiko (KHK plus Diabetes mit Endorganschäden  oder plus Risikofaktoren, bei einer GFR unter 30 ml/min oder einem  10-Jahresrisiko laut Score von 10% oder höher) ein LDL-Ziel unter 70 mg/dl oder  – wenn der Ausgangswert bereits zwischen 70 und 135 mg/dl liegt – eine  Absenkung des Ausgangswertes um mindestens 50%.

Ein weiteres Anliegen von  Parhofer: Gerade bei Patienten mit Diabetes sollte auch das Non-HDL-Cholesterin  berücksichtigt werden. Die Zielwerte beim Non-HDL-Cholesterin, das beim  typischen diabetischen Lipidprofil mit hohen Triglyzeriden auch durch einen  hohen Anteil an Remnants hoch getrieben wird, betragen laut ESC/EAS unter 100  (sehr hohes Risiko) und unter 130 mg/dl (hohes Risiko).   

Wobei er auf die Frage  aus dem Publikum, wie denn auch die Remnants gesenkt werden können, nur auf die  Fibrate verweisen konnte, „für die natürlich die Evidenzlage aus  Endpunkt-Studien nicht so gut ist“. Aber so betonte er auf eine weitere  Nachfrage: „Selbst bei einem Diabetespatienten mit sehr hohen Triglyzeriden und  entsprechendem Risiko sollte das Statin stets der erste Schritt sein.“

REFERENZEN:

1. Tagung der Deutschen Diabetes  Gesellschaft (DDG), 24. bis 27. Mai 2017, Hamburg

Kommentar

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