Statine sind offenbar nur dann mit vermehrten Muskelbeschwerden assoziiert, wenn die Patienten auch wissen, dass sie ein Statin nehmen. Wissen sie es nicht, haben sie auch keine Beschwerden. Dieses eindrückliche Beispiel für den Noceboeffekt ist das Ergebnis einer neuen Analyse des Anglo-Scandinavian Cardiac Outcomes Trial-Lipid-Lowering Arm (ASCOT-LLA). Die Studie umfasste eine verblindete Phase, in der die Patienten nicht wussten, ob sie ein Statin oder ein Placebo erhalten, sowie eine unverblindete Phase, in der sie wussten, was sie einnehmen [1].
„Die Analyse deckt sich mit der klinischen Erfahrung sowie den Ergebnissen früherer Studien, die zeigen, dass statin-assoziierte Muskelschmerzen bei der großen Mehrheit der Patienten – schätzungsweise 80 bis 90% – auf Übertragungsphänomene und Verarbeitungsprobleme zurückgehen“, erklärt Prof. Dr. Ulrich Laufs, Geschäftsführender Oberarzt und Professor für Klinisch-Experimentelle Medizin an der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin des Universitätsklinikums des Saarlandes, im Gespräch mit Medscape.
„Wenn man ein Medikament einnimmt, von dem man z.B. im Internet oder in der Presse immer wieder hört, dass es Muskelschmerzen verursacht, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass jegliche Muskelbeschwerden – seien sie alters- oder belastungsbedingt – auf die Einnahme zurückgeführt werden“, ergänzt der Kardiologe.
Bei gut 10.000 Patienten untersuchten Dr. Ajay Gupta vom National Heart and Lung Institute am Imperial College London und seine Kollegen verschiedene mögliche Nebenwirkungen von Statinen, insbesondere Muskelbeschwerden, erektile Dysfunktion, Schlafstörungen und kognitive Beeinträchtigungen.
Umstrittene Nebenwirkung
Die statin-assoziierten Muskelschmerzen (SAMS) stellen eine besonders umstrittene Nebenwirkung dar: Beoabachtungsstudien berichten im Allgemeinen, dass bis zu einem Fünftel der Patienten unter SAMS leiden, während sich in randomisiert-kontrollierten Studien meist kaum ein Anstieg der SAMS-Rate zeigt.
Die aktuell in The Lancet veröffentlichte Studie könnte helfen, diese Diskrepanz zu erklären. „Der Noceboeffekt kann ebenso wie der Placeboeffekt sehr stark sein“, erklärt Seniorautor Prof. Dr. Peter Sever, ebenfalls vom National Heart and Lung Institute am Imperial College London, laut einer Mitteilung des Journals. „Das heißt nicht, dass die Patienten sich die Symptome ausdenken. Sie erleben aufgrund der Erwartung, dass ihnen die Medikamente schaden werden, sehr reale Schmerzen.“
Die 1. Phase der Studie fand von 1998 bis 2002 statt und umfasste 10.180 Patienten, die primärpräventiv behandelt wurden. Sie waren zwischen 40 und 79 Jahren alt, hatten Bluthochdruck und mindestens 3 weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren. Randomisiert und für Ärzte sowie Patienten verblindet erhielten sie entweder Atorvastatin 10 mg oder ein Placebo und wurden 3 Jahre beobachtet.
Raten an Muskelbeschwerden von Verblindung abhängig
Nach Ablauf der 3 Jahre hatte sich die Wirksamkeit des Statins erwiesen und den Patienten wurde angeboten, die Therapie fortzuführen bzw. – in der Placebogruppe – damit zu beginnen. An dieser nicht-verblindeten und nicht-randomisierten Phase der Studie nahmen 9.899 Patienten teil, die weitere 2 Jahre beobachtet wurden. Zwei Drittel von ihnen entschieden sich, ein Statin zu nehmen.
„In der verblindeten Phase der Studie traten Muskelbeschwerden bei den Patienten in der Atorvastatin- und in der Placebogruppe in gleichen Raten auf“, berichten Gupta und seine Koautoren. Unter der Therapie mit Atorvastatin berichteten pro Jahr 2,03% der Patienten von SAMS, in der Placebogruppe waren es 2,00% (p = 0,72).
In der unverblindeten Phase der Studie dagegen berichteten signifikant mehr Patienten, die ein Statin nahmen, über Muskelbeschwerden als Patienten ohne Statintherapie: 1,26 vs 1,00% pro Jahr (p = 0,006).
Erektile Dysfunktion nicht häufiger – unerwarteter Effekt bei Schlafstörungen
Im Hinblick auf die anderen untersuchten Nebenwirkungen fanden Gupta und seine Kollegen keinen Unterschied zwischen Statin und Placebo. So war etwa die erektile Dysfunktion sowohl in der verblindeten als auch in der unverblindeten Phase der Studie in der Atorvastatin- und in der Placebogruppe ähnlich häufig.
Schlafstörungen waren dagegen in der verblindeten Phase der Studie bei den Statin-Anwendern sogar seltener als in der Placebogruppe. In der unverblindeten Phase gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen. Dieses Ergebnis sei unerwartet gewesen, schreiben die Autoren, insbesondere da Schlafstörungen explizit als mögliche Nebenwirkung von Statinen im Beipackzettel aufgeführt werden müssten. „Es gibt keinerlei Berichte über einen nützlichen Effekt von Statinen auf den Schlaf und trotz statistischer Signifikanz könnte es sich hier um einen Zufallsbefund handeln.“
Kognitive Beeinträchtigungen seien zu selten berichtet worden, um eine zuverlässige statistische Analyse zu ermöglichen, berichten die Autoren.
Sie heben hervor, dass zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie Berichte über Nebenwirkungen von Statinen noch nicht so verbreitet gewesen seien wie heute. Sie gehen davon aus, dass die Stärke des Noceboeffekts in ihrer Studie wahrscheinlich noch unterschätzt wird
Information des Patienten, ohne negative Erwartungen zu erzeugen
„Angesichts der Tatsache, dass Statine zu den besten evidenzbasierten lipidsenkenden Therapien gehören, die für viele Patienten verfügbar und geeignet sind, ist die Prävention von Unverträglichkeiten von größter Bedeutung“, schreiben Dr. Juan Pedro-Botet, Hospital del Mar, und Dr. Juan Rubiés-Prat, Universitat Autònoma de Barcelona, Spanien, in einem Editorial. „Ärzte sollten ihre Patienten auf mögliche statin-assoziierte Nebenwirkungen aufmerksam machen, ohne eine negative Erwartungshaltung aufzubauen [2].“
Und auch für Laufs gilt: „Der Schlüssel zum Erfolg ist, sich für die Patientenaufklärung Zeit zu nehmen, auch schon bei der Verschreibung von Statinen.“ Doch auch wenn bereits Muskelbeschwerden vorliegen, ist nicht alles zu spät: „Diese Patienten sind durchaus mit einem Statin behandelbar“, sagt Laufs.
Was tun, wenn der Patient über eine Statinunverträglichkeit klagt?
Berichtet ein Patient unter einem Statin über Muskelbeschwerden empfiehlt sich folgendes Vorgehen, denn damit „ist es für die Mehrheit der Patienten möglich, die Therapie auch dann weiter zu führen, wenn eine Unverträglichkeit aufgetreten ist“, so Laufs.
Schritt 1: Pausieren
Da die Diagnose statinassoziierter Muskelschmerzen nicht durch Labortests oder eine bildgebende Maßnahme zu sichern ist, soll das Statin zunächst pausiert werden, um zu sehen, ob die Beschwerden vergehen. „Sind sie wirklich statinbedingt, verschwinden die Beschwerden innerhalb weniger Tage“, erklärt Laufs. „Sind sie nach 2 bis 3 Wochen nicht vergangen, haben sie eine andere Ursache und müssen differenzialdiagnostisch abgeklärt werden.“
Schritt 2: Reexposition
Der nächste Schritt ist die Reexposition: „An dieser Stelle ist es klug, das Präparat zu wechseln, damit auch der Patient einen Neuanfang hat“, empfiehlt Laufs. Abhängig von der Ausprägung der Beschwerden beginnt man zunächst mit einer geringen Dosis des neuen Statins, die in monatlichen schritten langsam erhöht wird, bis die maximal tolerierte Dosierung erreicht ist. „Diese liegt häufig höher als die Dosierung, über die sich der Patient initial beklagt hat“, berichtet Laufs.
Schritt 3: Laborkontrolle
Erst jetzt steht eine Kontrolle des LDL-Cholesterins an, um zu überprüfen, ob die Zielwerte erreicht wurden. „Ist dies nicht der Fall, besteht die Möglichkeit das Statin mit Ezetimib zu kombinieren“, empfiehlt Laufs.
Schritt 4: Weitere Therapieoptionen nutzen
Nur bei den Patienten, die auch mit dieser Maßnahme den Zielwert nicht erreichen – und die aufgrund eines hohen kardiovaskulären Risikos unbedingt noch niedrigere LDL-Cholesterinwerte haben sollten – komme als letzte Option ein PCSK9-Inhibitor in Frage, betont der Experte und ergänzt, dass es sich hierbei nur um eine kleine, stark selektionierte Patientengruppe handele.
REFERENZEN:
1. Gupta A, et al : Lancet (online) 02. Mai 2017
2. Pedro-Botet J, et al: Lancet (online) 02. Mai 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Selffulfilling Prophecy? Laut neuer Analyse hat unter Statin nur der mehr Muskelschmerzen, der auch weiß, was er nimmt - Medscape - 22. Mai 2017.
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