Selffulfilling Prophecy? Laut neuer Analyse hat unter Statin nur der mehr Muskelschmerzen, der auch weiß, was er nimmt

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

22. Mai 2017

Statine sind offenbar nur dann  mit vermehrten Muskelbeschwerden assoziiert, wenn die Patienten auch wissen,  dass sie ein Statin nehmen. Wissen sie es nicht, haben sie auch keine  Beschwerden. Dieses eindrückliche Beispiel für den Noceboeffekt ist das  Ergebnis einer neuen Analyse des Anglo-Scandinavian Cardiac Outcomes Trial-Lipid-Lowering  Arm (ASCOT-LLA). Die Studie umfasste eine verblindete Phase, in der die  Patienten nicht wussten, ob sie ein Statin oder ein Placebo erhalten, sowie  eine unverblindete Phase, in der sie wussten, was sie einnehmen [1].

„Die Analyse deckt sich mit der klinischen Erfahrung sowie den  Ergebnissen früherer Studien, die  zeigen, dass statin-assoziierte Muskelschmerzen bei der großen Mehrheit der  Patienten – schätzungsweise 80 bis 90% – auf Übertragungsphänomene und Verarbeitungsprobleme  zurückgehen“, erklärt Prof. Dr. Ulrich  Laufs, Geschäftsführender Oberarzt und Professor für Klinisch-Experimentelle  Medizin an der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Internistische  Intensivmedizin des Universitätsklinikums des Saarlandes, im Gespräch mit Medscape.

„Wenn man ein Medikament einnimmt, von dem man z.B.  im Internet oder in der Presse immer wieder hört, dass es Muskelschmerzen  verursacht, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass jegliche Muskelbeschwerden –  seien sie alters- oder belastungsbedingt – auf die Einnahme zurückgeführt  werden“, ergänzt der Kardiologe.

Bei gut 10.000 Patienten untersuchten Dr.  Ajay Gupta vom National Heart and Lung Institute am Imperial College London  und seine Kollegen verschiedene mögliche Nebenwirkungen von Statinen,  insbesondere Muskelbeschwerden, erektile Dysfunktion, Schlafstörungen und  kognitive Beeinträchtigungen.

Umstrittene Nebenwirkung

Die statin-assoziierten  Muskelschmerzen (SAMS) stellen eine besonders umstrittene Nebenwirkung dar: Beoabachtungsstudien  berichten im Allgemeinen, dass bis zu einem Fünftel der Patienten unter SAMS  leiden, während sich in randomisiert-kontrollierten Studien meist kaum ein  Anstieg der SAMS-Rate zeigt.

Die aktuell in The Lancet veröffentlichte Studie könnte helfen, diese Diskrepanz zu erklären. „Der  Noceboeffekt kann ebenso wie der Placeboeffekt sehr stark sein“, erklärt Seniorautor Prof. Dr. Peter Sever, ebenfalls vom National Heart and Lung Institute  am Imperial College London, laut einer Mitteilung des Journals. „Das heißt nicht, dass die Patienten  sich die Symptome ausdenken. Sie erleben aufgrund der Erwartung, dass ihnen die  Medikamente schaden werden, sehr reale Schmerzen.“

 
Wenn man immer wieder hört, dass ein Medikament Muskelschmerzen verursacht, so ist es sehr wahrscheinlich, dass jegliche Muskelbeschwerden darauf zurückgeführt werden. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Die 1. Phase der Studie fand von 1998 bis 2002  statt und umfasste 10.180 Patienten, die primärpräventiv behandelt wurden. Sie  waren zwischen 40 und 79 Jahren alt, hatten Bluthochdruck und mindestens 3  weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren. Randomisiert und für Ärzte sowie  Patienten verblindet erhielten sie entweder Atorvastatin 10 mg oder ein Placebo  und wurden 3 Jahre beobachtet.

Raten an Muskelbeschwerden von Verblindung abhängig

Nach Ablauf  der 3 Jahre hatte sich die Wirksamkeit des Statins erwiesen und den Patienten  wurde angeboten, die Therapie fortzuführen bzw. – in der Placebogruppe – damit  zu beginnen. An dieser nicht-verblindeten und nicht-randomisierten Phase der  Studie nahmen 9.899 Patienten teil, die weitere 2 Jahre beobachtet wurden. Zwei  Drittel von ihnen entschieden sich, ein Statin zu nehmen.

„In der verblindeten Phase der Studie traten  Muskelbeschwerden bei den Patienten in der Atorvastatin- und in der  Placebogruppe in gleichen Raten auf“, berichten Gupta und seine Koautoren.  Unter der Therapie mit Atorvastatin berichteten pro Jahr 2,03% der Patienten  von SAMS, in der Placebogruppe waren es 2,00% (p = 0,72).

In der unverblindeten Phase der Studie dagegen berichteten signifikant mehr  Patienten, die ein Statin nahmen, über Muskelbeschwerden als Patienten ohne  Statintherapie: 1,26 vs 1,00% pro Jahr (p = 0,006).

Erektile Dysfunktion nicht häufiger – unerwarteter Effekt bei Schlafstörungen

Im Hinblick  auf die anderen untersuchten Nebenwirkungen fanden Gupta und seine Kollegen  keinen Unterschied zwischen Statin und Placebo. So war etwa die erektile  Dysfunktion sowohl in der verblindeten als auch in der unverblindeten Phase der  Studie in der Atorvastatin- und in der Placebogruppe ähnlich häufig.

Schlafstörungen  waren dagegen in der verblindeten Phase der Studie bei den Statin-Anwendern sogar  seltener als in der Placebogruppe. In der unverblindeten Phase gab es keinen  Unterschied zwischen den Gruppen. Dieses Ergebnis  sei unerwartet gewesen, schreiben die Autoren,  insbesondere da Schlafstörungen explizit als mögliche Nebenwirkung von Statinen  im Beipackzettel aufgeführt werden müssten. „Es gibt keinerlei Berichte über  einen nützlichen Effekt von Statinen auf den Schlaf und trotz statistischer  Signifikanz könnte es sich hier um einen Zufallsbefund handeln.“

Kognitive  Beeinträchtigungen seien zu selten berichtet worden, um eine zuverlässige  statistische Analyse zu ermöglichen, berichten die Autoren.

 
Ärzte sollten ihre Patienten auf mögliche statinassoziierte Nebenwirkungen aufmerksam machen, ohne eine negative Erwartungshaltung aufzubauen. Dr. Juan Pedro-Botet und Dr. Juan Rubiés-Prat
 

Sie heben hervor, dass zum Zeitpunkt  der Durchführung der Studie Berichte über Nebenwirkungen von Statinen noch  nicht so verbreitet gewesen seien wie heute. Sie gehen davon aus, dass die  Stärke des Noceboeffekts in ihrer Studie wahrscheinlich noch unterschätzt wird

Information des Patienten, ohne negative Erwartungen zu erzeugen

„Angesichts  der Tatsache, dass Statine zu den besten evidenzbasierten lipidsenkenden  Therapien gehören, die für viele Patienten verfügbar und geeignet sind, ist die  Prävention von Unverträglichkeiten von größter Bedeutung“, schreiben Dr. Juan Pedro-Botet, Hospital del Mar,  und Dr. Juan Rubiés-Prat, Universitat  Autònoma de Barcelona, Spanien, in einem Editorial. „Ärzte sollten ihre Patienten auf mögliche statin-assoziierte  Nebenwirkungen aufmerksam machen, ohne eine negative Erwartungshaltung  aufzubauen [2].“

Und auch für Laufs gilt: „Der Schlüssel zum Erfolg ist, sich für die  Patientenaufklärung Zeit zu nehmen, auch schon bei der Verschreibung von  Statinen.“ Doch auch wenn bereits Muskelbeschwerden vorliegen, ist nicht alles  zu spät: „Diese  Patienten sind durchaus mit einem Statin behandelbar“, sagt Laufs.

Was tun, wenn der Patient über eine Statinunverträglichkeit klagt?

Berichtet ein  Patient unter einem Statin über Muskelbeschwerden empfiehlt sich folgendes Vorgehen, denn damit „ist es für die Mehrheit der Patienten möglich, die  Therapie auch dann weiter zu führen, wenn eine Unverträglichkeit aufgetreten  ist“, so Laufs.

Schritt 1:  Pausieren
Da die Diagnose  statinassoziierter Muskelschmerzen nicht durch Labortests oder eine bildgebende  Maßnahme zu sichern ist, soll das Statin zunächst pausiert werden, um zu sehen,  ob die Beschwerden vergehen. „Sind sie wirklich statinbedingt, verschwinden die  Beschwerden innerhalb weniger Tage“, erklärt Laufs. „Sind sie nach 2 bis 3  Wochen nicht vergangen, haben sie eine andere Ursache und müssen  differenzialdiagnostisch abgeklärt werden.“

Schritt 2: Reexposition
Der nächste Schritt ist die  Reexposition: „An dieser Stelle ist es klug, das Präparat zu wechseln, damit auch  der Patient einen Neuanfang hat“, empfiehlt Laufs. Abhängig von der Ausprägung  der Beschwerden beginnt man zunächst mit einer geringen Dosis des neuen  Statins, die in monatlichen schritten langsam erhöht wird, bis die maximal  tolerierte Dosierung erreicht ist. „Diese liegt häufig höher als die Dosierung,  über die sich der Patient initial beklagt hat“, berichtet Laufs.

Schritt 3: Laborkontrolle
Erst jetzt steht eine  Kontrolle des LDL-Cholesterins an, um zu überprüfen, ob die Zielwerte erreicht  wurden. „Ist dies nicht der Fall, besteht die Möglichkeit das Statin mit  Ezetimib zu kombinieren“, empfiehlt Laufs.

Schritt 4: Weitere Therapieoptionen nutzen
Nur bei den Patienten, die  auch mit dieser Maßnahme den Zielwert nicht erreichen – und die aufgrund eines  hohen kardiovaskulären Risikos unbedingt noch niedrigere LDL-Cholesterinwerte  haben sollten – komme als letzte Option ein PCSK9-Inhibitor in Frage, betont der  Experte und ergänzt, dass es sich hierbei nur um eine kleine, stark  selektionierte Patientengruppe handele.

REFERENZEN:

1. Gupta A, et al :  Lancet (online) 02. Mai 2017

2. Pedro-Botet J, et al:  Lancet (online) 02. Mai 2017

Kommentar

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