Die US Food and Drug Administration (FDA) hat Edaravone (Radicava™) zur Therapie der Amyotrophen Lateralsklerose zugelassen [1]. Grundlage dieser Entscheidung war eine klinische Phase-3-Studie. Darin konnte der Hersteller zeigen, dass sein Arzneistoff neurodegenerative Vorgänge bei bestimmten Patienten verlangsamt. Japanischen ALS-Patienten steht der Wirkstoff bereits seit Mitte 2015 zur Verfügung.
„Es fällt mir ein bisschen schwer, die Zulassung nachzuvollziehen“, sagt Prof. Dr. Dr. Andreas Hermann zu Medscape. Er arbeitet am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden an der Technischen Universität Dresden und am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. Denn: „Die Positivstudie steht der Öffentlichkeit nur eingeschränkt zur Verfügung.“
Seine Zusammenfassung: „Ich verstehe die vorliegenden Informationen so, dass nur Patienten mit leichten ALS-Symptomen vom Wirkstoff profitieren.“ Frühe Erkrankungsstadien seien aber oft schwer erkennbar. In älteren Studien mit weniger strengen Einschlusskriterien habe der Wirkstoff keine signifikanten Effekte erzielt.
Phase-3-Studie mit strengen Einschlusskriterien zeigt Mehrwert gegenüber Placebo
Basis der aktuellen FDA-Entscheidung war eine Studie von MT Pharma America, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Edaravone zu bewerten. Der Hersteller rekrutierte 137 ALS-Patienten. Einschlusskriterien waren mindestens 2 Punkte in allen Kategorien der ALS Functional Rating Scale-Revised-Skala (ALSFRS-R). Hier bewerten Ärzte 12 unterschiedliche Kriterien wie die Verrichtung von Alltagstätigkeiten, aber auch den Speichelfluss, das Schlucken oder die Atmung, mit jeweils maximal 4 Punkten. Der Maximalwert liegt bei 38 Punkten. Außerdem wurde eine normale Lungenfunktion mit mindestens 80% der forcierten Vitalkapazität (FVC) gefordert.
Alle Patienten wurden einer 12-wöchigen Vorbeobachtungsphase unterzogen und dann in nahezu gleichgroße Gruppen randomisiert. Sie erhielten doppelt verblindet entweder Placebo oder Verum. Als primären Endpunkt definierten die Forscher Veränderungen auf der ALSFRS-R-Skala nach 6 Monaten.
Ärzte verabreichten Edaravone in 28-tägigen Zyklen durch intravenöse Infusion. Pro Tag erhielten Patienten 60 mg des Wirkstoffs innerhalb einer Stunde. Initial wurde diese Dosis täglich an 14 aufeinanderfolgenden Tagen verabreicht, gefolgt von einer 2-wöchigen Pause. Danach folgten Therapien an 10 von 14 Tagen und es schlossen sich 14 Tage ohne Pharmakotherapie an. Der Wirkstoff hat eine Eliminationshalbwertszeit von 4,5 bis 6 Stunden, was regelmäßige Gaben erforderlich macht.
Verschlechterung durch den Wirkstoff klinisch relevant verzögert
Nach 24 Wochen war es im Verum-Arm zu einer Verschlechterung um 5,01 Punkte gekommen. Unter Placebo ging der Score um 7,50 Punkte nach unten. Der Unterschied erwies sich als statistisch signifikant und wäre laut Hermann auch klinisch relevant.
Vereinzelt traten schwere Nebenwirkungen auf, die Forscher jedoch auf den Inhaltsstoff Natriumbisulfit zurückführen. Details gehen aus dem bislang veröffentlichten Abstract nicht hervor. Nach welchen biochemischen Mechanismen Edaravone wirkt, ist den Wissenschaftlern bislang nicht klar. Biochemiker vermuten, das Molekül könnte als Antioxidans Sauerstoffradikale eliminieren. Oxidativer Stress soll einer Hypothese zufolge bei ALS von Bedeutung sein.
Erleichterte Zulassung mit Orphan Drug Status
MT Pharma America profitierte bei der Zulassung von einem beschleunigten Verfahren laut Orphan Drug Act. ALS zählt zu den seltenen Erkrankungen. Laut Registerdaten der Centers for Disease Control and Prevention liegt die Prävalenz bei 3,9 Fällen pro 100.000 Einwohner. Offiziell liegt die Grenze bei 5 von 10.000 Menschen (EU), bei 1 von 2.500 Menschen (Japan) oder bei 1 von 1.500 Menschen (USA).
In Europa hat die EMA Treeway ebenfalls Erleichterungen garantiert. Der niederländische Konzern arbeitet u.a. an oralen Formulierungen mit Edavarone, um die Applikationen zu vereinfachen.
Über die Kosten lässt sich derzeit nichts sagen. Das US-Wirtschaftsmagazin Forbes spricht von 145.000 US-Dollar pro Jahr im amerikanischen Markt. Zum Vergleich: Japanische Versicherungen müssen umgerechnet nur 35.000 Dollar pro Jahr zahlen.
Bislang gab es außer symptomatischen Therapien nur die Möglichkeit, Riluzol als neuroprotektiven Wirkstoff zu verordnen. Dieser Glutamat-Antagonist wirkt als Natriumkanal-Blocker. Er verlangsamt den Untergang motorischer Nervenzellen. Riluzol verlängert die Wahrscheinlichkeit, das 1. Jahr zu überleben, um bis zu 12%. Im Mittel sterben Patienten 3 bis 5 Jahre nach der Diagnose.
„Ich wäre froh um jeden neuen Wirkstoff“, so Hermann. „Ärzten aus Deutschland bleibt momentan nur der Bezug über internationale Apotheken.“ Bei dieser Off-Label-Anwendung müssten Patienten jedoch alle Kosten selbst tragen.
REFERENZEN:
1. FDA: Pressemitteilung, 5. Mai 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: ALS-Therapeutikum Edaravone in den USA zugelassen – deutscher Experte warnt vor allzu viel Hoffnung - Medscape - 4. Sep 2017.
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