Im 1. Quartal 2017 hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) 222.178 Begutachtungen nach dem neuen Pflegebegriff vorgenommen. Bei mehr als 80% (185.891) der Begutachtungen haben die Gutachter einen der 5 neuen Pflegegrade empfohlen. Das teilt der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) in einer Pressemeldung mit. Nach Angaben des MDS sei der Start der neuen Begutachtung damit erfolgreich verlaufen.
„Allerdings sagt das neue 5-stufige System noch nichts aus über die Qualität der Pflege“, wendet der Bremer Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Stefan Görres ein. Er sieht einige Turbulenzen auf die Pflege zukommen. Unter anderem prognostiziert er eine Abwanderung der Pflegenden aus den stationären Einrichtungen hin in die ambulante Versorgung.
Mehr als 129.000 mehr Pflegebedürftige mit Leistungsanspruch
An die Stelle der bisherigen 3 Pflegestufen trat mit Inkrafttreten des Pflegestärkungsgesetzes II Anfang des Jahres eine neue Systematik: die 5 Pflegegrade. Die Pflegebedürftigkeit wird bei der Einstufung nicht mehr in Minuten ausgedrückt, die der Patient etwa zum Ankleiden oder Zähneputzen braucht. Sie orientiert sich stattdessen am Grad der Selbstständigkeit des Patienten. Diese zu beurteilen, bedeutet deutlich mehr Arbeit für den MDK. Denn nun müssen die Pflegepatienten nach den neuen Kriterien eingestuft werden. Dadurch erhalten im 1. Quartal fast 129.000 Menschen erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung, so der MDS.
Um die zusätzliche Pflege bezahlen zu können, wurde der Beitragssatz zur Pflegeversicherung im Januar 2017 um 0,2% angehoben. Der jährliche Geldbedarf für die Reform liegt laut Bundesgesundheitsministerium bei 5 bis 6 Milliarden Euro zusätzlich.
„Insbesondere Versicherte mit einer Demenzerkrankung oder mit einem hohen krankheitsbedingten Unterstützungsbedarf profitieren vom neuen Verfahren. Die Versorgung ist besser geworden“, meint Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des MDS.
Anhand von 5 Modulen unterschiedlicher Gewichtung beurteilen die Prüfer des MDK, ob und wenn ja, welchen Pflegegrad ein pflegebedürftiger Patient in Anspruch nehmen darf [1]. Es sind dies:
Selbstversorgung (40%),
selbstständiger Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen (20%),
Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (15%),
kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (15%),
Mobilität (10%).
Jedes Modul wird anhand festgelegter Kriterien geprüft und mit einer Ergebnispunktzahl bewertet. Für das Modul „Mobilität“ heißt das zum Beispiel: Bei selbstständigem Umsetzen oder Treppensteigen gibt es 0 Punkte und dann aufsteigend bis „unselbstständig“ 3 Punkte.
Am Schluss werden die Punkte aller Module zusammengerechnet. Eine niedrige Punktzahl ist gleichbedeutend mit einem niedrigen Pflegegrad – eine hohe Punktzahl mit einem entsprechend höheren Grad:
Pflegegrad 1: 12,5 bis unter 27 Punkte, geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten;
Pflegegrad 2: 27 bis unter 47,5 Punkte, erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten;
Pflegegrad 3: 47,5 bis unter 70 Punkte, schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten;
Pflegegrad 4: 70 bis unter 90 Punkte, schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten;
Pflegegrad 5: 90 bis 100 Punkte, schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung.
Je nach Pflegestufe erhalten die Patienten Geld- und Sachleistungen und im ambulanten Bereich sogenannte zweckgebundene Entlastungsbeträge. Im ambulanten Bereich summiert sich der Betrag pro Monat auf eine Höhe von 125 Euro im Pflegegrad 1 beziehungsweise 3.021 Euro im Pflegegrad 5, im stationären Bereich 125 Euro (1) beziehungsweise 2.005 Euro (5).
Die stationären Einrichtungen werden Probleme bekommen
Mit der neuen Begutachtung kommen allerdings auf die Versorgung neue Aufgaben zu. Und es ist noch nicht sicher, ob die Versorgung tatsächlich besser wird, wie Pick meint. Ist die Versorgungsebene überhaupt gerüstet? „Eines der Probleme ist, dass sich mit den neuen Pflegestufen der Wettbewerb um die Pflegekräfte zwischen dem ambulanten und stationären Sektor verschärfen wird“, meint der Pflegewissenschaftler Görres. Er arbeitete mit im Beirat des Bundesgesundheitsministeriums, der mehr als 8 Jahre lang das 5-Pflegegrade-System mit entwickelt hat.
Denn die neue Einteilung begünstigt die ambulante Versorgung, wie zum Beispiel die im Vergleich zum stationären Sektor um 1.000 Euro höhere Vergütung für die Versorgung im Pflegegrad 5 zeigt. Die Pflegebedürftigen der Grade 1 und 2 werden vornehmlich ambulant versorgt werden. Die Pflegebedürftigkeit Grad 5 bleibt relativ selten und kommt damit in der ambulanten und der stationären Versorgung auch selten vor, so Görres.
Damit werden für die stationären Einrichtungen die Pflegebedürftigen der Grade 3 und 4 zum Hauptklientel. Für ihre Pflege benötigen die Einrichtungen weniger Leute als für die vorherige Pflege von Bedürftigen nach der alten Pflegestufe 3 plus Härtefallregelung – dies waren die schwer Pflegebedürftigen, und deren Versorgung war aufwändiger, so Görres.
Kurz: „Viele Fachkräfte werden in den ambulanten Bereich abwandern“, erwartet Görres. „Das bedeutet Personalabbau in der stationären Pflege. Ich erwarte eine große Dynamik auf dem Versorgungssektor.“
Darüber hinaus sei mit der neuen Systematik der Pflegebedürftigkeit noch nichts gesagt über die Qualität der Pflege selbst. „Ja, wir haben ein neues und besseres System geschaffen und können den Pflegebedürftigen maßgeschneiderte Angebote zur Verfügung stellen, vor allem den demenziell Erkrankten“, resümiert Görres. „Aber selbst wenn die Geldströme nun andere sind, kann es sein, dass die Pflegekräfte schlicht fehlen oder nicht unbedingt für die Pflege von demenziell Erkrankten qualifiziert sind.“ Jetzt heiße es abwarten und sehen, wie die Pflege sich schlägt.
REFERENZEN:
1. MDS: Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit. 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Erste Einschätzungen zum zweiten Pflegestärkungsgesetz: „Viele Fachkräfte werden in den ambulanten Bereich abwandern“ - Medscape - 16. Mai 2017.
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