Die (Werbe-)Botschaft hört ich wohl … – wann Nahrungsergänzungsmittel überflüssig und wann tatsächlich sinnvoll sind

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

15. Mai 2017

Mannheim – Nahrungsergänzungsmittel – ja oder nein? Diese Frage wurde auf dem Internistenkongress diskutiert [1]. Einigkeit herrschte, dass Nahrungsergänzungsmittel für gesunde Erwachsene in der Regel nicht sinnvoll sind, für bestimmte Gruppen wie Schwangere dagegen dringend empfohlen.

„Das ist ein Milliardenmarkt“, konstatierte Prof. Dr. Peter Stehle, Ernährungsphysiologe an der Universität Bonn. Und stellte klar: „Gesunde Menschen brauchen keine Nahrungsergänzungsmittel.“ Gleichzeitig warnte er: „Die Verwendung von (hochdosierten) Nahrungsergänzungsmitteln kann bei unkontrollierter, medizinisch nicht motivierter Gabe das Risiko für ernsthafte Erkrankungen erhöhen.“

Der Einschätzung, dass ein gesunder Erwachsener eigentlich keine Nahrungsergänzungsmittel (NEM) braucht, stimmte zwar Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski,Ernährungsmediziner an der Universität Hohenheim, prinzipiell zu, gab aber zu bedenken: „Eine unzureichende Versorgung kann bereits vor Auftreten sichtbarer Mangelzeichen Konsequenzen haben. Die Laborwerte sind dabei oft lange unauffällig.“

Gesunde Menschen brauchen keine Nahrungsergänzungsmittel. Prof. Dr. Peter Stehle

Nahrungsergänzung bei eingeschränkter Zufuhr und erhöhtem Bedarf

Biesalski riet zur Nahrungsergänzung bei eingeschränkter Zufuhr in Folge höheren Alters, bei Absorptionsstörungen oder Diäten. Senioren, Kleinkinder und Flüchtlinge sollten etwa zusätzlich Vitamin D zu sich nehmen. „Auch bei Gesunden können Diäten und Alter eine unzureichende Zufuhr hervorrufen und Leistungssport und Schwangerschaft einen erhöhten Bedarf verursachen“, so Biesalski. Primär sich vegetarisch oder vegan ernährende Menschen müssen mit einem potenziellen Mangel an Vitamin A und D, Vitamin B12, Folsäure, Eisen und Zink rechnen.

Auch bei erhöhtem Bedarf – etwa bei Adipositas oder in der Schwangerschaft – kann die Einnahme sinnvoll sein. Biesalski hält die Gabe von Multivitamintabletten in der Schwangerschaft für sinnvoll: Eine kanadische Metaanalyse fand 2015 Hinweise, dass die Einnahme den Anteil von Kindern mit fetalen Wachstumsstörungen im Vergleich zu Placebo oder zur Einnahme von Folsäure und Eisen allein durchaus weiter verringern kann.

Ein Cochrane Review aus 2017 kommt wiederum zu dem Schluss, dass Frauen, die Eisen und Folsäure in der Schwangerschaft eingenommen hatten, seltener Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht bekommen. In einer kürzlich erschienenen Übersichtsarbeit kommen Forscher zu dem Schluss, dass die generelle Gabe von Multivitaminen in der Schwangerschaft empfohlen werden kann, weil dies die Risiken für zu geringes Gewicht (Relatives Risiko: 0,77), Neuralrohrdefekte (RR: 0,67), Harnwegsdefekte (RR: 0,60), kardiovaskuläre Defekte (RR: 0,83) und Missbildungen (RR: 0,68) beim Ungeborenen senke.

Laut Biesalski ist der Bedarf an Vitamin D, B12, Folsäure, Magnesium, Eisen, Kupfer und Zink zudem bei COPD, Krebs und Adipositas erhöht. Patienten mit verkürztem Darm nehmen in geringerem Maße die Vitamine A, D, E, K, Folsäure, Zink, Eisen, Kalzium und Magnesium auf und Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) sind unterversorgt mit sämtlichen Vitaminen, Zink, Selen, Kalzium und Magnesium.

Die Verwendung von (hochdosierten) Nahrungsergänzungsmitteln kann bei unkontrollierter, medizinisch nicht motivierter Gabe das Risiko für ernsthafte Erkrankungen erhöhen. Prof. Dr. Peter Stehle

Zudem wirken sich einige Medikamente negativ auf die Versorgung mit Vitaminen und Spurenelementen aus. Antibiotika etwa beeinträchtigen die Aufnahme von Folsäure und Vitamin K, Antazida die Aufnahme von Vitamin D, K, B2, C, B12, Folsäure, Eisen und Kalzium. Laxantien verringern die Aufnahme von fettlöslichen Vitaminen und Mineralien. Insbesondere bei Senioren sieht Biesalski nicht nur in der Ernährung, sondern auch in Medikamenten und Erkrankungen eine zusätzliche Ursache für eine „kritische Zufuhr an Mikronährstoffen“.

Lieber ausgewogene Ernährung

„Risiken für einen Nährstoffmangel bestehen nur in Ausnahmesituationen“, unterstrich Stehle. Das zeige beispielsweise die Nationale Verzehrsstudie II. Dort wurden bei Männern und Frauen in allen Altersgruppen die Referenzwerte für Vitamin C und Zink erreicht oder überschritten. Bei Magnesium blieben lediglich die 14- bis 18-jährigen Frauen leicht unter dem Referenzwert. Die Folat-Versorgung lag im 13. DGE-Ernährungsbericht 2016 bei mindestens 150 ng/ml, was einer adäquaten Versorgung entspricht.

Ein Nährstoffmangel könne durch geeignete Lebensmitteln behoben bzw. verhindert werden. Eine unausgewogene Ernährung ließe sich auch nicht adäquat über NEM kompensieren. „Beispiel Apfel: In dem stecken Hunderte an Inhaltsstoffen, in Pektin-Kapseln dagegen nur die angegebenen Inhaltsstoffe“, so Stehle.

Er betont, dass es nur wenige „kritische“ Nährstoffe gibt. Folate fallen darunter. Ihr Referenzwert (300 µg Äquivalent/Tag) könne durch eine geeignete Lebensmittelauswahl – z.B. Brokkoli, Spinat, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Milchprodukte, Weintrauben und Nüsse – erreicht werden.

Auch bei Gesunden können Diäten und Alter eine unzureichende Zufuhr hervorrufen und Leistungssport und Schwangerschaft einen erhöhten Bedarf verursachen. Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski

Bei Kleinkindern und Älteren könne die Versorgung mit Vitamin D nicht ausreichend sein, räumte er ein. Hier komme eine Supplementation zur Prophylaxe infrage. Dafür soll eine auf einem Schätzwert beruhende Menge von 20 µg/d eingenommen werden, bis eine Serumkonzentration von 50 nmol/l erreicht ist.

Risiken von Nahrungsergänzungsmitteln

Die Einnahme von NEM ist keineswegs immer unbedenklich. Stehle betonte: „Die Sicherheit von hoch dosierten NEM ist nicht gewährleistet.“ Über einen Zeitraum von 4 Jahren zeigte die Gabe von Beta-Carotin (30 mg/d) und Vitamin A (7,5 mg/d Retinol-Äquivalent) nicht nur keinen Nutzen, sie erhöhte im Vergleich zu Placebo das Risiko für Lungenkrebs: 376 vs 311 Fälle (RR: 1,46; 95%-Konfidenzintervall: 1,07–2,00) in einem Risikokollektiv.

Auch die Vitamin-E-Gabe (400 IU/d) im Vergleich zu Placebo brachte keinen positiven Effekt, sondern erhöht offenbar das Risiko für Herzversagen (641 vs 578; RR: 1,13; p = 0,03). Eine Einschätzung, die auch die Autoren eines Cochrane Reviews aus 2012 teilen. Ihr Fazit: „Die Gabe von Beta-Carotin und Vitamin E zur Prävention bei gesunden Menschen scheint die Sterblichkeit zu erhöhen und das scheint auch bei höheren Vitamin-A-Dosen der Fall zu sein.“ Die Cochrane-Forscher fanden auch keine Evidenz für die Vorteile einer Gabe von Antioxidantien zur Primär-oder Sekundärprävention.

Die Gabe von Beta-Carotin und Vitamin E zur Prävention bei gesunden Menschen scheint die Sterblichkeit zu erhöhen. Autoren eines Cochrane-Reviews 2012

So spricht wohl nichts gegen einen gezielten NEM-Einsatz in Risikogruppen. Doch den bevölkerungsweiten Einsatz von NEM um Krankheiten vorzubeugen, das Wohlbefinden zu steigern und unausgewogene Diäten auszugleichen, hält Stehle für sinnlos und schließt: „Die gängige Werbeaussage: ‚Ein aktiver, mitten im Leben stehender Mensch braucht eine Extra-Portion Vitamine und Mineralstoffe zur Aufrechterhaltung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit‘ ist schlicht Unsinn.“



REFERENZEN:

1. 123. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 29. April bis 2. Mai 2017, Mannheim

Kommentar

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