Tetraplegie-Experiment: US-Team stellt erstmals durch hirnimplantierte Neuroprothese Hand- und Armfunktion wieder her

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

11. Mai 2017

Dank einer hirnimplantierten Neuroprothese ist ein 53 Jahre alter Mann, der von den Schultern ab gelähmt ist, über funktionelle Elektrostimulation (FES) wieder in der Lage, selbständig zu essen und zu trinken. Von ihrem Proof-of-Concept-Experiment berichten Prof. Dr. Robert Kirsch von der Abteilung Biomedical Engineering an der Case Western Reserve University in Cleveland, USA, und seine Arbeitsgruppe im Lancet [1].

„Unsere Studie ist die erste, die nachweist, dass eine Wiederherstellung der Hand- und Armfunktion bei einem Menschen mit chronischer Rückenmarksverletzung über funktionelle Elektrostimulation möglich ist“, schreibt Dr. A. Bolu Ajiboye, korrespondierender Autor der Studie.

„Einen deutlichen Benefit“ für den Patienten sieht auch Dr. Rüdiger Rupp, der Leiter der Sektion Experimentelle Neurorehabilitation an der Klinik für Paraplegiologie des Universitätsklinikums Heidelberg. Rupp wertet die Arbeit als sehr solide und als Ansatz, bei dem mit „hohem technischem Aufwand ein guter Erfolg erzielt“ worden ist.

Intrakortikale und perkutane Elektroden implantiert

In der BrainGate2-Studie unterzog sich der Mann, der seit 8 Jahren aufgrund eines Unfalls Tetraplegiker ist, einem chirurgischen Eingriff. Zunächst wurden dabei 2 intrakortikale Elektroden-Arrays in das Areal des motorischen Kortex seines Gehirns platziert, das für die Steuerung der Hand zuständig ist. Ein Hirn-Computer-Interface registriert die Signale der elektrischen Aktivität der Nervenzellen im Gehirn und übersetzt sie in Kommandos. An einem virtuellen Arm hatte der Patient geübt, über Gedanken den Arm auszustrecken und mit der Hand nach etwas zu greifen.

 
Die Fähigkeit von Elektroden, Signale von Nervenzellen abzuleiten, nimmt schon nach einem Jahr ab. Dr. Rüdiger Rupp
 

Dann unterzog sich der Patient einer weiteren Operation, in denen er insgesamt 36 perkutane Elektroden in seinen rechten Ober- und Unterarm implantiert bekam, um darüber seine Hand, Ellbogen und Schultermuskulatur zu stimulieren. Die Forscher verdrahteten dann das Hirn-Computer-Interface mit den elektrischen Stimulatoren im Arm des Patienten und wandelten mittels Decoder die Hirnsignale des Patienten in Befehle für die Elektroden im Arm um. Die Elektroden regten die Muskeln zu Kontraktionen an. „Es ist vermutlich eine gute Sache“, sagte der Patient während des Trainings, „dass ich ihn bewegen kann, ohne mich wirklich fest darauf konzentrieren zu müssen. Ich muss nur denken ‚ausstrecken‘ und dann funktioniert es.“

Heidelberger Ansatz setzt auf Oberflächenelektroden

Rupp und seine Kollegen tüfteln ebenfalls daran, Menschen mit Tetraplegie mittels Neuroprothesen die Greiffähigkeit zurück zu geben. Die Heidelberger Forscher setzen dabei aber nicht auf invasive Methoden, sondern auf Elektroden, die auf der Haut aufliegen.

In der Heidelberger Querschnittambulanz werden Patienten mit eingeschränkter oder fehlender Handfunktion mit Neuroprothesen versorgt. Mit diesen Neuroprothesen, die ein wenig an einen Handschuh mit langem Schaft erinnern, können die Nutzer mit einer Gabel essen oder mit einem Stift schreiben. Auch das Greifen nach einem Glas Wasser ist mit einem solchen Stimulationshandschuh möglich. Gesteuert wird er über Schulterbewegungen.

Die Neuroprothese basiert auf einem 2013 von Rupp und seinen Kollegen in Artificial Intelligence Medicine vorgestellten Ansatz. Doch ob nun Oberflächensystem oder invasiver Ansatz: „Beide sind keine konkurrierende Systeme, sondern stellen für Patienten Alternativen dar“, sagt Rupp.

 
Bis zum Einsatz im Alltag ist es leider noch ein sehr langer Weg. Dr. Rüdiger Rupp
 

Höheres Risiko von Implantate – vor allem wegen begrenzter Haltbarkeit

Die einzelnen Teile des Implantats der Arbeitsgruppe um Kirsch funktionierten unterschiedlich gut. „Der Griff der Hand wird gut stimuliert. Beim Schulter-Ellbogengelenk funktioniert das etwas weniger gut“, so Rupp. Das hat damit zu tun, dass die technische Stimulation mittels Elektroden alle Muskelfasern gleichzeitig aktiviert und die Daueranspannung auf Armlänge die Muskulatur schnell ermüden lässt. Kirschs Team hat deshalb für den Schulterbereich auf eine motorbetriebene Armauflage gesetzt.

Auch sind die Greifmuster der Hand vorprogrammiert: „Es ist nicht so, dass der Patient einzelne Finger gezielt bewegen kann, sondern er kann lediglich seine Hand in einem vordefinierten Muster öffnen und schließen. Dafür wird nur ein einziges Steuersignal benötigt“, erklärt Rupp.

Das Öffnen und Schließen lasse sich aber einfacher und risikoloser erreichen als über ein Hirnimplantat. Das Risiko eines Implantats liegt vor allem in seiner begrenzten Haltbarkeit. „Die Fähigkeit von Elektroden, Signale von Nervenzellen abzuleiten, nimmt schon nach einem Jahr ab“, berichtet Rupp.

So konnten Forscher 2012 zeigen, dass nach 5 Jahren von 100 Elektroden, die auf dem 4 mal 4 mm großen Hirnimplantat Array Brain-Gateµ™ eingebaut waren, nur noch 3 störungsfrei funktionierten. „Das Immunsystem reagiert auf und mit den Elektroden und trägt die Elektrodenspitzen ab“, erklärt Rupp. Und was geschieht, wenn die Elektroden komplett ausfallen? Schon der Einbau der Elektroden ins Gehirn ist nicht gerade einfach, der Ausbau aber ist noch um einiges anspruchsvoller und aufwendiger. Nicht unproblematisch sei auch die Verkabelung im Arm des Patienten, denn die Kabel müssen über die Gelenke geführt werden und durch die mechanische Beanspruchung können die Kabelhüllen über die Jahre beschädigt werden oder brechen.

Noch ein langer Weg bis zur Praxistauglichkeit

Den technischen Aufwand, das Risiko des invasiven Eingriffs und die Haltbarkeit des Implantats stellt Rupp in Relation zum erreichten Benefit. „Speziell auf den Patienten im geschilderten Fall bezogen: Die Steuerung eines Roboterarms wäre einfacher gewesen. Entweder ein externer, am Rollstuhl angebrachter Arm oder in Form eines Exoskeletts“, erklärt der Experte.

Als Proof of Concept hält Rupp den Ansatz für ausgesprochen gelungen und interessant, er erinnert aber auch daran, dass der Test unter Laborbedingungen stattfand und viel technischen Supports bedurfte, unter anderem auch, weil die Elektroden jeden Tag neu kalibriert werden müssen. „Bis zum Einsatz im Alltag ist es leider noch ein sehr langer Weg“, sagt Rupp. Alltagstauglichkeit wäre dann gegeben, wenn z.B. Angehörige das System morgens in Betrieb nehmen könnten und das dann – wie ein Roboterarm – den Tag über funktionieren würde.

 
… wir glauben, dass die Neuroprothese gelähmten Menschen Möglichkeit gibt, Arm-und Handfunktionen für den Alltag zurückzuerlangen … Dr. A. Bolu Ajiboye
 

Und selbst wenn ein solches System schon alltagstauglich wäre: Infrage käme es längst nicht für alle Patienten mit Tetraplegie. „Eine Rückenmarkverletzung ist schließlich kein gerader Schnitt, sondern es kommt aufgrund einer starken Kompression zu einem ausgedehnten Defekt. Gehen dabei Nervenzellen zugrunde, die periphere Axone versorgen, dann ist auch keine stimulierte Muskelfunktion mehr möglich. Für solche Patienten käme dann eher ein Exoskelett – also eine Art beweglicher Anzug – infrage“, erklärt Rupp.

„Unsere Forschung ist noch in einem frühen Stadium, doch wir glauben, dass die Neuroprothese gelähmten Menschen Möglichkeit gibt, Arm-und Handfunktionen für den Alltag zurückzuerlangen, was ihnen größere Unabhängigkeit ermöglicht“, schreibt Ajiboye.

Bislang habe das Implantat dem Mann dabei geholfen seine Hand auszustrecken und nach etwas zu greifen. „Wir glauben, dass mit weiterer technischer Entwicklung und Fortschritten bei den Hirn-Computer-Interfaces und der funktionellen Elektrostimulation eine akkuratere Kontrolle von Hand und Arm gelingt, die einen breiteren Aktionsbereich erlaubt. Und das könnte der Beginn davon sein, das Leben von Menschen mit Paralyse umzukrempeln.“



REFERENZEN:

1. Ajiboye AB, et al: Lancet (online) 28. März 2017

Kommentar

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