Mannheim – Das Spektrum allgemeinmedizinischer Erkrankungen von Geflüchteten, die sich kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland in Flüchtlingsambulanzen vorstellen, entspricht im Wesentlichen demjenigen unserer inländischen Bevölkerung. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Auswertung von mehr als 5.300 Behandlungsfällen in entsprechenden Versorgungseinrichtungen der Berliner Charité. PD Dr. Joachim Seybold, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Charité-Universitätsmedizin Berlin, stellte diese Auswertung bei einer Pressekonferenz im Rahmen des 123. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Mannheim vor [1].
Die Ergebnisse stammen aus Ambulanzen für Flüchtlinge, die von der Charité in verschiedenen, großen Notunterkünften eingerichtet worden sind. Die Auswertung wurde zusammen mit dem Robert Koch-Institut durchgeführt.
Fast zwei Drittel (63%) der in diesen Ambulanzen gestellten Diagnosen bezogen sich auf Infekte:
vor allem der oberen Atemwege (70% aller Infekte) und
des Magen-Darm-Trakts (12%, Gastroenteritis),
gefolgt von den Diagnosen Bronchitis/Pneumonie (7%)
und Hautinfektionen (7%).
Unter den Nicht-Infektionskrankheiten (37% aller Diagnosen) standen
Krankheiten des Verdauungssystems (26% aller Nicht-Infektionskrankheiten) an erster Stelle,
gefolgt von Hauterkrankungen (21%) und
Kreislauferkrankungen (12%).
Erstversorgung, Impfprävention und psychiatrische Versorgung
„Auffällig ist jedoch der hohe Anteil an Migranten und Flüchtlingen, die unter psychischen Störungen leiden“, sagte Seybold. Im Vordergrund der seit September 2015 von dem Berliner Universitätsklinikum etablierten Aktion „Charité hilft“ stehe deshalb nicht nur die Erstversorgung in Flüchtlingseinrichtungen und die Impfprävention, sondern auch eine psychiatrische Versorgung.
Für psychiatrisch erkrankte oder traumatisierte Flüchtlingen betreibt die Charité bereits seit Februar 2016 „eine in dieser Form in Deutschland einzigartige zentrale Clearingstelle“, wie Seybold erklärte: „Dort wollen wir mit drei Ärzten aus der Erwachsenen- und Kinderpsychiatrie möglichst viele Patienten sehen und einschätzen, wie akut jemand behandlungsbedürftig ist und mit welcher Behandlung am besten geholfen werden kann. In den meisten Fällen bahnen wir die Behandlung durch den direkten Kontakt zu einer geeigneten ambulanten Einrichtung in Wohnortnähe.“ Kurzinterventionen bis zu 6 Sitzungen sind auch in der Clearingstelle selbst möglich.
Affektive Störungen am häufigsten
Die Auswertung der psychiatrischen Diagnosen bei den Geflüchteten zeigt Seybold zufolge, dass affektive Störungen – insbesondere Depressionen – am häufigsten waren, es folgten posttraumatische Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen.
Trotz der inzwischen deutlich gesunkenen Zahl von neu ankommenden Flüchtlingen verzeichne die Clearingstelle, die allen Geflüchteten in Berlin offenstehe, stetig steigende Behandlungszahlen, so der Charité-Mediziner: „Die Arzt-Patienten-Gespräche werden zusammen mit speziell dafür geeigneten Dolmetschern geführt, einige unserer Psychiater sprechen aber z.B. auch Arabisch.“
Die ärztliche Arbeitskraft und die Dolmetscherleistungen würden derzeit vom Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten finanziert. Seit der Eröffnung der Einrichtung seien bereits mehr als 3.500 Menschen gesehen worden, derzeit seien es zwischen 16 und 20 pro Tag. „Wir empfinden die Clearingstelle als sehr wirkungsvoll und hoffen, dass sie auch anderswo Schule macht“, sagte Seybold.
Zu wenige Ärzte, die Flüchtlinge betreuen
Mitunter recht schwierig kann jedoch die Weitervermittlung der Patienten in den vertragsärztlichen Bereich oder in Institutsambulanzen sein. „Es gibt wenige Ärzte, die sehr viele Geflüchtete therapieren, und viele Ärzte, die nur sehr wenige dieser Patienten betreuen“, kritisierte Seybold. „Wenn sich dieses Ungleichgewicht nivellieren würde, aber auch mehr qualifizierte Dolmetscher zur Verfügung stünden, wäre vieles einfacher.“
Bürokratische Hürden
In den verschiedenen Bundesländern sehen sich vor allem niedergelassene Ärzte bei der Behandlung von Flüchtlingen auch mit einer Reihe von bürokratischen Hürden konfrontiert. So können Flüchtlinge während des Asylverfahrens keine regulären Mitglieder einer Krankenversicherung werden. Für sie finanzieren und organisieren die jeweiligen Kommunen die medizinische Versorgung. Die gemäß Asylbewerberleistungsgesetz für ärztliche Tätigkeiten geltenden Regelungen – etwa zur Notwendigkeit von Kostenzusagen vor einer Behandlung – werden regional aber zum Teil unterschiedlich umgesetzt.
Einige Bundesländer wie Bremen stellen Asylbewerbern eine Gesundheitskarte aus, die meisten anderen tun dies – bisher – nicht (hier legen die Patienten vom Sozialamt ausgestellte Behandlungsscheine vor). Um die Arbeit der Ärzte und somit eine angemessene medizinische Betreuung zu erleichtern, fordert die DGIM deshalb unter anderem die flächendeckende Einführung einer Versicherungskarte für Flüchtlinge.
REFERENZEN:
1. 123. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 29. April bis 2. Mai 2017, Mannheim
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Die häufigsten Diagnosen bei Flüchtlingen: Infekte, Infekte, aber auch gehäuft psychische Störungen – Berlin als Modell? - Medscape - 11. Mai 2017.
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