Im Jahr 2015 hat jeder zweite US-amerikanische Arzt Gelder der Industrie erhalten. Die Zahlungen summierten sich auf 2,4 Milliarden US-Dollar. Viele Mediziner änderten aufgrund der Einflussnahme ihr Verschreibungsverhalten und verordneten häufiger Originalpräparate, obwohl Generika verfügbar gewesen wären.

Dr. Christiane Fischer
„Dieser Zusammenhang überrascht mich nicht, sondern ist bereits lange Zeit bekannt“, erklärt Dr. Christiane Fischer gegenüber Medscape. Sie ist ärztliche Geschäftsführerin von MEZIS und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ihrer Erfahrung nach werden schätzungsweise 80% aller Fortbildungen in Deutschland von Herstellern gesponsert, und Werbegeschenke kämen hinzu. „Das sind alles kleine Elemente der Korruption, auch in Deutschland“, so Fischer.
USA: Hersteller müssen Zahlungen offenlegen
Kathryn R. Tringale von der University of California, San Diego, und ihre Kollegen haben Daten von 933.295 amerikanischen Ärzten ausgewertet [1]. Basis waren sogenannte Open Payments Reports auf Basis des Physician Payments Sunshine Act. Seit 2010 müssen alle Hersteller von Arzneimitteln bzw. Medizinprodukten Zahlungen an Ärzte oder Krankenhäuser offenlegen, falls Heilberufler über Medicare, Medicaid sowie über das State Children's Health Insurance Program abrechnen – eine wie Fischer sagt „sehr gute Lösung des amerikanischen Gesetzgebers“.
449.864 Ärzte (48%) erhielten Industriegelder, und zwar pro Kopf rund 5.345 Dollar. Die Gesamtsumme von 2,4 Milliarden US-Dollar setzt sich aus allgemeinen, nicht näher klassifizierten Zahlungen (1,8 Milliarden), aus Anteilen und Optionen (544 Millionen) sowie aus Geldern für Forschungsvorhaben (75 Millionen) zusammen. Lediglich 48% der Hausärzte oder Fachärzte für Allgemeinmedizin bekamen Zahlungen, verglichen mit 61% aller Chirurgen. Pro Kopf waren es 6.879 (Chirurgie) versus 2.227 Dollar (Allgemeinmedizin). Ärzte (66%) erhielten häufiger als Ärztinnen (33%) monetäre Vorteile.
Deutschland: Freiwillige Angaben der Industrie
Während US-Firmen zur Meldung von Zahlungen verpflichtet sind, existiert in Deutschland nur die Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie (FSA). Alle 54 FSA-Mitgliedsorganisationen gaben insgesamt 575 Millionen Euro für unterschiedliche Sponsoring-Aktivitäten aus, Stand 2015. Davon gingen 366 Millionen an Ärzte, weitere Angehörige medizinischer Fachkreise oder Organisationen. Mit den Geldern wurde die Durchführung von klinischen Studien und Anwendungsbeobachtungen unterstützt. Weitere 119 Millionen flossen in Form von Vortragshonoraren oder Geldern für Fortbildungen. Und 90 Millionen Euro gingen an medizinische Organisationen wie Fachgesellschaften, um einzelne Projekte zu unterstützen.
Fischer kommentiert dies so: „Möchte ich als Industriesparte verhindern, dass Regelungen wie der Physician Payments Sunshine Act kommen, entschließe ich mich zu freiwilligen Selbstverpflichtungen.“ Dementsprechend ist für sie die FSA nicht nur „völlig sinnlos“, sondern vor allem „eine „Strategie, um Gesetze zu verhindern“. Sie selbst kenne etliche Studien, die Zusammenhänge zwischen Vorteilen für Ärzte und deren Verschreibungsverhalten nachweisen, betont sie.
USA: Weniger Pharmareferenten, weniger Originalpräparate
Bereits im Jahr 2016 brachten Roy H. Perlis vom Massachusetts General Hospital, Boston, und ein Kollege Industriegelder mit höheren Arzneimittelkosten pro Patient in Verbindung. Sie wiesen sogar eine „Dosis-Wirkungs-Beziehung“ nach: Das heißt, je mehr Geld floss, desto stärker war auch der Effekt.
Vor diesem Hintergrund entschlossen sich viele US-Universitätskliniken zu einer freiwilligen, unterschiedlich weitgehenden Selbstverpflichtung. 11 von 19 untersuchten Einrichtungen schränkten Gespräche mit Pharmareferenten ein, verboten Geschenke und entwickelten hausinterne Mechanismen, um ihre Regelungen auch durchzusetzen. Die restlichen 8 Zentren setzten nur Einzelmaßnahmen um.
Dr. Ian Larkin von der University of California, Los Angeles, und seine Kollegen verglichen dann die Verordnungsdaten 10 bis 36 Monate vor der Einführung von Restriktionen mit 12 bis 36 Monaten danach [2]. Sie analysierten insgesamt 16.121.483 Verordnungen. Die Daten kamen von 2.126 Ärzten akademischer Einrichtungen und von 24.593 Ärzten als Kontrollgruppe.
Larkin verzeichnete bei 8 von 11 Zentren mit strenger Handhabung und nur bei einer von 8 Zentren mit teilweiser Umsetzung der Maßnahmen signifikante Veränderungen des Verschreibungsverhaltens. Mediziner verordneten 1,67% weniger Arzneimittel gezielt über Markennamen und 0,84% mehr anhand von allgemeinen Kriterien wie dem Wirkstoff. Die Zahlen beziehen sich auf Marktanteile. Dazu gehörten Lipidsenker, Antihypertensiva, Präparate zur Therapie der gastroösophagealen Refluxkrankheit, Hypnotika, Antidepressiva und Präparate zur ADHS-Therapie. Die Unterschiede erwiesen sich bei 6 von 8 Wirkstoffklassen als statistisch signifikant.
„Im Jahr 2010 haben pharmazeutische Hersteller mehr als 60 Milliarden Dollar Umsatz durch direkte Verordnungen von Medikamenten erwirtschaftet, die wir in unserer Studie untersucht haben“, schreibt Larkin. Generika seien im Schnitt 80 bis 85% günstiger als Markenpräparate. Er fordert, sich von vermeintlich kleinen Zahlen seiner Veröffentlichung nicht täuschen zu lassen: „Veränderungen des Marktanteils um 1% können schnell zu 5% Umsatzveränderung führen, was durchaus relevante ökonomische Auswirkungen hat.“
Deutschland: Verschreibungsverhalten beeinflusst
Der von Larkin beschriebene Trend macht sich in Deutschland ebenfalls bemerkbar. Fischer verweist u.a. auf eine Studie von Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz. Basis waren Online-Befragungen von 1.388 Ärzten. 160 (11,5%) füllten den Fragebogen aus. Von ihnen sahen 84% Pharmareferenten mindestens einmal pro Woche, und 14% sogar täglich. 69% akzeptierten Arzneimittelmuster, 39% nahmen Werbegeschenke an, und 37% besuchten gesponserte Weiterbildungen.
43% der Ärzte glaubten, dass sie gute und ausreichende Informationen von Pharmareferenten erhielten, und 42% gaben an, ihr Verschreibungsverhalten werde gelegentlich oder häufig beeinflusst. Praxen, die häufig Besuch von Vertretern erhielten, fielen durch mehr Verordnungen, aber nicht durch höhere Gesamtkosten auf.
Fischer: „So ist erklärbar, wie auch in Deutschland Wirkstoffe der zweiten Wahl plötzlich vorrangig verordnet werden.“ Als aktuelles Beispiel nennt sie neue orale Antikoagulanzien (NOAK): „Diese Medikamente haben durchaus ihren Anwendungsbereich, allerdings als Second- oder Third-Line-Therapeutika. Durch Werbung geraten sie plötzlich in den First-Line-Bereich“, argumentiert sie. Ähnlich bewertet sie auch die Verordnung bestimmter Kombinationspräparate kritisch: „Simvastatin mit Ezetimib wirkt nicht besser, vielleicht aber auch nicht schlechter als reines Simvastatin, wird aber massiv propagiert und in der Folge häufiger aufgeschrieben.“
REFERENZEN:
1. Tringale KR, et al: JAMA 2017;317:1774-1784
2. Larkin I, et al: JAMA 2017;317:1785-1795
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Auch in Deutschland kein unbekanntes Problem: Pharmafirmen beeinflussen das Verschreibungsverhalten von (US-)Ärzten - Medscape - 9. Mai 2017.
Kommentar