Schmerzhafte diabetische Neuropathie: Review berücksichtigt unpublizierte Therapiestudien – und stellt Ranking auf den Kopf

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

2. Mai 2017

Die medikamentöse  Schmerztherapie bei diabetischer Neuropathie ist oft knifflig – und leider  häufig auch nicht so wirksam, wie von den Patienten gewünscht, die in ihrer  Lebensqualität meist erheblich beeinträchtigt sind. Ein aktueller Review im  Fachblatt Neurology gibt einen  Überblick, welche Wirkungen von den verschiedenen Medikamenten zu erwarten sind  – und kommt dabei zu einem überraschenden Ranking, nach dem das bisher  bevorzugt empfohlene Pregabalin deutlich herabgestuft wird [1].

           

Prof. Dr. Dr. h.c. Dan Ziegler

           

Laut des  Reviews sind eine ganze Reihe von Medikamenten (Duloxetin, Venlafaxin, Pregabalin,  Oxcarbazepin, Trizyklische Antidepressiva, Opioid-Analgetika und  Botulinumtoxin) in der Schmerz senkenden Wirkung effektiver als Placebo. Als „bemerkenswert“  an der Arbeit bezeichnet Prof. Dr. Dr. h.c. Dan Ziegler,  stellvertretender Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des  Deutschen Diabetes Zentrums (DDZ) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  und Leiter der Arbeitsgruppe Neuropathie, aber vor allem, dass sie in gewisser  Weise die „Rangfolge“ unter den Mitteln ändert.

Reporting Bias ändert die „Rangfolge“ unter  den Medikamenten

So empfiehlt  beispielsweise die American Academy of Neurology (AAN) in ihren aktuellen  Leitlinien in erster Linie Pregabalin bei schmerzhafter diabetischer  Neuropathie (Level A, starke Evidenz); Duloxetin wird dagegen nur mit moderater  Evidenz (Level B) empfohlen. Dass sich nun im aktuellen Review die Rangfolge zu  Ungunsten von Pregabalin umkehre, sei vor allem auf die Einbeziehung bislang  unveröffentlichter Untersuchungen zurückzuführen, erläutert Ziegler gegenüber Medscape.

Insgesamt  15 Studien zu dem Antikonvulsivum hatten die Autoren um Dr. Julie M. Waldfogel, The Johns Hopkins Hospital in Baltimore, USA,  ausgewertet, 10 mehr als der letzte ausführliche Review  zum Thema aus dem Jahr 2014. „Von  den 10 neu einbezogenen Studien bescheinigten 7 Pregabalin keine bessere  schmerzlindernde Wirkung als einem Placebo“, erklärt der Düsseldorfer  Experte. Die Daten von 4 dieser 7 „negativen“ Studien seien dabei nie in  Fachzeitschriften veröffentlicht worden.

Dies, so  Ziegler, weise auf ein ausgeprägtes Publikationsbias, also die bevorzugte Veröffentlichung  von „positiven“ Daten, hin.

Auch Reviews und Guidelines müssen  hinterfragt werden

Neben  der Evidenzstärke änderte sich durch die Berücksichtigung der neueren Studien  auch die errechnete Effektivität von Pregabalin. So weist das Mittel im  Vergleich zum vorangegangenen Review nun im Schnitt eine geringere Wirksamkeit  auf (Schmerzreduktion -0,55 [alt] vs -0,34 [neu] standardisierte Mittelwert-Differenz  zu Placebo).

Letztlich  behalte das Antikonvulsivum aber weiterhin seine Berechtigung bei der  Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie, stellt Ziegler  klar. Aber: „Die vorliegende Übersichtsarbeit zeigt eindrücklich, dass auch die  Ergebnisse von Reviews und die Empfehlungen in Guidelines von Ärzten regelmäßig  hinterfragt werden sollten.“

Gabapentin, Valproat und Capsaicin-Cremes  sind nicht effektiver als ein Placebo

Als  Basis der vorliegenden Arbeit diente der im Jahr 2014 veröffentlichte  systematische Review, der bereits 57 randomisierte klinische Studien einbezog.  Die Wissenschaftler um Waldfogel identifizierten weitere 24 publizierte Studien  zum Thema sowie 25 – zum Teil unveröffentlichte – Untersuchungen, die über www.clinicaltrials.gov zugänglich waren. Insgesamt schlossen sie  also 106 klinische Studien ein.

 
Von den 10 neu einbezogenen Studien bescheinigten 7 Pregabalin keine bessere schmerzlindernde Wirkung als einem Placebo. Prof. Dr. Dr. h.c. Dan Ziegler
 

Das  Ergebnis: Viele der untersuchten Medikamente erwiesen sich gegen Schmerzen bei  diabetischer Neuropathie zumindest effektiver als Placebo. Eine moderate  Evidenzstärke wurde dabei nur Studienergebnissen zu den SSNRI Duloxetin und  Venlafaxin bescheinigt. Den Studien zu den Antikonvulsiva Pregabalin und  Oxzarbazepin sowie den Trizyklischen Antidepressiva (z.B. Imipramin), den  atypischen Opioiden (z.B. Tramadol) und Botulinumtoxin konnte dagegen nur eine  geringe Belastbarkeit attestiert werden.

Gabapentin, das ähnlich wirkt wie  Pregabalin, wird – wie bereits in der 2014 publizierten Meta-Analyse – als „nicht  effektiver als Placebo“ bewertet. Ziegler gibt zu bedenken: „Dies steht im Gegensatz zu den  meisten Leitlinien, die Gabapentin zur Therapie der schmerzhaften diabetischen  Neuropathie empfehlen.“ Doch auch hier könnten diese  Leitlinien-Empfehlungen aufgrund eines Publikationsbias in Richtung positiver  Studien entstanden sein.

Als „nicht wirksam“ stuft der Review zudem das  Antiepileptikum Valproat sowie topisches Capsaicin (0,075%) ein. Ziegler merkt  an, dass sich die Aussagen im Review allerdings nur auf niedrigdosierte Cremes  beziehen. In diesem Jahr veröffentlichte Studien, die kutanen  Schmerzpflastern mit hochdosiertem 8%igem Capsaicin  eine schmerzlindernde Wirkung bescheinigten, hätten keinen Eingang mehr in  die Arbeit gefunden.

Keine Aussage zur Lebensqualität und  Langzeiteffekten

Inwiefern  die im Review untersuchten Schmerzmittel auch die – subjektiv wahrgenommene – Lebensqualität  der Patienten bessern, ließ sich anhand der mangelhaften Datenlage nicht  bestimmen, bedauern Waldfogel und Kollegen. Sie kritisieren zudem: „Die meisten  der Studien dauerten weniger als 3 Monate. Dies obwohl die Medikamente in der  Praxis als Langzeitmedikation eingesetzt werden.“ Aussagen zu eventuellen  ungünstigen Langzeit-Wirkungen seien daher nicht möglich.

 
Dies steht im Gegensatz zu den meisten Leitlinien, die Gabapentin zur Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie empfehlen.   Prof. Dr. Dr. h.c. Dan Ziegler
 

Waldfogel  und ihre Kollegen weisen aber auf das erhebliche Nebenwirkungsrisiko aller medikamentösen  Therapiestrategien hin: Die Drop-out-Raten aufgrund unerwünschter Wirkungen  hätten im Schnitt bei 9% gelegen. Zusätzliche Studien zu den Langzeiteffekten  seien notwendig, um die klinische Entscheidungsfindung, die Wahlmöglichkeit der  Patienten und auch die Praxis-Leitlinien zu verbessern, betonen sie.



REFERENZEN:

1. Waldfogel JM, et al: Neurology (online) 24. März 2017

Kommentar

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