Die medikamentöse Schmerztherapie bei diabetischer Neuropathie ist oft knifflig – und leider häufig auch nicht so wirksam, wie von den Patienten gewünscht, die in ihrer Lebensqualität meist erheblich beeinträchtigt sind. Ein aktueller Review im Fachblatt Neurology gibt einen Überblick, welche Wirkungen von den verschiedenen Medikamenten zu erwarten sind – und kommt dabei zu einem überraschenden Ranking, nach dem das bisher bevorzugt empfohlene Pregabalin deutlich herabgestuft wird [1].

Prof. Dr. Dr. h.c. Dan Ziegler
Laut des Reviews sind eine ganze Reihe von Medikamenten (Duloxetin, Venlafaxin, Pregabalin, Oxcarbazepin, Trizyklische Antidepressiva, Opioid-Analgetika und Botulinumtoxin) in der Schmerz senkenden Wirkung effektiver als Placebo. Als „bemerkenswert“ an der Arbeit bezeichnet Prof. Dr. Dr. h.c. Dan Ziegler, stellvertretender Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des Deutschen Diabetes Zentrums (DDZ) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Leiter der Arbeitsgruppe Neuropathie, aber vor allem, dass sie in gewisser Weise die „Rangfolge“ unter den Mitteln ändert.
Reporting Bias ändert die „Rangfolge“ unter den Medikamenten
So empfiehlt beispielsweise die American Academy of Neurology (AAN) in ihren aktuellen Leitlinien in erster Linie Pregabalin bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie (Level A, starke Evidenz); Duloxetin wird dagegen nur mit moderater Evidenz (Level B) empfohlen. Dass sich nun im aktuellen Review die Rangfolge zu Ungunsten von Pregabalin umkehre, sei vor allem auf die Einbeziehung bislang unveröffentlichter Untersuchungen zurückzuführen, erläutert Ziegler gegenüber Medscape.
Insgesamt 15 Studien zu dem Antikonvulsivum hatten die Autoren um Dr. Julie M. Waldfogel, The Johns Hopkins Hospital in Baltimore, USA, ausgewertet, 10 mehr als der letzte ausführliche Review zum Thema aus dem Jahr 2014. „Von den 10 neu einbezogenen Studien bescheinigten 7 Pregabalin keine bessere schmerzlindernde Wirkung als einem Placebo“, erklärt der Düsseldorfer Experte. Die Daten von 4 dieser 7 „negativen“ Studien seien dabei nie in Fachzeitschriften veröffentlicht worden.
Dies, so Ziegler, weise auf ein ausgeprägtes Publikationsbias, also die bevorzugte Veröffentlichung von „positiven“ Daten, hin.
Auch Reviews und Guidelines müssen hinterfragt werden
Neben der Evidenzstärke änderte sich durch die Berücksichtigung der neueren Studien auch die errechnete Effektivität von Pregabalin. So weist das Mittel im Vergleich zum vorangegangenen Review nun im Schnitt eine geringere Wirksamkeit auf (Schmerzreduktion -0,55 [alt] vs -0,34 [neu] standardisierte Mittelwert-Differenz zu Placebo).
Letztlich behalte das Antikonvulsivum aber weiterhin seine Berechtigung bei der Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie, stellt Ziegler klar. Aber: „Die vorliegende Übersichtsarbeit zeigt eindrücklich, dass auch die Ergebnisse von Reviews und die Empfehlungen in Guidelines von Ärzten regelmäßig hinterfragt werden sollten.“
Gabapentin, Valproat und Capsaicin-Cremes sind nicht effektiver als ein Placebo
Als Basis der vorliegenden Arbeit diente der im Jahr 2014 veröffentlichte systematische Review, der bereits 57 randomisierte klinische Studien einbezog. Die Wissenschaftler um Waldfogel identifizierten weitere 24 publizierte Studien zum Thema sowie 25 – zum Teil unveröffentlichte – Untersuchungen, die über www.clinicaltrials.gov zugänglich waren. Insgesamt schlossen sie also 106 klinische Studien ein.
Das Ergebnis: Viele der untersuchten Medikamente erwiesen sich gegen Schmerzen bei diabetischer Neuropathie zumindest effektiver als Placebo. Eine moderate Evidenzstärke wurde dabei nur Studienergebnissen zu den SSNRI Duloxetin und Venlafaxin bescheinigt. Den Studien zu den Antikonvulsiva Pregabalin und Oxzarbazepin sowie den Trizyklischen Antidepressiva (z.B. Imipramin), den atypischen Opioiden (z.B. Tramadol) und Botulinumtoxin konnte dagegen nur eine geringe Belastbarkeit attestiert werden.
Gabapentin, das ähnlich wirkt wie Pregabalin, wird – wie bereits in der 2014 publizierten Meta-Analyse – als „nicht effektiver als Placebo“ bewertet. Ziegler gibt zu bedenken: „Dies steht im Gegensatz zu den meisten Leitlinien, die Gabapentin zur Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie empfehlen.“ Doch auch hier könnten diese Leitlinien-Empfehlungen aufgrund eines Publikationsbias in Richtung positiver Studien entstanden sein.
Als „nicht wirksam“ stuft der Review zudem das Antiepileptikum Valproat sowie topisches Capsaicin (0,075%) ein. Ziegler merkt an, dass sich die Aussagen im Review allerdings nur auf niedrigdosierte Cremes beziehen. In diesem Jahr veröffentlichte Studien, die kutanen Schmerzpflastern mit hochdosiertem 8%igem Capsaicin eine schmerzlindernde Wirkung bescheinigten, hätten keinen Eingang mehr in die Arbeit gefunden.
Keine Aussage zur Lebensqualität und Langzeiteffekten
Inwiefern die im Review untersuchten Schmerzmittel auch die – subjektiv wahrgenommene – Lebensqualität der Patienten bessern, ließ sich anhand der mangelhaften Datenlage nicht bestimmen, bedauern Waldfogel und Kollegen. Sie kritisieren zudem: „Die meisten der Studien dauerten weniger als 3 Monate. Dies obwohl die Medikamente in der Praxis als Langzeitmedikation eingesetzt werden.“ Aussagen zu eventuellen ungünstigen Langzeit-Wirkungen seien daher nicht möglich.
Waldfogel und ihre Kollegen weisen aber auf das erhebliche Nebenwirkungsrisiko aller medikamentösen Therapiestrategien hin: Die Drop-out-Raten aufgrund unerwünschter Wirkungen hätten im Schnitt bei 9% gelegen. Zusätzliche Studien zu den Langzeiteffekten seien notwendig, um die klinische Entscheidungsfindung, die Wahlmöglichkeit der Patienten und auch die Praxis-Leitlinien zu verbessern, betonen sie.
REFERENZEN:
1. Waldfogel JM, et al: Neurology (online) 24. März 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Schmerzhafte diabetische Neuropathie: Review berücksichtigt unpublizierte Therapiestudien – und stellt Ranking auf den Kopf - Medscape - 2. Mai 2017.
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