Bevor Fantasien zu Taten werden: Ambulanz gegen sexuelle Gewalt soll Täterschaft verhindern

Christian Beneker

Interessenkonflikte

25. April 2017

Seit dem 11. April müssen Ärzte, die Opfer sexueller Gewalt behandeln, den Krankenkassen die Täter nicht mehr melden. So will es das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (wie Medscape berichtete ). Bis vor kurzem mussten Ärzte sie melden, damit die Kassen die Täter für die Behandlung bezahlen lassen konnten.

Die Regel führte aber dazu, dass die Opfer ihre Peiniger umso mehr fürchteten, weil deren Namen genannt wurden. Sie zeigten die Tat infolgedessen nicht an oder sprachen nicht über sie. Mit der neuen Regelung bleibt der Name im Sprechzimmer, es sei denn das Opfer willigt in die Meldung ein. So bleibt das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Opfer gewahrt und das Opfer geschützt.

Aber wer holt jetzt die Täter aus der Anonymität? Geht es nach dem Projekt „Prävention und Behandlung dysregulierter Sexualität“ (PBDS) an der Medizinischen Hochschule Hannover (MMH) sollen sich die Männer selbst melden. Die neu eröffnete Initiative richtet sich vor allem präventiv an solche Männer, die z.B. exzessiv Pornografie konsumieren oder sexuelle Gewaltfantasien haben.

„Die Patienten sollen lernen, ihre Sexualität zu regulieren um so sexuelle Übergriffe auf Frauen zu verhindern“, sagt Prof. Dr. Uwe Hartmann, Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Sexualmedizin an der MHH. „Tatprävention ist der beste Opferschutz“, so das Motto der Initiative.

Differenzierte Diagnose nötig

Hartman hat in dieser Hinsicht gute Erfahrungen mit einem Projekt für pädophile Männer gemacht, das seit 2012 an der MHH läuft, wie er berichtet. Mehr als 1.300 Männer mit pädophilen Neigungen haben sich seither bei der MHH gemeldet, um nicht zu Tätern zu werden.

Auf einen vergleichbaren Effekt hofft Hartmann nun auch bei Männern mit sexuellen Gewaltphantasien. „Es war sogar ein Mann selbst, der zur Pädophilie-Sprechstunde kam und erklärte, er habe ein ganz anderes Problem“, berichtet er. „Das Problem von Gewaltphantasien gegen erwachsene Frauen. Leider hatten wir kein Therapie-Angebot für ihn, das hat sich jetzt geändert.“

 
Die Patienten sollen lernen, ihre Sexualität zu regulieren und so sexuelle Übergriffe auf Frauen zu verhindern. Prof. Dr. Uwe Hartmann
 

Zwar gebe es die Diagnose „sadistische Paraphilie“. Aber das Krankheitsbild der Patienten sei deutlich heterogener als bei pädophilen Tätern, erläutert Hartmann. Sehr verschiedene Aspekte können sexualisierte Gewalt auslösen. „So könnten die Patienten einmalig und unter besonderer Zuspitzung einer Situation gewalttätig werden.“ Andere haben selbst sexualisierte Gewalt erfahren und wollen infolgedessen permanent Macht demonstrieren oder haben aus Unterlegenheitsgefühlen Hass auf Frauen entwickelt.

Anders als bei pädophilen Tätern, die schlicht abstinent bleiben müssen, eröffne sich aber den Tätern sexualisierter Gewalt die Möglichkeit, „den gesunden Teil ihrer Sexualität zu stärken und auch zu leben“, wie Hartmann sagt.

Der individuellen Psychotherapie im Rahmen des Projekts gehen ein diagnostisches Interview und die Teilnahme an einer Psychoedukationsgruppe voraus. Die Hilfe ist kostenlos und auf Wunsch anonym. „Sexuelle Übergriffe passieren nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es gibt einen Vorlauf in der Seele und der Sexualität des Täters. Die von uns angebotene Therapie kombiniert psychotherapeutische und sexualmedizinische Ansätze und bietet dabei auch die Möglichkeit einer zusätzlichen medikamentösen Unterstützung“, erklärt Hartmann.

Jede 20. Frau in der EU erleidet eine Vergewaltigung

Das Leiden der Opfer sexueller Gewalt sei enorm: „Die psychiatrischen Kliniken sind voller sexuell traumatisierter Menschen“, erklärt der Hannoveraner Psychologe. Eine europäische Studie aus dem Jahr 2014 belegt: Jede zehnte Frau in Europa hat seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form der sexuellen Gewalt erfahren und jede zwanzigste wurde vergewaltigt. Etwas mehr als jede fünfte Frau hat körperliche und/oder sexuelle Gewalt entweder von dem/der derzeitigen oder früheren Partner(in) erfahren und etwas mehr als jede zehnte Frau hat angegeben, dass sie vor ihrem 15. Lebensjahr eine Form der sexuellen Gewalt durch einen Erwachsenen/eine Erwachsene erfahren hat.

 
Die psychiatrischen Kliniken sind voller sexuell traumatisierter Menschen. Prof. Dr. Uwe Hartmann
 

Dennoch meldeten lediglich höchstens 14% der Frauen der Polizei ihren schwerwiegendsten Vorfall von Gewalt, die von dem Partner oder der Partnerin bzw. einer anderen Person ausging.

In Niedersachsen wurden laut MHH im Jahr 2016 genau 954 Vergewaltigungen oder sexuelle Nötigungen angezeigt; in 98% der Fälle waren die Tatverdächtigen Männer. Etwa 2 Drittel der Opfer stammen aus dem Nahfeld der Täter, waren also Partner oder Bekannte. Dabei existiere „ein erhebliches Dunkelfeld: Weniger als 10 Prozent der Frauen in Deutschland wenden sich im Falle sexueller Gewalt an die Polizei und nur 3 bis 4 Prozent der Fälle werden zur Anzeige gebracht“, so die MHH.

Studie soll Ursachen der Gewaltfantasien beleuchten

Um die Hintergründe der Gewaltfantasien besser zu verstehen, können die Patienten der MHH-Ambulanz auch an einer Studie teilnehmen. „Bisherige Untersuchungen weisen z.B. darauf hin, dass Alkohol- und Drogenkonsum oder auch psychiatrische Begleiterkrankungen als Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Übergriffs maßgeblich erhöhen können“, erklärt Prof. Dr. Tillmann Krüger, geschäftsführender Oberarzt in der MHH-Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, der das Projekt gemeinsam mit  Hartmann leitet.

Das Sozialministerium Niedersachsen fördert das Projekt für 3 Jahre mit 450.000 Euro. „Jeder einzelne verhinderte Übergriff ist es wert“, sag Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD).

Kommentar

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