Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) hat 11 neue Medikamente zur Zulassung empfohlen, darunter auch 2 Arzneimittel mit Orphan-Status zur Behandlung seltener neurodegenerativer Erkrankungen bei Kindern: das bei spinaler Muskelatrophie eingesetzte SpinrazaTM (Nusinersen; Biogen) und das zur Behandlung der Neuronalen Zeroidlipofuszinose vom Typ 2 (CLN2; klassische spätinfantile NCL) bestimmte BrineuraTM (Cerliponase alfa; BioMarin Pharmaceutical Inc.) [1].
Nusinersen ist die erste in der EU zugelassene medikamentöse Therapie für spinale Muskelatrophie. Es wird alle 4 Monate über eine Lumbalpunktion in die Rückenmarksflüssigkeit gegeben.
Patienten mit spinaler Muskelatrophie fehlt das Protein Survival Motor Neuron (SMN), welches essentiell für die normale Funktion sowie das Überleben motorischer Neuronen ist. 2 Gene sind für die Herstellung von SMN zuständig – das SMN1-Gen und das SMN2-Gen. Den meisten Patienten fehlt das SMN1-Gen, während sie über das SMN2-Gen verfügen. Nusinersen ist ein Antisense-Oligonukleotid und hilft dem SMN2-Gen auch ohne das SMN1-Gen ausreichende Mengen an funktionsfähigem SMN-Protein herzustellen. Dadurch verbessert sich das Überleben der Motoneuronen.
Die Empfehlung des CHMP basiert auf den Ergebnissen einer fertigen klinischen Studie und einer Reihe von noch laufenden Studien mit Patienten, die sich in verschiedenen Krankheitsstadien befinden.
Spinale Muskelatrophie: Patienten erreichen motorische Meilensteine
Die bereits fertiggestellte klinische Studie umfasste 121 Patienten mit infantiler spinaler Muskelatrophie. Verglichen wurden die Injektionen von Nusinersen in die Rückenmarksflüssigkeit mit einer Scheinbehandlung. Insgesamt 51% der Patienten sprachen auf die Behandlung mit Nusinersen an, verglichen mit keinem der scheinbehandelten Patienten. Volle Kontrolle über den Kopf erreichten 22% der Patienten, 8% der Patienten konnten selbstständig sitzen und 1 Patient (1%) konnte sogar mit Hilfe stehen. In der Kontrollgruppe erreichte keiner der Patienten diese Meilensteine. Das Risiko zu sterben oder dauerhaft beatmet zu werden war bei den mit Nusinersen behandelten Patienten 47% niedriger.
Zusätzliche Daten stammen aus einer noch laufenden Studie mit 126 Patienten mit spätinfantiler SMA. In dieser Studie zeigen die mit Nusinersen behandelten Patienten 15 Monate nach Therapieende noch immer eine Verbesserung ihrer motorischen Fähigkeiten (Verbesserung auf der Hammersmith Functional Motor Scale um 4 Punkte), während diese in der scheinbehandelten Gruppe um 1,9 Punkte abgenommen haben.
In einer weiteren Studie erreichten Säuglinge ohne Symptome, aber mit genetisch diagnostizierter SMA, die mit Nusinersen behandelt wurden, motorische Meilensteine wie Sitzen und Stehen ähnlich der normalen kindlichen Entwicklung.
Da bislang noch keine Patienten über längere Zeiträume beobachtet wurden, ist nicht bekannt, wie lange die Effekte des Mittels anhalten und ob es für einige Patienten womöglich ein Heilmittel darstellen könnte. Die häufigsten Nebenwirkungen, die in den klinischen Studien beobachtet wurden, waren Atemwegsinfekte und Verstopfung.
Neuronale Zeroidlipofuszinose: Verlangsamung der Krankheitsprogression
Eine ebenfalls sehr seltene neurodegenerative Erkrankung bei Kindern ist die Neuronale Zeroidlipofuszinose vom Typ 2 (CLN2). Durch einen Mangel an Tripeptidylpeptidase 1 kommt es zu Proteinablagerungen in Körper- und Nervenzellen, die letztlich zur Degeneration von Gehirn und Retina führen. Die meisten Kinder mit CLN2 verlieren bis zum 6. Lebensjahr die Fähigkeit, zu laufen und zu sprechen. Die Lebenserwartung der Patienten liegt bei 8 bis 12 Jahren.
Eine zugelassene medikamentöse Therapie für CLN2 existierte bislang nicht. BrineuraTM (Cerliponase alfa) enthält eine rekombinante Form der Tripeptidylpeptidase 1, die das fehlende Enzym ersetzen und so die Symptome der Erkrankung lindern soll.
Die Sicherheit und Wirksamkeit von Cerliponase alfa wurde in einer einarmigen, Open-Label-Phase-1/2-Studie mit 24 Kindern (3-8 Jahre) untersucht. In einer Extensionsphase wurden die Langzeiteffekte analysiert.
Bei 20 der 23 letztlich mit Cerliponase alfa behandelten Kinder kam es entweder zu einem langsameren als erwarteten Fortschreiten der Krankheit, zu einer Stabilisierung der Krankheitsprogression oder zu irgendeiner Art von Verbesserung der motorischen und sprachlichen Fähigkeiten. Dies wurde als signifikanter therapeutischer Effekt eingestuft. In der Extensionsphase der Studie wurde die Verlangsamung der Krankheitsprogression über mehr als 1 Jahr beobachtet, und auch wenn die Krankheit bereits weit fortgeschritten war. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Fieber, Erbrechen, Hypersensitivität, Krampfanfälle und Atemwegsinfekte.
Der CHMP empfiehlt die Zulassung von Cerliponase alfa unter Ausnahmebedingungen, da es aufgrund der Seltenheit der Erkrankung nicht möglich sei, umfassende Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit unter normalen Anwendungsbedingungen zu liefern. Der Hersteller muss allerdings auch nach Zulassung noch eine laufende Studie zu Ende bringen, die die Sicherheit, Wirksamkeit und Verträglichkeit des Medikamentes weiter erforscht und dabei den Fokus auf Kinder unter 2 Jahre legt. Außerdem wird es ein Patientenregister geben.
Neue Medikamente für akute lymphatische Leukämie und Morbus Wilson
Eine weitere positive Empfehlung gab es beim April-Meeting des Ausschusses für BesponsaTM (Inotuzumab und Ozogamicin; Pfizer). Die Kombination aus einem monoklonalen Antikörper und einem Chemotherapeutikum hat ebenfalls den Orphan-Status und wird bei akuter lymphatischer Leukämie (ALL) eingesetzt.
Das vierte Medikament mit Orphan-Status, das der CHMP zur Zulassung empfohlen hat, ist Cuprior (Trientintetrahydrochlorid; GMP-Orphan SA). Es wird zur Behandlung des Morbus Wilson eingesetzt, einer seltenen erblichen Stoffwechselstörung, bei der die Ausscheidung von überschüssigem Kupfer über die Galle gestört ist. Die Zulassungsempfehlung für Trientintetrahydrochlorid basiert zum Teil auf präklinischer Tests und klinischen Studien, die mit einem Referenzpräparat durchgeführt wurden, und zum Teil auf neuen Daten (Hybrid-Zulassungsantrag).
Weitere Zulassungsempfehlungen und Indikationserweiterungen
Zur Zulassung empfohlen hat der CHMP außerdem KevzaraTM (Sarilumab; Regeneron und Sanofi) zur Behandlung der Rheumatoiden Arthritis und Skilarence (Dimethylfumarat; Almirall) zur Behandlung der Psoriasis.
Auch 3 Biosimilars erhielten beim April-Meeting des CHMP eine positive Empfehlung: ErelziTM (Etanercept; Sandoz) zur Behandlung von Rheumatoider Arthritis, juveniler idiopathischer Arthritis, psoriatischer Arthritis, axialer Spondyloarthritis, Plaque-Psoriasis und pädiatrischer Plaque-Psoriasis sowie Rixathon® und Riximyo® (beide enthalten Rituximab; Sandoz), zur Behandlung von Non-Hodgkin-Lymphomen, Rheumatoider Arthritis, Granulomatose mit Polyangiitis und mikroskopischer Polyangiitis. Rixathon® ist außerdem für die Behandlung der chronischen lymphatischen Leukämie gedacht.
2 generische Medikamente, die der CHMP zur Zulassung empfohlen hat, sind Febuxostat Mylan (Febuxostat; Mylan Pharmaceuticals Inc.) zur Vorbeugung und Behandlung von Hyperurikämie und Ucedane® (Carglumsäure; Lucane Pharma) zur Behandlung von Hyperammonämien, die durch einen Mangel an N-Acetylglutamat-Synthetase ausgelöst werden.
Indikationserweiterungen empfiehlt der Ausschuss für Avastin® (Bevacizumab; Roche; jetzt auch in Kombination mit Carboplatin und Paclitaxel einsetzbar), Celsentri® (Maraviroc; Pfizer; jetzt auch bei Kindern und Jugendlichen ab 2 Jahren und 10 kg einsetzbar) und Opdivo® (Nivolumab; Bristol-Myers Squibb; jetzt auch bei Urothelkarzinom einsetzbar).
Zulassungsantrag für Antiinfektivum zurückgenommen
Der CHMP informiert außerdem, dass der Zulassungsantrag für Solithromycin Triskel EU Services® (Solithromycin; Cempra) zurückgezogen worden ist. Das Arzneimittel sollte bei ambulant erworbenen Pneumonien sowie der Inhalation von Anthrax und inhalativer Tularämie zum Einsatz kommen.
Der Hersteller hat den Zulassungsantrag zurückgezogen, nachdem die US-Arzneimittelbehörde für den Zulassungsantrag in den USA zusätzliche Sicherheitsdaten angefordert hatte. Nach Angaben des CHMP wäre Solithromycin zum aktuellen Zeitpunkt voraussichtlich auch in der EU nicht zugelassen worden, da nicht ausreichend Daten zur Verfügung stünden und Bedenken hinsichtlich einer möglichen Schädigung der Leber sowie des Herstellungsprozesses des Wirkstoffes bestünden.
REFERENZEN:
1. Meeting highlights from the Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP), 18. bis 21. April 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Erstmals Therapieoptionen für tödliche neurodegenerative Erkrankungen bei Kindern – EMA empfiehlt 11 neue Medikamente zur Zulassung - Medscape - 24. Apr 2017.
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