Unterschätzen Ärzte die Gefahr, die für Kinder von Hand-Desinfektionsmitteln ausgeht? Das legt zumindest eine Veröffentlichung der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) nahe [1]. Danach erfolgten in den Jahren 2011 bis 2014 bei Kindern bis 12 Jahre insgesamt 70.669 Meldungen aufgrund von Kontakten mit Hand-Desinfektionsmitteln, die im National Poison Data System erfasst wurden. 65.293 dieser Fälle (92%) gingen auf alkoholhaltige Desinfektionsmittel zurück, berichtet das Autorenteam um Cynthia Santos von der Division of Environmental Hazards and Health Effects, National Center for Environmental Health der CDC in Druid Hills.
Vergleichbare Daten gibt es für Deutschland nicht, sagt Dr. Herbert Desel, Leiter der Fachgruppe Vergiftungs- und Produktdokumentation des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) in Berlin. Beim BfR werden zwar ähnliche Vorfälle erfasst, allerdings nur in einer gemeinsamen Rubrik „Biozide, Materialschutz-, Hygiene- und Desinfektionsmittel“.
In Deutschland war die Zahl der 2011 bis 2013 gemeldeten Vergiftungen mit Beteiligung von Kindern – verglichen mit den USA – auffallend niedrig: Es waren insgesamt nur 80. Wie kommt es zu dieser großen Differenz?
Dazu meint Inke Ruhe, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e. V. in Bonn: „Da können wir auch nur mutmaßen: Wie sind die Verwendungsgewohnheiten mit Desinfektionsmitteln in den USA? Stehen diese vielleicht in jedem Haushalt in der Küche, im Bad und sind in jeder Handtasche zu finden? Dann sind es Produkte des Alltags, die Kindern sehr geläufig sind und von denen für die Kinder vermeintlich auch keine Gefahr ausgeht.“
Wenn der 12-Jährige das Desinfektionsmittel trinkt
In den USA nahmen laut Santos und Kollegen offensichtlich viele Kinder die für die Hände gedachten Mittel oral zu sich: 97% der Säuglinge und Kleinkinder, die in die Statistik eingingen, hatten Desinfektionsmittel in den Mund bekommen, ebenso 74% der 6- bis 12-Jährigen. Beim Rest schädigten die Desinfektionsmittel Schleimhäute, Haut oder Augen der Kinder.
Auffällig: 15% der US-amerikanischen Kinder zwischen 6 und 12 Jahren, die alkoholhaltige Desinfektionsmittel zu sich genommen hatten, gaben an, dies vorsätzlich getan zu haben. Von jenen, die nicht-alkoholische Mittel konsumiert hatten, berichteten nur 8% von einer Absicht.
Die häufigsten Symptome einer Vergiftung durch Desinfektionsmittel waren:
Irritationen der Augen (2.577 Fälle),
Erbrechen (1.872),
Irritationen im Mundbereich (782),
Husten (705) und
Bauchschmerzen (323).
Es gab auch lebensbedrohliche Vorfälle: 5 Kinder fielen ins Koma, 3 erlitten Krampfanfälle und jeweils 2 Hypoglykämien, metabolische Azidosen und respiratorische Depressionen. Alle überlebten.
Diese seltenen Effekte waren häufiger bei Kindern mit einer Exposition gegenüber alkoholischen Hand-Desinfektionsmitteln, berichtet Santos. Insgesamt gelte: „Laut unserer Analyse war die Exposition gegenüber alkoholischen Hand-Desinfektionsmitteln, die in den meisten Fällen eingenommen wurden, mit schlechteren Outcomes assoziiert als die gegenüber nicht-alkoholischen.“
Die Autoren raten auf jeden Fall, solche Mittel (vor allem die alkohol-haltigen) außerhalb der Reichweite von Kindern und Heranwachsenden aufzubewahren. Zudem empfehlen sie Kinderärzten, bei Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, respiratorischer Depression und Benommenheit oder bei entsprechenden Laborwerten an eine mögliche Vergiftung mit Desinfektionsmitteln denken und die nächste Gift-Notruf-Zentrale zu kontaktieren.
Nach Ruhes Erfahrung gibt es allerdings keine Hinweise darauf, dass Kinderärzte hierzulande Anzeichen einer Vergiftung durch Desinfektionsmittel übersehen könnten.
Was Kinderärzte tun können
Inwieweit lassen sich die US-Erfahrungen für Deutschland nutzen? Angaben dazu, welche Desinfektionsmittel welche Beschwerden bei Kindern auslösten, liegen für Deutschland nicht vor, sagt Desel. „In vielen Fällen, wahrscheinlich in der Mehrzahl der Fälle, sind Alkohole – Ethanol, n-Propanol, Isopropanol – die chemischen Komponenten, die für die gesundheitlich ungünstigen Wirkungen durch Desinfektionsmittel von größter Bedeutung sind“, sagt er.
„Aber auch Desinfektionsmittel, die keinen Alkohol enthalten, können Vergiftungen verursachen. Untersuchungen von Desinfektionsmittel-Vergiftungen hinsichtlich ihrer Inhaltsstoffe liegen für Deutschland nach Kenntnis des BfR zurzeit nicht vor.“ Künftig werde es allerdings ein nationales Monitoring von Vergiftungen geben, bei dem Fallberichte aller Giftinformationszentren und des BfR zusammengeführt werden.
Für Ruhe zeigt die neue Analyse aus den USA einmal mehr: „Desinfektionsmittel sollten in Haushalten mit Kindern immer außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahrt und nur dann benutzt werden, wenn es wirklich notwendig ist – wenn Familienmitglieder zum Beispiel vor ansteckenden Krankheiten geschützt werden sollen.“ Kinderärzte sollten Eltern über die sinnvolle und sichere Nutzung von Desinfektionsmitteln aufklären, betont sie.
Wichtig sei auch eine größere Umsicht in Kliniken, in denen meistens in jedem Raum Desinfektionsmittel zu finden sind. Hier müsse das Krankenhauspersonal dafür Sorge tragen, dass Desinfektionsmittel stets für Kinder unzugänglich aufbewahrt sind und nur Fachpersonal an diese Mittel herankommt.
REFERENZEN:
1. Santos C, et al: Morb Mortal Wkly Rep. 2017;66(8):223–226
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: In den USA sind Vergiftungen bei Kindern durch Hand-Desinfektionsmittel sehr häufig – und bei uns? - Medscape - 21. Apr 2017.
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