Gefährliche Versorgungsengpässe? – US-Studie zeigt: Wird Noradrenalin knapp, steigt die Todesrate beim septischen Schock

Dr. Jürgen Sartorius

Interessenkonflikte

20. April 2017

Im Jahr 2011 kam es in den USA in 251 Fällen zu Medikamenten-Verknappungen in Krankenhäusern: 73% davon bei sterilen injizierbaren Generika, die häufig bei Sepsis, Krebs oder anderen lebensbedrohlichen Fällen indiziert sind. Eine im Journal of the American Medical Association (JAMA) publizierte Studie kommt nun zum Schluss, dass die Verknappung von Noradrenalin und die damit einhergehenden „Mehr-Verordnungen“ von Phenylephrin und Dopamin mit einer erhöhten Mortalitätsrate bei Patienten mit septischem Schock assoziiert sein könnten [1]. Die Studienautoren konnten eine Risikoerhöhung um 3,7% zeigen.

„Diese Studie lenkt den Blick auf ein wichtiges Medizin-wirtschaftliches Thema: die Abhängigkeit des Medizinbetriebes von einem reibungslosen Angebot mit Pharmaka, um einen Hochleistungsbetrieb aufrecht zu erhalten“, meint dazu Prof. Dr. Gernot Marx, Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care, Universität Aachen.

Lieferengpässe auch in deutschen Klinikapotheken

Eine aktuelle Umfrage in 13 Apotheken – die 59 deutsche Kliniken versorgen – zeigt, wie häufig ungeplante Arzneimittelumstellungen inzwischen auch in Deutschland geworden sind. Die Autoren um Anita Kellermann von der Krankenhausapotheke im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München berichten in Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement, dass 2013 in diesen Apotheken insgesamt 239 Medikamente vorübergehend nicht lieferbar waren. Die Apotheker waren zu 331 Arzneimittelumstellungen gezwungen. Die Lieferengpässe betrafen 69 Pharmafirmen, an der Spitze 2 Generika-Hersteller.

Nicht lieferbar waren 143 Wirkstoffe bzw. Wirkstoffkombinationen. Die häufigsten waren:

  • Aciclovir (4,2% der Arzneimittelumstellungen aufgrund eines Lieferengpasses [AaL])

  • Heparin-Natrium (3,3% der AaL)

  • Acetylcystein (2,7% der AaL)

  • Triamcinolon

  • Salbutamol

  • Cefixim

Die Autoren schlussfolgern: „In den Krankenhausapotheken gehört das Lieferengpass-Management inzwischen zum Alltag.“ Jede Arzneimittelumstellung stelle – aufgrund der Änderung der Stationsroutine – ein mögliches Risiko für die Arzneimitteltherapie-Sicherheit dar.


Lieferengpässe an 26 US-Kliniken untersucht

Die Autoren um Dr. Emily Vail, Anästhesiologin an der Columbia University, New York, führten die retrospektive Studie an 26 US-Kliniken mit insgesamt 27.835 Patienten durch. Diese Kliniken verabreichten normalerweise mindestens 60% ihrer Patienten mit septischem Schock mehr als 2 Tage lang Noradrenalin, erlebten aber im Jahr 2011 in mindestens einem Quartal einen Versorgungsengpass des Wirkstoffes, der im englischen Sprachraum Norepinephrin genannt wird.

Als Engpass definierten die Autoren, wenn in einem Quartal die Anwendungen von Noradrenalin um mindestens 20% unter dem Wert zu Beginn der Dokumentation lagen. Die Beobachtungszeit lag bei 5 Jahren zwischen Juli 2008 und Juni 2013. Den einbezogenen 26 Kliniken standen 102 Kliniken gegenüber, in denen es im Jahr 2011 nicht zu solchermaßen definierten Engpässen gekommen war.

In Quartalen der Verknappung von Noradrenalin stieg die Todesfallrate

In Quartalen der Verknappung von Noradrenalin wurde dieser Wirkstoff seltener verwendet: Vorher durchschnittlich bei 77,0% der Patienten, dann bei 55,7%. Gleichzeitig stieg die Verordnung des häufigsten alternativen Vasopressors Phenylephrin von vorher durchschnittlich 36,2% auf 54,4%.

 
Diese Studie lenkt den Blick auf ein wichtiges Medizin-wirtschaftliches Thema: die Abhängigkeit des Medizinbetriebes von einem reibungslosen Angebot mit Pharmaka. Prof. Dr. Gernot Marx
 

In diesen Perioden erhöhte sich die Mortalitätsrate bei den Patienten mit septischem Schock von 35,9% auf 39,6%, was einer absoluten Risikozunahme von 3,7% entspricht. Dazu verglichen die Autoren die Daten von 9.283 Todesfällen bei 25.874 Patienten mit septischem Schock in der normalen Versorgungssituation und 777 Todesfällen bei 1.961 Patienten unter Verknappung von Noradrenalin.

Den möglichen Zusammenhang zwischen dem verringerten Einsatz von Noradrenalin und der erhöhten Mortalität erklären die Autoren in ihrer Diskussion damit, dass die alternativ eingesetzten Vasopressoren, hauptsächlich Phenylephrin und Dopamin, von den relevanten Leitlinien nicht empfohlen, sondern problematischer beim Einsatz bei septischem Schock angesehen werden. Eine andere Erklärungsmöglichkeit sei, dass der Einsatz alternativer Vasopressoren durch mangelnde Routine des Krankenhauspersonals möglicherweise weniger erfolgreich verläuft. 

Der Zusammenhang ist möglich, aber reichen die Daten zum Beweis?

Kann die Studie nachweisen oder darauf hinweisen, dass ein Mangel an Noradrenalin zu einer schlechteren Behandlung einer Sepsis bzw. eines septischen Schocks führt oder dem Phenylephrin überlegen ist? „Der Datenpool, aus dem heraus die Diagnose septischer Schock generiert wurde, und die wenigen klinischen Informationen, die hinterlegt sind, lassen solche Schlüsse nicht valide zu“, bewertet Marx die Ergebnisse. „Der Ersatz des kurz wirksamen Noradrenalins durch ein Präparat mit anderer Wirkungskinetik kann natürlich per se schon zu einer Verschlechterung der Patientensicherheit in der lebensbedrohlichen Situation eines septischen Schocks führen. Eine Kausalität aus dieser Studie abzuleiten, halte ich jedoch für verfehlt.“

In einem Editorial in derselben Ausgabe von JAMA äußern Dr. Julie M. Donohue und Dr. Derek C. Angus, Department of Health Policy and Management University of Pittsburgh, USA, ebenfalls Vorbehalte aufgrund der Retrospektivität der Studie [2]. Sie betonen aber die Wichtigkeit des Themas. Solche Verknappungen beträfen hauptsächlich Medikamente mit geringen Profitmargen, die aufwändige Produktionsmethoden und hohe Lagerungskosten benötigten.

Die Autoren beklagen, dass in den USA zurzeit zahlreiche intravenöse Applikationen von Antibiotika, inotropen Wirkstoffen und Vasopressoren sowie Chemotherapeutika, aber auch Kalzium- und Bikarbonatlösungen, Muskelrelaxantien, Fentanyl und Morphine in nicht ausreichender Menge verfügbar seien.

Verschiedene Ursachen führen in den USA zu vielen Engpässen an Medikamenten

Donohue und Angus nennen mögliche Ursachen für solche Engpässe: So werden diese Wirkstoffe häufig nur von wenigen Firmen in nur einzelnen, oft veralteten Produktionsanlagen hergestellt werden, da die Produktion hochspeziell und finanzaufwändig ist. Falls es dann zu Ausfällen kommt, sei eine Verknappung vorprogrammiert. So sei es in den USA bei der Herstellung von injizierbarer Norepinephrinlösung in den Jahren 2010 und 2011 geschehen.

 
Eine Kausalität aus dieser Studie abzuleiten, halte ich jedoch für verfehlt. Prof. Dr. Gernot Marx
 

Auch in Deutschland treten immer wieder Lieferengpässe bei Antibiotika und anderen lebenswichtigen Arzneimitteln wie Krebs- und Notfall-Therapeutika auf und dauern teils Monate an. So gab es vor kurzem einen Lieferengpass für die potente antibiotische Wirkstoffkombination Piperacillin plus Tazobactam, die auch gegen gram-negative Krankenhauskeime wirksam ist (wie Medscape berichtete). Der Grund war eine Explosion in einer Produktionsstätte in China, in der ein großer Teil des weltweit verfügbaren Wirkstoffs verarbeitet wird.

Frühwarnsystem vorgeschlagen

Donohue und Angus schlagen ein funktionierendes Frühwarnsystem bei drohenden Verknappungen für die USA vor. Weiterhin fordern sie wesentlich beschleunigte Reaktionen der Leitlinien-verfassenden Instanzen, um Ärzten zu ermöglichen, auf alternative, aber leitlinienkonform Medikationen umzusteigen. Dadurch könnten Krankenhäuser schneller auf eine Mangelsituation reagieren und einen oft verwendeten Wirkstoff rasch und kompetent durch einen anderen ersetzen.

Als weitere Maßnahmen schlagen sie vor, eine staatliche Zertifizierung für die Produktionsstätten einzuführen und die Vorratshaltung zu erweitern – und eine freiere Lizensierung, um weitere Mitbewerber zur Produktion dieser Wirkstoffe zuzulassen. Allerdings erfordere dies, die Befugnisse der FDA zu erweitern und in bestehende Rechte pharmazeutischer Unternehmen einzugreifen.

„Dass möglicherweise die Unterversorgung US-Krankenhäuser mit einem Standardmedikament mit einer Erhöhung der Krankenhaussterblichkeit in Verbindung stehen könnte, unterstreicht nachdrücklich die gesellschaftliche Relevanz des Themas ‚Versorgungssicherheit‘ im Medizinbetrieb“, resümiert Marx.



REFERENZEN:

1. Vail E, et al: JAMA (online) 21. März 2017

2. Donohue JM, et al: JAMA (online) 21. März 2017

Kommentar

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