Patienten-Sicherheits-Gipfel: Die neue Fehler-Kultur in der Medizin – mit Checklisten und Fehlerbeobachtung durch Patienten

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

19. April 2017

Bonn – Früher waren Fehler in der Medizin ein Tabuthema, über das nicht gesprochen wurde. Heute wird im Gegenteil der offene Austausch darüber als wesentliche Voraussetzung gesehen, um ärztliche Irrtümer zu vermeiden. Auf dem 2. Internationalen „Patient Safety Summit“ in Bonn, diskutierten mehr als 300 Vertreter aus Politik, Medizin und Wissenschaft aus 40 Ländern, wie sich die Patientensicherheit verbessern lässt [1]. Gastgeber war das Bundesgesundheitsministerium.

Schwerpunkt war das Thema „Mehr Sicherheit in Diagnostik und Behandlung – Checklisten und andere Tools“. Tatsächlich hat sich hier in der Praxis bereits viel getan: Eine Online-Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) unter 3.000 Ärzten in chirurgischen Abteilungen deutscher Kliniken hat ergeben, dass dort 95,5% inzwischen mit Checklisten arbeiten. Dies berichtete Prof. Dr. Matthias Rothmund, ehemaliger Direktor der Chirurgischen Klinik an der Universität in Marburg.

Checklisten fördern Patientensicherheit

Solche Checklisten tragen dazu bei, Fehler zu vermeiden, die normalerweise nicht passieren dürften. Rothmund nannte als Beispiele etwa die Seitenverwechslung bei der OP oder die Verwechselung des Patienten, so dass die falsche Operation an ihm durchgeführt wird. Die Checklisten beinhalten standardisierte Handlungsempfehlungen (Standard Operation Protocols – SOP), nach denen vorgegangen wird – so heißt ein Punkt der Checkliste z.B. ganz einfach: Der Patient bestätigt seine Identität.

In Deutschland hat die DGCH eine Safe Surgery Checkliste entwickelt, die etwa folgende Punkte abfragt:

  • Identifikation des Patienten

  • Identifikation von Prozedur und Eingriffsort

  • Abgleich mit Aufnahmen bildgebender Verfahren

  • Antibiotika-Prophylaxe

Angelehnt ist diese an die WHO-Empfehlung, die High 5s OP-Checkliste, zu der ein präoperativer Verifikationsprozess, die Markierung des Schnittes oder Eingriffsortes und ein Team-Time-Out unmittelbar vor Beginn des Eingriffs gehören. Weiterhin zählt hierzu auch die Sicherstellung der richtigen Medikation bei Übergängen im Behandlungsprozess.

Lernen von hochriskanten Bereichen der Wirtschaft

Rothmund betonte, dass die Medizin sich hier auch Expertise einholen kann von Wirtschaftsunternehmen, die im hochriskanten Bereich tätig sind, wie in der Öl- und Gas-Industrie oder auch aus der Luftfahrt. „Ein Flugzeugpilot würde nie ohne Checkliste starten. Diese Denkweise muss auch in der Medizin einziehen“, betont er.

 
Ein Flugzeugpilot würde nie ohne Checkliste starten. Diese Denkweise muss auch in der Medizin einziehen. Prof. Dr. Matthias Rothmund
 

Überholt seien dagegen allgemeine Hinweise an das OP-Team wie „Da müsst ihr aufpassen! Da müsst ihr euch mehr anstrengen!“ „Anstatt die Sicherheit der Konzentration einzelner zu überlassen, ist es besser, Instrumente wie Checklisten und SOPs zu haben, die jeder Punkt für Punkt abarbeiten kann“, so Rothmund.

Nur ein Bruchteil, schätzungsweise 20% der Fehler im Krankenhaus, werden nach seinen Angaben weltweit bekannt. Experten sprechen hier von einem „Ligitation Gap“ – die Diskrepanz zwischen der Anzahl tatsächlich stattgefundener Ereignisse versus die Anzahl z.B. der angestrebten Klagen. Zum einen haben Ärzte kein Interesse, ihre Fehler zu melden, aber zum anderen scheuen sich offensichtlich auch viele Patienten, solche Vorkommnisse vor Gericht zu bringen.

Genaue Daten über ärztliche Fehler gibt es jedoch nicht. Hier sieht Rothmund die Notwendigkeit der Einrichtung eines Registers in Deutschland, in dem die verschiedenen Daten etwa der gemeldeten Fälle an die Versicherungen, der Schlichtungsstellen der Ärztekammern und der Gerichte zusammengeführt werden könnten.

Wichtig sei es aber vor allem, eine Kultur zu schaffen, in der über Fehler geredet werden könne. Als Beispiel nannte er Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen im operativen Fach, in denen darüber gesprochen wird, warum ein Patient einen Schaden erlitten hat oder gestorben ist – und ob dem möglicherweise ein Fehler in der Behandlung zugrunde lag.

Ärzte und Pflegepersonal berichten anonym über Fehler

Dr. Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, sprach von einer „Feedback-Kultur“, die tief im medizinischen System verwurzelt werden müsse. „Die Triebfeder für Patientensicherheit ist Kultur und nicht Technologie, Zahlen oder Daten“, hob er in seiner Präsentation hervor.

Auch Instrumente wie das Netzwerk CIRS – Critical Incidence Reporting System – könnten dazu beitragen, Gefahrenquellen zu identifizieren, zu analysieren und zu besprechen. Hier können anonyme Meldungen von Ärzten oder Pflegepersonal via Internet über kritische Ereignisse, Beinahe-Schäden und Fehler eingegeben werden. Bedeutsam ist allerdings auch, dass z.B. die Klinikleitungen dann auch auf die gemeldeten Gefahrenstellen entsprechend reagieren. Denn eine ausbleibende Reaktion demotiviere das Personal und führe dazu, dass dieses zurückhaltender werde mit solchen CIRS-Meldungen, merkte Rothmund an.

 
Die Triebfeder für Patientensicherheit ist Kultur und nicht Technologie, Zahlen oder Daten. Dr. Günther Jonitz
 

Träger des Projekts CIRS sind übrigens das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin, das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V., die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Deutsche Pflegerat.

Wenig erforscht: Diagnostische Fehler im ambulanten Bereich

Diagnostische Fehler waren Schwerpunkt der Präsentation des Präsidenten der US National Academy of Medicine und Kardiologen Prof. Dr. Victor Dzau. Seine Institution hatte im Jahr 2000 die weltweite Debatte um ärztliche Fehler und Patientensicherheit mit der Publikation „To err is human“ (Irren ist menschlich) ausgelöst. Damals ging man davon aus, dass in den USA rund 98.000 Menschen pro Jahr aufgrund medizinischer Fehler in den Krankenhäusern sterben.

Kommentar

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